unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art63d
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Warum die SGB-VIII-Reform gelingen muss
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Daniel Thomsen
Der Kreis Nordfriesland setzt systemische, sozialraumorientierte und inklusive Lösungen in der Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige seit mehreren Jahren erfolgreich um und greift damit der „SGB-VIII-Reform“ vor.
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389 unsere jugend, 71. Jg., S. 389 - 394 (2019) DOI 10.2378/ uj2019.art63d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Warum die SGB-VIII-Reform gelingen muss Systemische und inklusive Ansätze im Kreis Nordfriesland Der Kreis Nordfriesland setzt systemische, sozialraumorientierte und inklusive Lösungen in der Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige seit mehreren Jahren erfolgreich um und greift damit der „SGB-VIII-Reform“ vor. von Daniel Thomsen Jg. 1978; Diplom- Verwaltungswirt, Fachbereichsleitung Jugend, Familie und Bildung im Kreis Nordfriesland Auf die Haltung kommt es an … Die Einführung der „inklusiven Lösung“ basiert auf den Grundhaltungen für die systemische Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige des Kreises Nordfriesland. Diese wurden gemeinsam zwischen öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt und werden auch mit den freien Trägern der Eingliederungshilfe gemeinsam fortlaufend weiterentwickelt: ➤ Kinder lieben ihre Eltern - Eltern lieben ihre Kinder - Kinder und Eltern gehören zusammen! Das bedeutet, die Rahmenbedingungen dafür zu gestalten: Kooperationen mit Schule eingehen, neue Modelle und neue Formen der Hilfe entwickeln, wie z. B. die stationäre Unterbringung der Eltern statt der Kinder. Entscheidend ist, dass das Kind möglichst in seinem sozialen Umfeld bleiben kann und nicht als Objekt der Verschiebung gesehen wird, wenn sich die Familie in einer Krise befindet. ➤ In Nordfriesland gibt es keine schwierigen Kinder. Es gibt nur Kinder, die in schwierigen Rahmenbedingungen aufwachsen. Die Maxime ist, die Rahmenbedingungen zu verbessern und dass alle Kinder im Sinne der Inklusion am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. ➤ Fokus bilden die Stärken und Ressourcen der Kinder, Jugendlichen und Familien. Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige ist es, diese zu aktivieren und im Sinne der Betroffenen sichtbar und nutzbar zu machen. Nicht jeder Mensch wird alles gleich gut können. Es ist insbesondere eine Frage der Haltung, die Stärken und Ressourcen als solche wahrzunehmen. Das ist insofern eine Herausforderung, als die Sozialgesetzbücher defizitorientiert formuliert wurden. Eine Leistung bzw. eine Hilfe wird nur gewährt, wenn ein Defizit vorliegt. 390 uj 9 | 2019 Inklusive Ansätze im Kreis Nordfriesland ➤ Wille und Ziele der Eltern, Kinder und Jugendlichen sind die Handlungsmaximen; die Hilfeempfänger sind Co-Produzenten ihrer Hilfe und erleben Selbstwirksamkeit. ➤ Eigene Wert- oder Lebensvorstellungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim öffentlichen oder beim freien Träger sind nicht entscheidend für die Hilfegestaltung; es gelten die Vorstellungen und Ziele der Familien. Die Experten für ihre Lebenswelt sind die Familien selbst. Niemand kennt die Kinder besser als die Eltern. Die Fachkräfte sollten zunächst ohne eine eigene Hilfeidee auf die Familien zugehen. ➤ Die Ressourcen des Lebensumfeldes und des Sozialraumes, insbesondere der Regeleinrichtungen, sind vor den Ressourcen der Kinder- und Jugendhilfe oder Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige zu nutzen (Familie, Nachbarn, Kindergärten, Schule, Vereine, Schlüsselpersonen etc.). ➤ Gruppeninteraktionen, wie auch die Bewältigung unseres normalen Alltags, der für Kinder ein hohes Maß an Komplexität aufweist, sind das beste Lernangebot. In einer gemischten Gruppe gehen spielende, interagierende Kinder intuitiv genau an ihre jeweiligen Leistungsgrenzen und werden nicht über- oder unterfordert, wie es in Kursen oft der Fall ist (Lahrtz 2011). ➤ In Nordfriesland gibt es daher keinen