eJournals unsere jugend 71/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art61d
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Dialog als Kompass einer Weiterentwicklung des SGB VIII

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Stefan Mölleney
Während in Berlin das BMFSFJ einen DIALOG-Prozess zur Reform des SGB VIII moderiert, der sich im Wesentlichen im Rahmen des Weiterentwicklungsversuchs aus der letzten Legislaturperiode bewegt, setzt dieser Beitrag am Begriff des Dialogs an und beschreibt aus der Sicht der Praxis Anforderungen an eine Reform des SGB VIII.
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374 unsere jugend, 71. Jg., S. 374 - 381 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art61d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Stefan Mölleney Jg. 1963; Dipl.-Theol., M. A., Leiter des Amtes für Jugend, Familie und Senioren der Stadt Fulda, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Jugendamtsleitungen im Hessischen Städtetag Dialog als Kompass einer Weiterentwicklung des SGB VIII Während in Berlin das BMFSFJ einen DIALOG-Prozess zur Reform des SGB VIII moderiert, der sich im Wesentlichen im Rahmen des Weiterentwicklungsversuchs aus der letzten Legislaturperiode bewegt, setzt dieser Beitrag am Begriff des Dialogs an und beschreibt aus der Sicht der Praxis Anforderungen an eine Reform des SGB VIII. Einladung zu einem neuen Blick Noch ein Beitrag zur SGB VIII-Reform? Wo man doch angesichts der zahllosen Beiträge im Dialogprozess des BMFSFJ „mitreden - mitgestalten“ den Wald vor lauter Bäumen schon nicht mehr sieht. Und dann noch aus der Perspektive eines kleinen und unscheinbaren Jugendamtes einer „Sonderstatusstadt“ in Hessen mit 70.000 Einwohnerinnen und Einwohnern? Ich selbst schwanke zwischen der Hoffnung, dass am Ende doch noch etwas Gutes herauskommt, und dem Bangen, dass die Engführung und Reduzierung, die dem KJSG (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz)-Entwurf widerfahren ist, im zweiten Anlauf wie ein Korsett wirken, das eine wirkliche Weiterentwicklung in Richtung einer inklusiven und sozialräumlichen Kinder- und Jugendhilfe gar nicht mehr zulässt. Meine Sicht aus einem kleinen Jugendamt heraus erhebt gar nicht erst den Anspruch, „das große Ganze“ im Blick zu haben, aber sie kommt dafür aus der selbst erlebten, selbstkritischen und reflektierten Praxis in allen Handlungsfeldern des SGB VIII, die mir in vielen Einzelfällen und konkreten Anfragen und Konflikten nahekommen und persönliches Nachdenken über Strukturen, Haltungen und „Philosophien“ fordern. Nachdem ich bislang im Dialogprozess mehrfach auf die Vorgaben aus dem KJSG bzw. den Arbeitspapieren des BMFSFJ reagiert habe, fand ich die Aufgabenstellung, „Anforderungen an die SGB-VIII-Reform aus Sicht eines Jugendamtes“ zu formulieren, erst überfordernd, dann aber befreiend und als Einladung, die Themen neu zu sortieren und unter einer neuen Perspektive zu betrachten. Dabei habe ich mich vom Begriff „Dialog-Prozess“ inspirieren lassen. Der Dialog als „Brille“ für die Beschreibung von Anforderungen an das SGB VIII Wenn wir uns die großartigen Grundprinzipien der Kinder- und Jugendhilfe vor Augen führen wie Subjektorientierung, systemischer Ansatz 375 uj 9 | 2019 Dialog als Kompass in SGB-VIII-Reform und Ressourcenorientierung, die gerade in der Begegnung mit den Akteuren der Eingliederungsbzw. Behindertenhilfe um die Inklusion bzw. eine inklusive Jugendhilfe in den vergangenen Jahren noch einmal als wirkliche Schätze des SGB VIII herausgearbeitet wurden, dann steht hinter diesen aus meiner Sicht eine Grundhaltung, ein Prinzip, das ich am besten im Begriff des Dialogs gefasst finde. Hierbei beziehe ich mich auf die für die europäische Kultur bedeutsame