eJournals unsere jugend 71/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2019.art65d
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2019
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Filmtipp

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2019
Vera Birtsch
Systemsprenger. Ein Film von Nora Fingscheidt, mit Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, Melanie Straub
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396 uj 9 | 2019 Filmtipp Der Film „Systemsprenger“ war auf der 69. Berlinale im Februar dieses Jahres eine kleine Sensation. Keine Stars unter den Schauspielern, kein Star im Regieteam, kein hippes Thema - einfach ein Spielfilm aus Deutschland mit einem außerdem eher „akademischen“ Titel. Und doch passt der Film in die heutige Zeit: die Bilder versprechen eine reißerische Geschichte um ein gegen die Erwachsenenwelt und ihr Erziehungssystem tobendes Kind. Die neunjährige Benni ist ein Heimkind, offensichtlich intelligent, aber wegen ihrer spontanen aggressiven Ausbrüche oft nicht zu bändigen. Sie hasst es, im Gesicht berührt zu werden, eine Schwäche, die andere Kinder in der Schule oder in der Gruppe auszunutzen verstehen. So kommt es oft zu Streit, bei dem Benni unkontrolliert ausrastet. Sie hat bereits mehrere Heimwechsel hinter sich, nun aber will sie keine Einrichtung in der Region mehr aufnehmen. Die Sozialarbeiterin Frau Bafané, die Benni mag, weiß nicht mehr weiter. Auch eine Rückkehr zu Mutter Bianca scheidet aus, denn die Mutter ist von ihrer Tochter und zwei Söhnen komplett überfordert. So erscheint der Weg in eine geschlossene Einrichtung unausweichlich. Doch dann findet sich der Sozialarbeiter Micha, der vorschlägt, mit Benni drei Wochen im Wald zu verbringen, in der Ruhe der Natur, ohne Fernsehen, ohne Ablenkung, ohne Irritationen. Zunächst gibt es zwar auch im Wald Streitigkeiten, doch dann scheint Benni echte Fortschritte zu machen. Kaum zurück aber in ein gewohntes Setting kommt es wieder zu einem Vorfall und nun ist auch Micha am Ende seiner Kräfte angekommen. Die 36-jährige Regisseurin und Drehbuchautorin Nora Fingscheidt hat mit ihrem ersten Spielfilm einen so eindrucksvollen wie ungewöhnlichen Beitrag zum Wettbewerb in der Berlinale vorgelegt. Dank der herausragenden Leistung seiner 10-jährigen Hauptdarstellerin war er für die Berlinale-Zuschauer so attraktiv, dass die Karten im Nu ausverkauft waren. Und dann erhielt der Film auch noch eine der begehrten Auszeichnungen, den Silbernen Bären für den besten Nachwuchsfilm. Wie die Zuschauer, so würdigen auch die Kritiker vor allem die Hauptdarstellerin. Die 10-jährige Helene Zengel überrascht, wie sie sich immer wieder von einem Moment auf den anderen verwandeln kann: vom zuvorkommenden, klugen Kind in einen „rasenden Vulkan“ und umgekehrt. So knallt sie z. B. von einem Dutzend Bobbycars eins nach dem anderen gegen das Fenster eines Kinder- und Jugendheims, das nur deshalb nicht zerspringt, weil es aus Sicherheitsglas besteht. Ihre blauen Augen können aggressiv-stechend gucken - gleichzeitig erscheint ihr Gesicht mit seinen blonden Haaren zart-durchscheinend und so wirkt sie äußerst verletzlich. Auch Erwachsene bekommen Angst vor ihr, denn mit ihrem Verhalten stellt sie gleichzeitig für sich und andere eine Gefahr dar. Hilflos müssen sie dem Toben zusehen. Und so scheint es trotz des Engagements des Betreuers Micha und einer Sozialarbeiterin des Jugendamts schnell unausweichlich, dass das Hilfesystem, das von Benni an den Rand seiner Möglichkeiten gebracht wird, ihr tatsächlich nicht helfen kann. Wie die Regisseurin Nora Fingscheidt in einem Interview selbst sagt, will sie mit ihrem Film die Zuschauer einerseits über die Gewalt von Benni schockieren, andererseits aber auch für ihren damit geäußerten Hilferuf sensibilisieren (SWR - Kunscht, v. 14. 2. 