einzigen klassischen „Integrativkindergarten“ oder „Kleingruppenkindergarten“ mehr, sondern nur noch Regelkindergärten, in denen alle Kinder willkommen sind und altersgerecht an den Gruppen teilhaben können und dabei systemisch unterstützt werden. ➤ Ziel ist es, eine inklusive nordfriesische Gesellschaft zu erreichen und die eigenen Aktivitäten darauf auszurichten. Dabei werden Familien als ganzheitliche Systeme betrachtet, in denen die Bedarfe, Ressourcen und Potenziale gesetzesübergreifend und systemisch unter Einbeziehung des (Lebens-)Umfeldes im Blick sind. Dies gelingt nur dann, wenn statt Grenzen Kooperationen und Zusammenarbeitsformen im Fokus sind. Wie kann eine systemische und ressourcenorientierte Hilfe stattfinden? Der Kreis Nordfriesland führt seit dem Jahr 2002 in der Kinder- und Jugendhilfe systemische, sozialraumorientierte und budgetierte Hilfen mit fünf definierten Sozialräumen und Sozialraumträgern durch. Grundsätzlich bestimmen der Organisationstheorie folgend die Inhalte und damit die Ziele die Rahmenbedingungen und Prozesse. Kerngedanke ist daher, dass die Prozesse und Rahmenbedingungen so angepasst werden, dass diese die Ziele fördern. Ziel bei Einführung war es, ➤ flexible und maßgeschneiderte Hilfen an den Zielen der Betroffenen durchzuführen und nicht „versäult“ in Maßnahmen anhand der Paragrafen zu steuern, ➤ ressourcen- und lösungsorientiert sowie systemisch unter Einbeziehung der Lebenswelt tätig zu sein und ➤ Steuerungssysteme zu installieren, in denen fachliche Ansätze von einem Finanzsystem unterstützt werden. Die Prozesse werden nach dem Grundsatz „Vom Fall zum Feld“ gestaltet. In der - leider noch utopischen - Idealvorstellung vom Landkreis Nordfriesland gibt es irgendwann keinen einzigen Einzelfall mehr, weil die Lebensbedingungen für Familien so gut sind, dass sie keine Einzelfallunterstützung brauchen. Und im Hintergrund arbeiten Kinder- und Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Schule usw. so, dass die Familien in ihrer Lebenswelt alles erreichen, was sie brauchen und möchten. Für die Gestaltung der Lebenswelt sind alle Partner, die Kitas, die Schulen, die offene Jugendarbeit, aber auch die ehrenamtlichen Ressourcen wie Vereine, Verbände und andere Schlüsselpersonen in der Region, wichtig. Diese haben ihre eigenen Rollen, nehmen ihre Verantwortung wahr und stärken sich gegenseitig. Aber auch die Einzelfälle müssen systemisch bearbeitet werden. Dafür werden gemeinsame 391 uj 9 | 2019 Inklusive Ansätze im Kreis Nordfriesland und rechtskreisübergreifende Einzelfallbesprechungen in Regionalteams durchgeführt, in denen öffentliche und freie Träger sowie bei Bedarf weitere Beteiligte gemeinsam anhand des Willens und der Ziele und Ressourcen der Familien standardisiert Fälle besprechen. Die Bedarfsermittlung dafür erfolgt mittels eines standardisierten und gemeinsam von Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige erarbeiteten Hilfeplanverfahrens, das fortlaufend mit externer Unterstützung weiterentwickelt und evaluiert wird. An einem Beispiel soll verdeutlicht werden, wie systemische Arbeit erfolgen kann: Eine Familie aus Togo ist nach Nordfriesland gezogen. Von der Familie wusste die Kinder- und Jugendhilfe nur wenig. Die Mutter war angeblich psychisch erkrankt. Es gab einen Vater und es gab ein Kind kurz vor dem Schuleintritt, das wahrscheinlich Autist war. Von den Nachbarn erhielt die Kinder- und Jugendhilfe viele Meldungen über Schreie, Lärm, der sich wie Schläge anhört, etc. Der Vater hatte große Probleme mit Behörden. Er wollte keine Behörden im Haus haben, schließlich sei es „sein Sohn“. In einer klassischen Kinder- und Jugendhilfe würde man voraussichtlich einschätzen, dass der Vater nicht kooperativ und die Mutter krank ist, dass eine Kindeswohlgefährdung zumindest vermutet wird, sodass die Kinder- und Jugendhilfe sich Zutritt in das Haus verschafft hätte und bei Weigerung und Eskalation der Situation das Kind aus der Familie herausgenommen hätte. Das Ergebnis wäre voraussichtlich, dass der Vater künftig nicht mehr mit der Kinder- und Jugendhilfe zusammenarbeiten würde. Die Mutter würde dadurch