Gründerzeit, die griechische Antike, in der Platon seinen Lehrer Sokrates als eigentlichen „Erfinders“ des Dialogs darstellt. Für diesen ist Dialog Geburtshilfe für eigenständiges, selbstverantwortetes Denken und Handeln. Dialog hat für Sokrates nichts mit Beurteilen und Bewerten zu tun, sondern dient dem Verstehen und zielt auf verbindliche und von allen am Dialog Beteiligten mitgetragene Erkenntnisse oder Ergebnisse. Ähnlich betrachtet es die jüdisch-christliche Tradition, die unseren Geist ebenfalls maßgeblich mitgeprägt hat. Im vorigen Jahrhundert hat der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber mit dem „dialogischen Prinzip“ ein Grundmerkmal jüdischen Denkens herausgearbeitet: die schöpferische Dimension von Begegnung und Selbst-Begegnung in der echten und wechselseitigen Hinwendung von ICH und DU. Der Dialog lebt vom echten Interesse an den Perspektiven der beteiligten Personen, sieht diese Blickfelderweiterung, so fremd oder irritierend sie auch sein mag, als Bereicherung der eigenen Sicht und wird so zum kreativen Prozess. Dialog als Haltung im Geiste dieser jüdisch-griechischen Tradition prägt neben den o. g. Grundprinzipien auch unmittelbar die Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe: von der Ko-Konstruktion von Bildungsprozessen in der Kindertagesbetreuung über die Beteiligung in der Kinder- und Jugendförderung bis hin zur partizipativen Hilfeplanung bei Einzelfallhilfen, um nur einzelne Beispiele zu nennen. Die Fachdiskussion der letzten Jahre hat mit dem Begriff Beteiligung zum Glück den Blick noch einmal geschärft, dass es um ein gleichberechtigtes Aushandeln, ein wirkliches Verstehen auf Augenhöhe geht und nicht um Diagnose oder Besserwissen von oben herab. Eher sogar andersherum: Kinder- und Jugendhilfe ist mehr Assistenz, Begleitung oder „Hebamme“ bei der Umsetzung des eigenen Wollens, der eigenen Ziele; sie nimmt Maß am Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Und trotzdem gibt es aus meiner Sicht in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe in vielen Bereichen, vor allem in Strukturen, noch Möglichkeiten und Notwendigkeiten für ein Mehr an Dialog. Daraus ergeben sich Anforderungen an eine Reform des SGB VIII. Vorrang von Dialog vor Verfahren Im Bemühen um die Reduzierung von Komplexität und im Streben nach Sicherheit für die Fachkräfte und vermeintlicher Objektivität im Entscheiden gibt es vielerorts gerade in den Sozialen Diensten eine Zunahme an Formularen, Checklisten und formalisierten Verfahren. Die IT-gestützten Systeme haben dazu ihren eigenen systemimmanenten Beitrag geleistet. Die bisherigen Arbeitspapiere und Diskussionen im Dialogprozess „mitreden - mitgestalten“ greifen diese Tendenz auf und setzen sie fort mit der Zunahme an vorgeschriebenen Verfahren und Dokumentationspflichten. Motiviert sind diese Überlegungen, so scheint es, aus der Reflexion von öffentlich diskutierten hochproblematischen Einzelfällen oder Vorgängen etwa im Kinderschutz, bei der Heimaufsicht oder bei Auslandsmaßnahmen. Mängel oder Fehler in ganz wenigen Einzelfällen sollten aber nicht als Ratgeber für mehr Kontrolle und kleinteilige Regelungen missverstanden werden, sondern als Anlass, über Grundsätzliches in den Dialog zu kommen. 