eJournals unsere jugend 72/2

unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Streetworker im Internet

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Jan Dieris-Hirche
Ein problematischer Gebrauch von Computerspielen und des Internets kann Menschen krank machen. Betroffene mit einer Computerspielsucht finden häufig aufgrund von Motivationsproblemen oder Therapeutenmangel nicht in eine adäquate psychotherapeutische Suchtbehandlung. Online-Beratungsprogramme können Betroffene direkt am Ort ihrer Sucht abholen und zur Veränderung motivieren.
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79 unsere jugend, 72. Jg., S. 79 - 82 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art13d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. med. Jan Dieris-Hirche Jg. 1980; Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Oberarzt an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum Streetworker im Internet Der Online-Ambulanz-Service für Menschen mit Internetsucht (OASIS) Ein problematischer Gebrauch von Computerspielen und des Internets kann Menschen krank machen. Betroffene mit einer Computerspielsucht finden häufig aufgrund von Motivationsproblemen oder Therapeutenmangel nicht in eine adäquate psychotherapeutische Suchtbehandlung. Online- Beratungsprogramme können Betroffene direkt am Ort ihrer Sucht abholen und zur Veränderung motivieren. Mit der Freigabe des Internets für kommerzielle und private Nutzung Anfang der 1990er-Jahre wurde eine gewaltige technische und gesellschaftliche Revolution ausgelöst, die bis heute immer wieder die Art der zwischenmenschlichen Kommunikation verändert. Die beeindruckende technische Entwicklung ließ und lässt immer wieder neue und imposante Internetangebote, Online-Spiele und digitale Dienstleistungen entstehen, welche unseren Alltag, unsere Arbeitswelt sowie unsere Freizeit bis heute massiv färben. Soziale Netzwerke verändern die Art der zwischenmenschlichen Interaktion, Computerspiele und virtuelle Realitäten lassen uns eintauchen in andere, fremde und aufregende Welten, die wir sonst nur in der Phantasie hätten bereisen können. Online-Kaufhäuser laden uns jederzeit zum Einkaufen ein und das Smartphone gibt uns ein neues Gefühl der „Sicherheit“ - immer alles dabei, immer erreichbar, niemals alleine. Die Komplexität der digitalen Revolution sowie die individuellen und gesellschaftlichen Veränderungen lassen sich bis heute kaum im Ganzen nachvollziehen. Was ist denn wohl gesellschaftlich ein „sinnvoller“ oder „unproblematischer“ Umgang mit dem Internet, und wo fängt ein problematischer, exzessiver oder auch krankhafter Internetkonsum an? In Deutschland gelten mittlerweile etwa 560.000 Menschen als süchtig vom Internet (Rumpf et al. 2013). Meist geht es dabei um das exzessive, problematische Abtauchen in Online-Computerspielwelten oder in Internetpornografie und Cybersex. Insbesondere scheint die Faszination des Internets für Jugendliche und junge Erwachsene einen starken Reiz zu haben (Bundesdrogenbericht BMG 2017). Oftmals verfangen sich Betroffene auch in ihren sozialen Netzwerken oder sie finden keinen Ausstieg aus ihren Streamingwelten. Wer süchtig nach dem Internet ist, leidet häufig auch unter Depressionen, sozialen Ängsten oder Störungen 80 uj 2 | 2020 Streetworker im Internet der Aufmerksamkeit und Aktivität (González- Bueso et al. 2018). Die aktuell gängige und übergeordnete Nomenklatur für die Internetsüchte lautet Internetbezogene Störungen (Rumpf et al. 2016). Die Geburt einer neuen Verhaltenssucht Im Frühjahr 