ihre psychische Erkrankung nicht besser überwinden. Das Kind erlebt dadurch ebenfalls keine förderliche Beziehung - im Ergebnis findet daher keine an den Zielen der Familie orientierte Hilfe statt. Die Ideenfindung im Regionalteam lief in diesem Fall folgendermaßen ab (vgl. Abb. 1). In der Ideenfindung werden verschiedene Ebenen der Ressourcen abgearbeitet, zunächst die persönliche Ebene. Der Vater ist sehr stark. Er weiß genau, was er will: Er will keine Behörden in seinem Haus. Die Mutter weiß auch, was sie will: Ihr Sohn soll bei ihr leben und sie will gesund werden. Das Kind möchte ebenfalls in der Familie bleiben. Gleichzeitig liegen aber Gefährdungsmomente vor. Ebene: Familie/ nahestehende Personen Wille KlientIn + ➡ + Ressourcen aus dessen Umfeld Ebene: Sozialraum Wille KlientIn + ➡ + fallübergreifende Ressourcen Ebene: soziale Arbeit Wille KlientIn + ➡ + institutionelle Ressourcen der Jugendhilfe Ebene: Subjekt Wille KlientIn + persönliche Ressourcen Abb. 1: Ressourcenorientierung in den Einzelfallhilfen 392 uj 9 | 2019 Inklusive Ansätze im Kreis Nordfriesland Auf der nächsten Ebene wurden die Ressourcen aus dem Umfeld betrachtet. Man hatte gehört, dass eine Schwester in Togo leben soll, von der Familie akzeptiert wird und eine Ressource für die Familie sein könnte. Das Regionalteam beauftragte einen freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe, die Schwester aus Togo zu finden und einzufliegen, bezahlt aus den Pflichtleistungen der Hilfen zur Erziehung. Die Schwester kam, wurde von der Familie akzeptiert und unterstützte das Familiensystem, eine Unterbringung des Kindes wurde vermieden. Das Kind lebt heute noch in der Familie. Das ist keine klassische Form der Hilfe, die in den Säulen der Hilfen zur Erziehung zu finden ist. Wenn das Kind nur für einen halben Monat in Obhut genommen worden wäre, wäre dies teurer als der Flug der Schwester aus Togo. Das entscheidende Kriterium der Ideenfindung ist die Wirksamkeit der Hilfen und die konsequente Orientierung an den Ressourcen. Solche und ähnliche Unterstützungsmöglichkeiten funktionieren u. a. in Nordfriesland, da die freien Träger systemisch finanziert werden, die Rahmenbedingungen also die Inhalte unterstützen. Nach der Hilfeplanung wird ein Kontrakt mit den Eltern geschlossen. Im Mittelpunkt steht die Elternsicht als Experten, die über Hilfeangebote auf Basis der fachlichen Empfehlungen selbst entscheiden. Daneben unterstützen rechtskreisübergreifende Zusammenarbeitsformen die Inhalte. Im Rahmen der Weiterentwicklung der Sozialraumorientierung hat der Kreis Nordfriesland im Jahr 2007 die Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige unter der Organisationseinheit des Fachbereichs Jugend, Familie und Bildung organisatorisch und systemisch zusammengeführt. Auch die Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige sieht mittlerweile ihren Arbeitsauftrag nicht mehr nur bei „ihren“ Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung, sondern in der Ressourcenstärkung aller. Die Erfahrung hat gezeigt, dass dadurch mehr gesellschaftliche und professionelle Ressourcen zur Verfügung stehen als zuvor. So bilden z. B. freie Träger inzwischen Übungsleiter für Sportvereine aus, die allen Kindern zur Verfügung stehen. Dadurch wird auch deren ehrenamtliches Engagement bei zurückgehenden Kinderzahlen gestärkt, was wiederum mehr Kinder anlockt. Zugleich sind gemeinsame Projekte mit Regeleinrichtungen entstanden, in denen „Pool-Modelle“ ohne die Notwendigkeit der konkreten Benennung von Einzelfällen für die Schulintegration entwickelt worden sind, die gemeinsam mit Finanzen aus den Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige und dem Bereich der Schule umgesetzt werden. Aus Sicht des Kreises Nordfriesland bilden die gesetzlichen Leistungskataloge aus dem SGB VIII und SGB XII bereits jetzt die Möglichkeiten einer systemischen, auf Teilhabe konzentrierten Planung. Die gesetzliche Zusammenführung würde allerdings einige „Hürden“ nehmen und unterschiedliche Rahmenbedingungen (z. B. die „Wesentlichkeit“ einer Behinderung, systemischer Blick über den Einzelfall hinaus