376 uj 9 | 2019 Dialog als Kompass in SGB-VIII-Reform Wenn Verfahren zum Selbstzweck werden, zur Pflicht, die Punkt für Punkt abgearbeitet werden muss und nicht mehr als Seh-Hilfe dient, werden die handelnden Personen in bzw. hinter den Verfahren unsichtbar - sowohl aufseiten der Fachkräfte wie auch aufseiten der Kinder, Jugendlichen und Familien: In Verfahren und Instrumenten steckt einerseits die Gefahr, die Fachkraft zu entpersonalisieren, sie nicht mehr als persönliches Gegenüber erkennbar zu machen. Aus der notwendigen professionellen Nähe wird dann eine professionelle Distanz, die die schöpferische Dimension von Begegnung verliert. Und andererseits können Verfahren und Instrumente Partizipation als Qualität des Dialogs behindern, wenn Familien zum „Objekt“ der Betrachtung werden. Vor diesem Hintergrund sind alle Überlegungen zur gesetzlichen Vorgabe von Verfahren kritisch zu betrachten. Im Sinne eines Gegenimpulses zum aktuellen Pendelausschlag der Sicherheitskonzeption mit ihrer Komplexitätserhöhung und Unübersichtlichkeit plädiere ich für die auch durch das SGB VIII zu stärkende Ermutigung zum Dialog und eine wertschätzende Kultur bei Handeln in Unsicherheit, die oftmals als „Fehlerkultur“ bezeichnet wird. Dialog braucht Verlässlichkeit und Kontinuität Aus der eigenen Erfahrung als Menschen wissen wir, dass echte Begegnung in der Regel nicht von jetzt auf gleich funktioniert, sondern einen mehr oder weniger langen Prozess des Vertrautwerdens voraussetzt, wie es der Fuchs in Saint- Exuperys Buch „Der kleine Prinz“ so unübertroffen beschreibt. Gerade wer mit Kindern und Jugendlichen, aber auch mit belasteten bzw. teilhabebeeinträchtigten und daraus resultierend auch möglicherweise vorsichtig agierenden Familien arbeitet, muss das zur Kenntnis nehmen und sein „System“ darauf ausrichten, dass Beziehungskontinuität eine hohe Priorität hat. Das hat Auswirkungen auf viele Fallkonstellationen z. B. in den Hilfen zur Erziehung: So gehört bei Einzelfallhilfen strukturell und rechtlich eine nach-„betreuende“ Phase immer mitgedacht, um Übergänge in andere Systeme oder in den nicht unterstützten Alltag zu begleiten - gerade beim „Ausschleichen“ aus Hilfen nach § 41 SGB VIII. Und es braucht Ko-Produktionen unterschiedlicher Leistungserbringer - gerade dann, wenn Familien gravierende Einschnitte in ihrem Leben erleben wie die Fremdplatzierung eines Kindes. Oft geht dieser Entscheidung eine ambulante Hilfe voraus, die doch mit der Fremdplatzierung nicht enden darf, sondern fachlich und emotional Eltern in diesem Prozess begleiten muss, je nach Situation auch mit dem Auftrag zur Stärkung der elterlichen Kompetenzen bei der Perspektive einer Rückführung. Und auch für den jungen Menschen ist bei der Fremdplatzierung Beziehungskontinuität zu seinem persönlichen sozialen Netz so wichtig, dass bei der Frage der Ausgestaltung der Fremdplatzierung der spezielle Bedarf vielleicht weniger bedeutsam ist als vielmehr das Erhalten der vorhandenen, tragenden sozialen Bezüge für den jungen Menschen, was dann wohnortnahe Konzepte präferiert. Und es stärkt in der Pflegekinderhilfe den Blick dafür, dass es in der Regel um Kinder und Jugendliche mit zwei Eltern geht und dass Kinder die Beziehung zu beiden auch brauchen und leben wollen. Diesen schwierigen, weil manchmal als Konkurrenz empfundenen Prozess zu moderieren und zu gestalten, ist Auftrag für den Pflegekinderdienst zum einen und den Allgemeinen Sozialen Dienst bzw. einen beauftragten Träger zum anderen. Dass dieser Dialog der beiden Eltern gelingt, braucht aber auch Rahmenbedingungen, die nicht im SGB VIII, sondern an anderer Stelle zu regeln sind, nämlich familiengerichtliche Verfahren, die von Richterinnen und Richtern mit Fähigkeiten und Kenntnissen in den Bereichen 377 uj 9 | 2019 Dialog als Kompass in SGB-VIII-Reform Familiendynamiken und Entwicklungs- und Bindungspsychologie geführt werden, in denen fachkompetente und passend ausgewählte Gutachterinnen und Gutachter mitwirken und die dem Zeiterleben von Kindern entsprechend beschleunigt bearbeitet werden. Eine SGB-VIII-Reform darf dieses Thema nicht ausklammern oder als unzuständig zur Seite legen. Auch bei den sogenannten „Systemsprengern“ stellt sich die Frage nach Beziehungskontinuität, die oft gerade von diesen jungen