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach langen Diskussionen die (Online) Gaming Disorder, also die Computerspielsucht, als erste und häufigste Form der Internetsucht unter der Kategorie der substanzungebundenen Abhängigkeiten in die Liste der anerkannten Erkrankungen (ICD-11) aufgenommen (WHO 2018). Im amerikanischen DSM-5 ist die Computerspielsucht bereits seit 2013 als Forschungsdiagnose vertreten (APA 2013). Betroffene verlieren meist völlig die Kontrolle über ihre Internetnutzung bzw. das Spielverhalten, sind permanent gedanklich in ihren virtuellen Welten gefangen und setzen das Internet oder die Onlinespiele ein, um ihren Realitäten zu entfliehen. Zudem führt eine Internetsucht eigentlich immer zu schweren Problemen im sozialen Umfeld, also in der Familie, in der Ausbildung, im Beruf oder im Freundeskreis. Auch vernachlässigen Betroffene oftmals ihre Ernährung, Gesundheit und Körperpflege und verlieren so jeglichen Bezug zu ihrem eigenen Körper. Die Ursachen einer Internetsucht oder Computerspielabhängigkeit sind sehr unterschiedlich. Sowohl individuelle Besonderheiten (z. B. ängstliche Persönlichkeitsakzente, psychische Begleiterkrankungen etc.) als auch soziale Belastungen (z. B. Scheidungen, Mobbing, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Einsamkeit) spielen dabei eine wichtige Rolle. Spielehersteller und Internetgiganten entwickeln zudem immer neue und raffinierte Mechanismen und Anwendungen, um die Konsumenten möglichst langfristig und dauerhaft an ihre virtuellen Welten zu fesseln. Die Computerspieleindustrie bezweifelt bis heute, dass es eine Computerspielsucht gibt (EGDF 2018). Zwar bieten spezialisierte Spezialambulanzen, Kliniken und Suchtberatungsstellen seit vielen Jahren therapeutische Angebote zur Behandlung einer Internetsucht, jedoch findet nur ein geringer Teil der Betroffenen den Weg in die analoge therapeutische Behandlung. Oftmals führen äußere (z. B. Entfernung zur geeigneten Anlaufstelle) und innere (z. B. Scham) Barrieren dazu, dass Erstgespräche nicht wahrgenommen werden. Dann leiden auch Angehörige an der scheinbaren Unveränderbarkeit des exzessiven Medienkonsums ihrer Kinder oder Lebenspartner. Online-Ambulanz-Service OASIS Dass jedoch das Internet auch hilfreich in der Behandlung der Internetsucht sein kann, zeigt der Online-Ambulanz-Service OASIS (www.onlinesucht-ambulanz.de), der unter der Leitung von Dr. med. Jan Dieris-Hirche (Medienambulanz der LWL-Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Bochum, unter enger Mitarbeit von Laura Bottel) sowie von PD Dr. med. Bert te Wildt (Psychosomatische Klinik Kloster Dießen) seit 2016 kostenlos angeboten wird. „Den Sprung ins Leben wagen! “ - so lautet das Motto des einst vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Projektes, im Rahmen dessen erfahrene psychologische Beratende Webcam-basierte Gespräche für Betroffene und Angehörige anbieten. Abb. 1: OASIS Beratungssituation 81 uj 2 | 2020 Streetworker im Internet Bei OASIS geht es darum, Betroffenen ab 18 Jahren einen Weg aufzuzeigen, wie sie aus der Virtualität zurück in die Realität finden und wieder Interesse, Lust und Freude an ihrem Leben finden. OASIS bietet eine unkomplizierte und niedrigschwellige Möglichkeit, mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen, sie zu motivieren, zu beraten und bei Bedarf in eine möglichst wohnortnahe Behandlungseinrichtung zu vermitteln. Zudem bietet OASIS auch Angehörigen von Internetsüchtigen ab 14 Jahren die Möglichkeit einer Beratung. Hierbei geht es oftmals um Hilfe zur Verbesserung der