etc.) vereinheitlichen und Schnittstellen zusammenführen. Wie erfolgte die organisatorische Umsetzung der„inklusiven Lösung“? Innerhalb des Fachbereichs wurde für jeden der fünf Sozialräume je eine regionale Abteilung gebildet, in der alle Fachpersonen für die jeweiligen Leistungen der Hilfen zur Erziehung und die Eingliederungshilfen für seelisch (§ 35 a SGB VIII), körperlich und geistig behinderte (§ 53 SGB XII) Kinder und Jugendliche zuständig sind und zusammenarbeiten. Jede dieser Abteilungen ist innerhalb des jeweiligen Sozialraums für alle Bereiche unter einer zuständigkeitsübergreifenden Leitung verantwortlich. Zuständigkeitsstreitereien zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige sind damit ausgeschlossen. 393 uj 9 | 2019 Inklusive Ansätze im Kreis Nordfriesland Es gibt Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Hilfeplanung, die sowohl für Hilfen nach dem SGB VIII als auch Hilfen nach dem SGB XII verantwortlich sind, also gesetzesübergreifend zuständig sind. Für die jeweiligen Einzelfallhilfen gibt es derzeit (noch) entsprechende Unterteams (SGB VIII und SGB XII), die jedoch Schnittstellenfälle gemeinsam besprechen und auch bereichsübergreifende Hilfen und gemeinsame Projekte entwickeln und umsetzen. Der Zusammenführungsprozess wurde durch gemeinsame Entwicklungsprozesse, Teamentwicklungen, gemeinsame Fortbildungen und externe Begleitungen befördert, in deren Verlauf sich die Dienste der Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige von den Erfolgen einer systemisch-familienorientierten Arbeitsweise überzeugt haben. Die gemeinsamen Teamentwicklungen und Fortbildungen zur Entwicklung einer gemeinsamen systemischen Haltung, aber auch zum Austausch der unterschiedlichen fachlichen Qualifikationen, finden auch weiterhin statt und werden durch ein fortlaufendes „training on the job“ unterstützt. Seit dem Jahr 2013 wird auch die Eingliederungshilfe für Erwachsene in Form einer Sozialraumorientierung umgesetzt, diesbezüglich bestehen bereits zahlreiche Kooperationen und gemeinsame Projekte bzw. Projektideen und sind Abläufe insbesondere für Übergänge vereinbart. Wie erfolgt die Finanzierung in Nordfriesland? Die Finanzierung aller Einzelfälle, aber auch der fallunspezifischen und fallübergreifenden Hilfen, erfolgt über regionale Sozialraumbudgets, die gemeinsam durch die öffentlichen und freien Träger für die Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige gesteuert werden. Die Budgets werden den Regionalteams verantwortlich zur Verfügung gestellt, innerhalb der Budgets kann „frei gewirtschaftet“ werden. Neben Einzelmaßnahmen können somit (präventive) Projekte installiert oder Regelinstitutionen unterstützt werden. Die Abrechnung erfolgt über ein transparentes Modell in Form von Ist-Kosten-Abrechnungen. Werden die Jahresbudgets nicht ausgeschöpft, werden Überschüsse teilweise den freien Trägern als „Gewinn“ für die Weiterentwicklung des Sozialraumes ausgezahlt. Falls die Budgets nicht ausreichen sollten, können sie über Nachverhandlungen bei zuvor festgelegten Kriterien aufgestockt werden. Nachdem Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige vor Einführung der Budgetierung jährliche Steigerungsraten der Kosten von 10 % bis 15 % ausgewiesen hatten, kam es mit der Einführung der Budgets zu maßgeschneiderten und flexiblen Hilfen im Sinne der Ziele der Familien, zu einer Effektivierung von Schnittstellen und Leistungsabsprachen, die dazu führten, dass sich die Budgetentwicklung deutlich positiver entwickelt hat und in der Kinder- und Jugendhilfe zu einer jährlichen Kostensteigerung von durchschnittlich 1 % und in der Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige zu einer Stagnation der Kostenentwicklung geführt hat. In der Budgetsteuerung ist die Systematik enthalten, dass die freien Träger an der Lösung von Problemen und nicht (z. B. über Fachleistungsstunden oder Tagessätze) an den Problemen Geld verdienen sollen. Wenn daher durch effektive Vorsorge weniger Fälle zu betreuen sind, können die Leistungsanbieter ihre Gelder in weitere präventive Angebote (fallunspezifische Arbeit) fließen lassen, die Stellen