Menschen bis an die Grenze oder eben darüber hinaus ausgetestet wird, im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, dass es niemand mit ihnen aushält. Vermeintliche „Systemsprenger“ fordern geradezu das Gegenteil, nämlich die System-Verbindung, Krisenpläne zwischen Leistungserbringern, Jugendämtern gegebenenfalls mit Einbindung der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung. Wer Beziehungskontinuität will, muss über das eigene System hinausdenken. Ein letztes Beispiel, auch wenn es auf den ersten Blick nicht zu passen scheint: Auslandsmaßnahmen. Die sehr niedrigen Fallzahlen bundesweit belegen, dass sehr verantwortlich mit dieser Hilfeart umgegangen wird. Die Unterarbeitsgruppe „Quantifizierung und Statistik“ zur Arbeitsgruppe im Dialogprozess „mitreden - mitgestalten“ hat dargelegt, dass Auslandsmaßnahmen aufgrund der gut abgewogenen Indikation sehr zielführend und wirkmächtig sind - vor allem dann, wenn beziehungskontinuierlich die Vorbereitung, vor allem aber auch die Begleitung der Rückkehr nach der Zeit im Ausland mitgeplant ist. Verschärfende Regelungen im SGB VIII zu Auslandsmaßnahmen, wie sie derzeit im Reformprozess diskutiert werden, erscheinen vor diesem Hintergrund fragwürdig. Entscheidend ist es, jungen Menschen die Unterstützung und Hilfe anzubieten und zu ermöglichen, die passt und die mit der besten Prognose verbunden ist. Sicher ist vieles oder gar alles von den vorgenannten Beispielen auch jetzt schon umsetzbar und rechtlich möglich; aber ich erhoffe von einer SGB-VIII-Reform, dass sie die fachliche Arbeit im Sinne eines dialogischen Anspruchs stärkt. Dialog braucht den Beziehungsraum Der Mensch lebt als soziales Wesen, er braucht das Eingebundensein in einem sozialen Netz. Wir alle sind (hoffentlich) umgeben und getragen von einem ganz persönlichen Beziehungsraum. Das ist keine geografische Kategorie, sondern eher ein virtueller Sozialraum. Besonders Menschen in prekären Lebenssituationen oder mit Teilhabebeeinträchtigung (damit meine ich neben Menschen mit einer „Behinderung“ in gleicher Weise die, die z. B. durch Armut, Migrationshintergrund oder als Alleinerziehende in ihrer Teilhabe beeinträchtigt sind) sind auf die Ressource des Sozialraums angewiesen. Dem hat die Kinder- und Jugendhilfe weithin bereits Rechnung getragen, indem sie in unterschiedlicher Weise den Sozialraum in ihr System einbezieht und die Beziehung zwischen dem einzelnen Hilfesuchenden und dem Staat, repräsentiert durch öffentliche und freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe, um die Ebene des zum Teil strukturierten, zum Teil informellen Sozialraums erweitert hat. Dabei geht es nicht um eine Konkurrenz zwischen Einzelfallhilfe einerseits und Stärkung des Sozialraums oder Einbindung der Regelangebote andererseits, alle drei sind vielmehr ganz eng aufeinander bezogen und können nur in einem abgestimmten Zusammenwirken gedacht und gestaltet werden. Kinder, Jugendliche und Familien müssen sie als flexibel und wechselseitig durchlässig wahrnehmen. Die Kinder- und Jugendhilfe braucht Ressourcen und rechtliche Rahmenbedingungen, um die soziale Infrastruktur im Sozialraum zu stärken, sich niedrigschwellig und präventiv mit dem, was „einfach so da ist“ und in den Alltag von Kindern, Jugendlichen und Familien passt, 378 uj 9 | 2019 Dialog als Kompass in SGB-VIII-Reform zu verbinden, d. h. sich verständlich und selbst-verständlich zu präsentieren. Sie muss die individuellen Beziehungsräume nutzen, ohne sie auszunutzen, sie mittragen und ausbauen. Das afrikanische Sprichwort, dass man ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen, gilt auch und insbesondere für den Kinderschutz als Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, der sich zum einen in der Einzelfallarbeit