2019). In einer Filmkritik auf kino-zeit.de wird lobend vermerkt, dass Systemsprenger Ein Film von Nora Fingscheidt, mit Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, Melanie Straub uj 9 | 2019 397 Filmtipp sie zu diesem Zweck gekonnt filmische Mittel einsetzt: „Wenn Benni austickt, dann überlagern sich Bildfetzen, wird die gesamte nicht zu bändigende Energie deutlich, die sie überkommt. Wenn sie gegenüber anderen Kindern gewalttätig wird, auch dann bleibt die Kamera nah an Benni, ohne dass sie in diesem Moment zeigt, was Benni tut. Am Rand der Szene sind die Folgen zu erahnen. Dadurch wird spürbar, wie dieser Kontrollverlust für Benni ist, wie viel ungebändigte Energie in ihr steckt“ schreibt Sonja Hartl. Wenn an dem Film etwas bemängelt wird, dann ist es, dass er bereits zu Beginn die Sprengkraft dieses Mädchens so überzeugend deutlich macht, dass er keine Steigerungsmöglichkeiten mehr findet. Positiv vermerkt wird wiederum, dass offengelassen wird, ob es außer den verzweifelten Versuchen des Betreuers Micha, dem Kind nahe zu kommen und beizustehen, oder der geschlossenen Unterbringung noch andere Möglichkeiten gibt, mit Kindern und Jugendlichen, die sich auf diese Weise extrem verhalten, umzugehen. Einer der Kritiker vermerkt, dass sich das Versagen des Systems hier nicht darin zeige, dass niemand hinsieht, dass sich niemand kümmert. Benni sei schlichtweg ein extremer Fall - für sie gäbe es keine Lösung. Ministerien, Institutionen und auch Politiker sollten sich dieses Problems annehmen. Wie aber ist der Film aus fachlicher Perspektive zu beurteilen? Ist er auch für Pädagoginnen und Pädagogen sehenswert? Und gibt es wirklich für Kinder wie Benni keine Lösung? Hier wäre zunächst anzumerken, dass „Systemsprenger“ wegen des eher populär-reißerisch aufgemachten Themas mehr den allgemeinen Erwartungen eines breiten Kinopublikums und weniger den spezifischen Erwartungen und Erfahrungen eines kleineren Fachpublikums entspricht. Andererseits offenbart er durchaus auch fachlich relevante Inhalte, welche die Gegebenheiten des gegenwärtigen Kinder- und Jugendhilfesystems spiegeln. Sonja Hartl schreibt in ihrer Filmkritik (www.kino-zeit.de): „Das ständige Wechseln von Orten, von Bezugspersonen, von Kindern, die mit ihr dort leben, machen etwas mit Benni. Sie macht sich schon nicht mehr die Mühe, die Namen der ErzieherInnen zu erlernen, sondern brüllt einfach ein ,Erzieher! ‘, wenn sie etwas will.“ Den unbeteiligten Zuschauern wird es damit möglich zu verstehen, warum Benni auch pädagogisch geschultes Personal an Grenzen bringt, und selbst so engagierte Erzieher wie Micha aufgeben. „Sie ist unglaublich anstrengend. Und brutal. Und doch liebenswürdig“, schreibt Hartl. Die Zuschauer spüren, wie hilfsbedürftig und liebenswürdig Benni ist, sie sehen, dass sie keine Zukunft hat, und dies bricht einem das Herz. Auch Erziehungsfachkräfte sind angesichts einer solchen Dramatik vermutlich betroffen. Und so müssen wir uns wieder und wieder fragen, wie denn mit Kindern umzugehen ist, die auch in der Fachwelt als „Systemsprenger“ bezeichnet werden. Einen wertvollen Hinweis gibt z. B. Prof. Menno Baumann, wenn er sagt, dass gesprengte oder gescheiterte Hilfeverläufe als Interaktionsprozess zwischen der Kinder- und Jugendhilfe, den vor Ort arbeitenden Pädagogen und Pädagoginnen und dem jungen Menschen zu betrachten seien, bei denen vor allem darum gerungen werde, wer die Kontrolle über die Situation habe. Einzelne Kinder und Jugendliche hätten aufgrund ihrer Erfahrungen große Probleme damit, einer Situation ausgeliefert zu sein, und würden alles dafür tun, die Kontrolle zurückzuerlangen. Die Frage sei also, wie die Interaktion so gestaltet werden könne, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen möglichst selten das für sie dramatische Erlebnis eines Kontrollverlustes haben. Gleichzeitig aber müssten die Fachkräfte durch ein umfangreiches Maßnahmensetting in der Arbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen gestärkt werden, um Konfrontationen mit extremer Gewalt wirklich gewachsen zu sein (vgl. Birtsch/ Molle 2016, 29f ). Der Film „Systemsprenger“ kann also in der Kinder- und Jugendhilfe genutzt werden, über dieses Thema auch einmal jenseits eines aku- 398 uj 9 | 2019 Filmtipp ten eigenen „Falles“ zu diskutieren und das eigene Handlungsprogramm zu überdenken. Ein Kind, für das es keine Hilfe gibt, darf es doch eigentlich nicht geben: Am 19. September 2019 soll der Film in die Kinos kommen. Dr. Vera Birtsch E-Mail: vbirtsch@t-online.de Quellenangaben Birtsch, V., Molle, J. (2016): Runder Tisch zur Situation der Heimerziehung in Schleswig-Holstein. In: https: / / www.institut-sozialwirtschaft.de/ wp-content/ up loads/ 2016/ 12/ RT_HE_Abschlussbericht.pdf, 21. 6. 2019 Hartl, S. (2019): Wutentbrannt: Eine Filmkritik zum Film „Systemsprenger“. In: https: / / www.kino-zeit.de/ filmkritiken-trailer/ systemsprenger-2019, 7. 6. 2019 DOI 10.2378/ uj2019.art65d