werden dadurch nicht gefährdet. Gleichzeitig ermöglicht das System eine sehr frühe, niedrigschwellige und präventive Arbeit. Würde diese nicht erfolgen, müssten die Versäumnisse über die Folgekosten der späteren Kinder- und Jugendhilfe oder anderen Sozialsystemen in höherem Maße aufgefangen werden. Wie erfolgt die Steuerung? Die Steuerung kann nach den vorliegenden Erfahrungen des Kreises Nordfriesland am besten über Arbeitsqualität, Geld und Spaß an der Arbeit erfolgen. Wirklich steuern können insbe- 394 uj 9 | 2019 Inklusive Ansätze im Kreis Nordfriesland sondere die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die „an der Basis“ arbeiten - die Leitungen sind verantwortlich, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dafür Rahmenbedingungen zu geben und zu kontrollieren. Für die verschiedenen Ebenen der Leitungen und Mitarbeitenden wurden Gremien errichtet, die fortlaufend die Weiterentwicklung der sozialräumlichen Arbeit erörtern, evaluieren und mit Vereinbarungen versehen. Die Steuerung über die Finanzen erfolgt über ein differenziertes Fach- und Finanzcontrollingkonzept, das Elemente der Finanzverantwortung der Regionalteams, Standards in den Prozessen und Abrechnungen und leistungsfördernde Elemente enthält. Die Budgetlogik führt dazu, dass präventive Arbeit nachhaltig durch eine Budgeteinhaltung belohnt wird und zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen in den Sozialräumen und Selbsthilfepotenzialen führt. Für die Arbeitsqualität wurden Standards und Prozesse entwickelt und finden fortlaufend - gemeinsame - Teamentwicklungen und Fortbildungen von öffentlichen und freien Trägern sowie externe Begleitungen und Evaluationen statt, die sich insbesondere mit den Haltungen auseinandersetzen. Der Spaß an der Arbeit wird insbesondere über den Gestaltungsspielraum, die Teamarbeit, die gemeinsamen Erfolge und die Rückmeldungen von anderen Jugend- und Sozialämtern rückgemeldet. Fazit Der Kreis Nordfriesland hat in den letzten zehn Jahren erfahren dürfen, dass bereits mit den bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen „inklusive Lösungen“ im Sinne der Familien, Kinder- und Jugendlichen möglich sind und dabei zahlreiche positive systemische Wirkungen entstehen. Bestärkt wird diese Ausrichtung durch die Rückmeldung der Kinder, Jugendlichen und Familien, die ihre Zufriedenheit mit dem Hilfesystem in Nordfriesland insbesondere aufgrund der hohen Partizipation im Verfahren und der Orientierung am eigenen Willen und den eigenen Zielen reflektieren. Auch bestätigt die Wissenschaft, dass die Stärkung der Eltern die größte Wirkungskraft - gerade in der Eingliederungshilfe für unter 18- Jährige - besitzt (Gebhard u. a. 2019; Mahoney 2016; Sohns 2010). Optimierungspotenziale bestehen allerdings noch in einer gemeinsamen und transparenten gesetzlichen Grundlage, die gleiche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen gewährleistet und auch das Entwickeln einer gemeinsamen Haltung befördert. Dabei müssen flexible Finanzierungsformen - wie Sozialraumbudgets - gesetzlich ermöglicht werden, da letztlich die Finanzierungsformen die Inhalte unterstützen sollten. Im Ergebnis muss die Gesetzesreform des SGB VIII im Sinne einer systemischen, sozialraumorientierten und inklusiven Lösung gelingen, will man wirkungsorientierte und erfolgreiche Gestaltungen in der Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe für unter 18-Jährige durchführen. Daniel Thomsen Kreis Nordfriesland, Fachbereich Jugend, Familie und Bildung Marktstraße 6 25813 Husum Tel.: (0 48 41) 6 71 35 E-Mail: daniel.thomsen@nordfriesland.de Literatur Lahrtz, S. (2011): Schluss mit dem Frühförderwahn. Neue Zürcher Zeitung vom 5. 12. 2011 Gebhard, B., Möller-Dreischer, S., Seidel, A., Sohns, A. (Hrsg.) (2019): Frühförderung wirkt - von Anfang an. Kohlhammer, Stuttgart Mahoney, G. (2016): Das Elternmodell in der Frühförderung. In: Steffens, M., Borbe, C., Jendricke, V. (Hrsg.): Familie und psychische Gesundheit - Anspruch und Wirklichkeit. Referenz-Verlag, Frankfurt, 109 - 132 Sohns, A. (2010): Frühförderung. Ein Hilfesystem im Wandel. Kohlhammer, Stuttgart