nach § 8 a SGB VIII realisiert, zum anderen aber auch in „Präventionsketten“ (hoffentlich handelt es sich in der Praxis mehr um ein Geflecht als um eine Kette), Netzwerken wie den Frühen Hilfen, Stadtteilarbeitskreisen und niedrigschwelligen lokalen Lösungen im Zusammenspiel mit unterstützenden Regelangeboten. Um in dieser Weise langfristig in der Kinder- und Jugendhilfe zu arbeiten, ist eine finanzielle Absicherung auch in Zeiten knapper Kassen nötig, und dies wiederum braucht eine rechtliche Absicherung einer Verpflichtung zur infrastrukturellen Stärkung und Weiterentwicklung, die den Auftrag aus § 1 Abs. 3 Ziff. 4 SGB VIII ausbuchstabiert, ermöglicht und konkretisiert über die Bereiche hinaus, die bereits jetzt unbestritten Infrastrukturaufgabe der Kinder- und Jugendhilfe sind: Kindertagesbetreuung und Kinder- und Jugendförderung. Vor Ort geht es nicht um blinden Aktionismus und Ausbau nach dem Gießkannenprinzip, sondern um eine partizipative Jugendhilfeplanung, die neben dem Austausch mit den Akteuren der Einzelfallhilfen mehr noch den Dialog mit Beteiligungsorganen wie Stadtteilarbeitskreisen sucht bzw. deren Entstehung fördert und begleitet und auf diese Art und Weise an der Steuerung von Bedarfen und Angeboten mitwirkt. Da die Jugendhilfeplanung häufig angesichts begrenzter kommunaler Finanzen ein Schattendasein fristet, braucht es auch hier eine gesetzliche Rahmung, die den Anspruch aus § 1 Abs. 3 Ziff. 4 mit dem Auftrag nach § 80 SGB VIII verknüpft. Dialog braucht die Einbeziehung anderer Professionen Schon die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sind vielfach getrennt voneinander organisiert. Auch wenn das für die Aufbauorganisation eines Jugendamtes vielleicht noch überwiegend sinnvoll ist, so muss diese Versäulung durch Matrixstrukturen auf verschiedenen Ebenen der Organisation aufgebrochen werden, um die Kinder- und Jugendhilfe von den Frühen Hilfen, der Kindertagesbetreuung, der Kinder- und Jugendförderung über die Jugendsozialarbeit, die Jugendhilfe im Strafverfahren, die Schulsozialarbeit bis hin zum Allgemeinen Sozialen Dienst als Einheit zu begreifen und verstehbar zu machen. Es darf nicht sein, dass kommunale Kitas von „dem Jugendamt“ reden und dabei ihre Kolleginnen und Kollegen meinen. Die Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe müssen nicht nur um „das große Ganze“ wissen, sie müssen sich auch kennen und in der Begegnung ihre Unterschiedlichkeit als Bereicherung begreifen. Je mehr aber die Fremdheit zwischen den Fachkräften Distanz schafft, umso mehr erleben auch Kinder, Jugendliche und Familien keine Brücken innerhalb des Systems der Kinder- und Jugendhilfe. Der Weg zwischen Kindertagesstätte und „dem Jugendamt“ muss verkürzt werden, es braucht gegebenenfalls „Lotsen“ auf diesem Weg, die gemeinsam mit den Akteuren vor Ort in Kitas, Jugendeinrichtungen, Familienbildungsstätten und auch Schulen eine erste unterstützende Beratung leisten, weil sie Fachleute für den Sozialraum sind, die aber auch bei einem individuelleren Bedarf die Beziehung zum Allgemeinen Sozialen Dienst (oder anderen Beratungsstellen) durch Begleitung herstellen und unterfüttern. Niedrigschwellige, im Sozialraum verortete Beratung braucht eine explizite Verankerung im SGB VIII, auch wenn sie, wie die Praxis zeigt, jetzt schon möglich ist, aber eher die Ausnahme darstellt, weil sie frei- 379 uj 9 | 2019 Dialog als Kompass in SGB-VIII-Reform willig geleistet wird. An dieser Stelle kann das SGB VIII vom BTHG (Bundesteilhabegesetz) lernen, in dem der Auftrag zur Beratung deutlicher beschrieben und akzentuiert ist. Aber auch vom Dialog mit ganz anderen Professionen und Systemen kann und muss die Kinder- und Jugendhilfe profitieren und tut es auch bereits. Aber zu oft scheitert