familiären Kommunikation und zur Unterstützung in der Motivationsfindung. Konkret können Interessierte über die Homepage www.onlinesucht-ambulanz.de einen kurzen Selbsttest bezüglich ihrer Internetnutzung ausfüllen. Ist dieser Test auffällig, findet eine ausführliche Untersuchung und Diagnosestellung unter Einsatz von psychologischen Fragebögen und einer Webcam-basierten Online- Sprechstunde mit einem qualifizierten Berater bzw. einer qualifizierten Beraterin statt. In einem zweiten Online-Termin wird explizit die Motivation zur Veränderung und ggf. zur Therapie gestärkt. Außerdem werden die Betroffenen konkret bei der Vermittlung in spezialisierte Hilfsangebote unterstützt und begleitet. Die Teilnahme an OASIS ist völlig kostenlos und unverbindlich. Sollten die Teilnehmerinnen oder Teilnehmer über OASIS an ärztlich-psychotherapeutische Fachambulanzen weitervermittelt werden, übernimmt die gesetzliche Krankenkasse die Kosten für die weitere Behandlungsplanung. Wenn an lokale Suchtberatungsstellen weitervermittelt wird, sind die dortigen Beratungsgespräche in aller Regel auch kostenlos. Seit 2016 werden so wöchentlich Online-Beratungen durchgeführt. Dabei zeigt sich, dass auch Betroffene, z. B. Menschen mit pathologischem Konsum von Online-Pornografie und Cybersex erreicht werden können, die sonst analoge Hilfsangebote aus Scham eher scheuen würden. Auch ist der Anteil an weiblichen Betroffenen etwas höher als in der analogen Sprechstunde der Mediensuchtambulanz (te Wildt 2018). Der Erfolg des Online-Services führt dazu, dass OASIS in den kommenden Jahren noch ausgebaut und weitere onlinebasierte Angebote ergänzt werden. So wird 2020 ein innovatives Webcam-basiertes, 4bis 6-wöchiges onlinebasiertes Motivationsprogramm zur Förderung der Veränderungsmotivation bei Internetsucht (OMPRIS) beginnen. Im Rahmen einer intensivierten Online-Beratung (Webcam-basierte Kleinstgruppen, Einzelgespräche, Sozialberatung) soll damit eine rasche, wohnortunabhängige spezifische therapeutische Hilfe geschaffen werden, um chronische Verläufe zu verhindern und Betroffenen eine schnelle Unterstützung zu bieten. Das Projekt unter der Leitung von Dr. Jan Dieris-Hirche wird über den Innovationsfond des G-BA Deutschland finanziert und findet in Kooperation mit führenden Kliniken im Bereich der Internetsuchtbehandlung statt (G-BA 2019). OASIS als ein Beitrag der Psychotherapie zur Diskussion in der Gesellschaft OASIS versucht eine niederschwellige Antwort zu finden auf das zunehmende Auftreten internetbezogener Süchte in unserer Gesellschaft. Trotz offizieller Anerkennung durch die WHO findet in Forschung, Politik und Wirtschaft nach wie vor eine intensive Diskussion darüber statt, ob das Internet nun „wirklich“ süchtig machen kann oder nicht. Sicherlich sind diese Diskussionen manchmal auch von spezifischen Interessen geleitet. In der realen Alltagswelt jedoch erleben wir persönlich nahezu täglich, wie Pädagogen, Erziehende, Eltern, LehrerInnen, EhepartnerInnen oder Verwandte mit dem Phänomen der exzessiven und problematischen Mediennutzung rangeln und nach Regulierung und Medienpädagogik verlangen. Meines Erachtens darf das Thema Internetsucht nicht alleine in der Medizin/ Psychotherapie thematisiert werden, sondern muss immer wieder breit in Gesellschaft, Pädagogik und Politik 82 uj 2 | 2020 Streetworker im Internet diskutiert werden. Wo muss vielleicht mehr reguliert oder kontrolliert werden, wo könnten dadurch individuelle Freiheiten des Einzelnen verletzt werden? Aufklärungsprojekte und Präventionsmaßnahmen versuchen Kindern