es daran, dass andere Systeme wie die Gesundheitshilfe zwar zum Dialog mit der Kinder- und Jugendhilfe aufgefordert werden, etwa bei Fragen der Hilfeplanung vor allem im Kontext der Eingliederungshilfe, bei psychisch kranken Eltern(teilen) oder im Kinderschutz bei der Gefährdungseinschätzung im Einzelfall, aber dass die erforderliche Finanzierung dieser Kooperation in den anderen Systemen nicht geregelt ist. So wird eine SGB-VIII-Reform auch daran gemessen werden müssen, ob und wie es gelingt, die Finanzierungsverantwortung z. B. der Krankenkassen klarer in den jeweiligen SGBs zu verankern. Aber auch die Kinder- und Jugendhilfe braucht Ressourcen für interdisziplinäre Zusammenarbeit. Ein drittes Beispiel für die notwendige Stärkung eines Dialogs auf Augenhöhe ist das zunehmend wichtigere Thema der Kooperation mit dem System Schule. Beide Systeme sind in den letzten Jahren immer enger aufeinander angewiesen durch die Herausforderungen, die die Entwicklung zu ganztätig arbeitenden Schulen nach sich zieht, die Präsenz von Jugendhilfe in Schule (als Schulsozialarbeit oder Jugendförderung an Schule) neben anderen (sozialpädagogischen) Ressourcen, mit denen Schulen über den Kultusbereich unterstützt werden, oder die steigende Zahl von Teilhabeassistenzen in Schule im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII. Schule fordert die Unterstützung durch die Kinder- und Jugendhilfe ein, und sie gehört an den genannten Stellen auch zum Aufgabenspektrum des SGB VIII. Aber Zusammenarbeit - und auch hier erhoffe ich von einer SGB-VIII-Reform Eckpunkte - kann nicht als Einbahnstraße im Sinne von Fordern und Umsetzen gelingen, sondern braucht den Dialog im Sinne des oben gesagten, braucht die Offenheit der Schule, sich von der Kinder- und Jugendhilfe mit ihren Grundprinzipien anregen und bereichern zu lassen. Und die Kinder- und Jugendhilfe muss sich erkennbar machen in ihrer eigenständigen Rolle im Lebensraum Schule. Multiprofessionelle Zusammenarbeit gelingt nur bei Einhaltung der „Kommunikationsregeln“, die sich im Datenschutz niedergeschlagen haben. Diese Regeln werden nach meiner Überzeugung bei den Überlegungen zur Änderung von § 50 SGB VIII mit der Verpflichtung zur Übermittlung des Hilfeplans in den in § 50 KJSG beschriebenen Fällen deutlich überschritten; der Hilfeplan ist, richtig verstanden, kein überschaubares Gesprächsprotokoll, sondern letztlich der dokumentierte Gesamtprozess einer Hilfegestaltung und -entwicklung in der Koproduktion von öffentlichem Träger, Leistungserbringer und Kind/ Jugendlichem/ Familie. Es beschädigt die für Hilfeplanung notwendige offene, Vertrauen schaffende Arbeitsbeziehung, wenn von Beginn an klargestellt werden muss, dass alle Inhalte gegebenenfalls unmittelbar in ein familiengerichtliches Verfahren einfließen. Dialog schließt alle ein Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und die Einführung des BTHG hat die Kinder- und Jugendhilfe daran erinnert und manche wohl erstmals darauf aufmerksam gemacht, dass das SGB VIII in weiten Teilen bereits inklusiv ist und Leistungen inklusiv auszugestalten sind. Aber je mehr dies bewusst wird und je mehr das BTHG als modernes Leistungsrecht wahrgenommen wird, umso klarer wird auch, dass der Anspruch des BTHG für Kinder und Jugend- 380 uj 9 | 2019 Dialog als Kompass in SGB-VIII-Reform liche auf halber Strecke stehen bleibt, wenn dem nicht mit einer Reform des SGB VIII entsprochen wird. Nach vielen Jahren der Diskussion und dem gescheiterten ersten Anlauf wartet die Praxis endlich auf die „inklusive Lösung“, d. h. die Zusammenfassung aller Leistungen für Kinder und Jugendliche, egal, mit welcher Beeinträchtigung sie auch aufwachsen, in einem einheitlichen Tatbestand im SGB VIII unter den Begriffen Entwicklung, Teilhabe und Erziehung. Familien, die mit der Herausforderung eines Kindes mit Beeinträchtigung umgehen müssen und täglich umgehen, wollen mit ihren Bedarfen - oder besser: Ansprüchen - an einer Stelle ankommen. Sie wünschen sich anstelle eines Zuständigkeitsdschungels Beziehungskontinuität als Voraussetzung für einen Dialog, der ihnen dient. Die Kinder- und Jugendhilfe hat mit der Hilfeplanung und ihren Grundprinzipien gute Grundlagen geschaffen, um junge Menschen und ihre Familien ganzheitlich in den Blick zu nehmen und flexibel und passgenau Teilhabe zu ermöglichen bzw. zu unterstützen. Und sie hat die Zeit genutzt, in den letzten Jahren in den kritischen und fruchtbaren Dialog mit der Behindertenhilfe zu gehen. Das war am Anfang noch spannungsgeladen, dann aber zunehmend spannend und den Blick erweiternd, sodass die Kinder- und Jugendhilfe aus diesem begonnenen und sicher noch nicht abgeschlossenen Dialog ihre Kompetenz für Menschen mit Beeinträchtigungen ausgebaut hat und noch weiter entwickeln kann. Dialog sichert und entwickelt Qualität Die Landschaft der Kinder- und Jugendhilfe ist vielfältig und bunt. Jede Gebietskörperschaft hat aufgrund unterschiedlicher Gegebenheiten, handelnder Akteure und Traditionen ein eigenes Verständnis von der Aufgabenwahrnehmung entwickelt, weil das SGB VIII zum Glück einen Gestaltungs- und nicht einen Verwaltungsanspruch formuliert. Diese Vielfalt ist dann ein besonderer Reichtum der Kinder- und Jugendhilfe, wenn es gelingt, über diese Vielfalt in einen inspirierenden Dialog zu kommen, sich gegenseitig mit gelungener (oder auch misslungener) Praxis zu befruchten: Was der eine entwickelt hat, kann der andere gerne übernehmen und für sich anpassen. Im Gegensatz zu den Regeln in der Schule könnte man sagen: „Abschreiben ist erwünscht! “ Dieser Dialog unter den Jugendämtern braucht Angebote und Orte der Begegnung, sei es unter dem Dach der Kommunalen Spitzenverbände, des Deutschen Vereins oder des Difu (Deutsches Institut für Urbanistik), die beide in den zurückliegenden Jahren hervorragende Plattformen für den Erfahrungsaustausch geboten haben. Solche Formate, die idealerweise auch den Bund als Gesprächspartner einschließen, sind auch für die Zukunft wichtig. Gerade dann, wenn der Bund, wie ich an verschiedenen Stellen meines Beitrags als Erwartung deutlich gemacht habe, in einer SGB-VIII-Reform Orientierungsmarken für die Weiterentwicklung der Praxis vor Ort setzt, ohne zugleich die kommunale Selbstverwaltung zu beschränken. Um es den Kommunen leichter zu machen, sich an diesen Orientierungspunkten auch tatsächlich mit ihren Leistungen auszurichten, sollte ähnlich wie bei den Frühen Hilfen oder der Kindertagesbetreuung der Bund Finanzierungsanreize schaffen für Umsetzungsstrategien in den durch eine SGB-VIII-Reform angestoßenen Handlungsfeldern. Dialog endet nie Wer „echte Gespräche“ (Martin Buber) kennt, weiß, eigentlich enden sie nie. Aber sie führen wie Etappen auf einer langen Reise in Schritten immer wieder zu verbindlichen und von allen am Dialog Beteiligten mitgetragenen Erkenntnissen oder Ergebnissen. Insofern hoffe ich, dass der Dialogprozess „mitreden - mitgestalten“ ein echtes Gespräch ist, das am Ende wi- 381 uj 9 | 2019 Dialog als Kompass in SGB-VIII-Reform der alle aktuelle Sorge zu einer eindrücklichen SGB-VIII-Reform führt, in der die Zusammenführung aller Leistungen für Kinder und Jugendliche im SGB VIII nur der markanteste Leuchtturm ist und in der vieles dazu beiträgt, dass der Dialog die Kinder- und Jugendhilfe auf den verschiedensten Ebenen und Themen prägt und lebendig hält. Stefan Mölleney Magistrat der Stadt Fulda Amt für Jugend, Familie und Senioren Bonifatiusplatz 1 + 3 36037 Fulda Tel. (06 61) 1 02 19 00 E-Mail: stefan.moelleney@fulda.de