und Jugendlichen nahezubringen, welche Chancen und Risiken das Internet mit sich bringt. Nur: Wie sehr sind Konzepte von Medienerziehung in Familie und Gesellschaft überhaupt etabliert und gewünscht? Wer ist eigentlich für die Medienpädagogik verantwortlich? Es braucht eine starke und - ja, auch anstrengende - Diskussion, um die Kluft zwischen den Generationen der „Digital Immigrants“ (geboren in der Welt vor dem Internet) und der „Digital Natives“ (geboren in einer Welt mit Internet) zu überwinden. Und es braucht eine breite gesellschaftliche Orientierung, um die Frage zu beantworten, was bezogen auf Mediennutzung nun eigentlich „anders“, „krank“ oder vielleicht doch nur „neu“ ist. Dr. med. Jan Dieris-Hirche Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum Medienambulanz Internetadressen: www.onlinesucht-ambulanz.de www.psychosomatik.lwl-uk-bochum.de LWL-Universitätsklinikum Bochum der Ruhr-Universität Bochum Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Alexandrinenstr. 1 - 3 44791 Bochum Literatur American Psychiatric Association APA (2013): Diagnostic and Statistical manual of mental disorder. DSM-5. 5. Aufl. American Psychiatric Pub, Washington DC Bundesministerium für Gesundheit (2017): Drogenbeauftragte der Bundesrepublik Deutschland. Drogen und Suchtbericht 2017 der Bundesregierung. In: https: / / www.drogenbeauftragte.de, 7. 2. 2018 Gemeinsamer Bundesausschuss - Innovationsausschuss (2019): OMPRIS - Onlinebasiertes Motivationsprogramm zur Förderung der Behandlungsmotivation bei Menschen mit Computerspielabhängigkeit und Internetsucht. In: https: / / innovationsfonds.g-ba.de/ projekte/ versorgungsforschung/ omprisonline basiertes-motivationsprogramm-zur-foerderungder-behandlungsmotivation-bei-menschen-mitcomputerspielabhaengigkeit-und-internetsucht.233, 18. 8. 2019 González-Bueso, V., Santamaría, J., Fernández, D., Merino, L., Montero, E., Ribas, J. (2018): Association between Internet Gaming Disorder or Pathological Video- Game Use and Comorbid Psychopathology: A Comprehensive Review. International Journal of Environmental Research and Public Health 15 (4), 668, https: / / doi.org/ 10.3390/ ijerph15040668 Rumpf, H.-J., Meyer, C., Kreuzer, A., John, U. (2011): Prävalenz der Internetabhängigkeit (PINTA). Bericht an das Bundesministerium für Gesundheit. In: https: / / www. bundesgesundheitsministerium.de, 7. 2. 2018 Rumpf, H.-J., Arnaud, N., Batra, A., Bischof, A., Bischof, G., Brand, M., Gohlke, A., Kaess, M., Kiefer, F., Leménager, T., Mann, K., Mößle, T., Müller, A., Müller, K., Rehbein, F., Thomasius, R., Wartberg, L., te Wild, B., Wölfling, K., Wurst, F. M. (2016): Memorandum Internetbezogene Störungen der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht). DG-Sucht 62 (3),167 - 172 The European Games Developer Federation (2018): Statement on WHO ICD-11 list and the inclusion of gaming. In: http: / / www.egdf.eu/ wp-content/ uploads/ 2018/ 06/ Industry-Statement-on-18-June-WHO-ICD- 11.pdf, 18. 8. 2019 te Wildt, B., Dieris-Hirche, J., Bottel, L. (2018): Entwicklung und Evaluation eines Online-Ambulanz-Service zur Diagnostik und Beratung von Internetsüchtigen (OASIS). Abschlussbericht an das Bundesministerium für Gesundheit. In: https: / / www.bundesgesundheits ministerium.de/ fileadmin/ Dateien/ 5_Publikationen/ Drogen_und_Sucht/ Berichte/ Abschlussbericht/ Ab schlussbericht_OASIS.pdf, 18. 8. 2019 World Health Organisation WHO (2018): The ICD-11 classification of mental and behavioural disorders. ICD 11 Beta Draft online. In: https: / / icd.who.int/ dev11/ l-m/ en, 7. 2. 2018