eJournals unsere jugend 72/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Unabhängige Ombudschaft in der Kinder- und Jugendhilfe

21
2020
Nicole Rosenbauer
Ulrike Pahl
Die von den Interessen öffentlicher und freier Träger unabhängige Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe ist bundesweit die erste mit öffentlichen Mitteln finanzierte Anlaufstelle, an die sich junge Menschen und ihre Familien in Konfliktfällen wenden können. Der Beitrag gibt einen Einblick in die Praxis der Ombudsstelle und thematisiert Wirkungen und Herausforderungen.
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83 unsere jugend, 72. Jg., S. 83 - 90 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art14d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Nicole Rosenbauer Jg. 1975; Diplom-Pädagogin, Professorin für Sozialarbeitswissenschaft an der Evangelischen Hochschule Dresden Unabhängige Ombudschaft in der Kinder- und Jugendhilfe Aktuelle Einblicke in die Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe 1 Die von den Interessen öffentlicher und freier Träger unabhängige Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe ist bundesweit die erste mit öffentlichen Mitteln finanzierte Anlaufstelle, an die sich junge Menschen und ihre Familien in Konfliktfällen wenden können. Der Beitrag gibt einen Einblick in die Praxis der Ombudsstelle und thematisiertWirkungen und Herausforderungen. Unabhängige Ombudschaft: Eine Einordnung Die ombudschaftliche Bewegung in der Jugendhilfe entstand 2002 aus zunehmender Kritik von Berliner Fachkräften an einer restriktiveren Gewährungspraxis stationärer Hilfen zur Erziehung, an nicht bedarfsgerechten Kürzungen und Sparmaßnahmen in diesem Bereich und in der Jugendberufshilfe. Man begann, zunächst drei Jahre ausschließlich ehrenamtlich, junge Menschen und Eltern zu ihren gesetzlich gegebenen Rechten sowie Ansprüchen auf individuelle Hilfen nach dem SGB VIII zu informieren und zu beraten und gründete den ‚Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe e.V.‘ (BRJ) als erste externe unabhängige Ombudsstelle für die Jugendhilfe. In den Folgejahren spielten Projektförderungen insbesondere von Aktion Mensch eine zentrale Rolle für den Ausbau, die Sicherung und die Weiterentwicklung der ombudschaftlichen Arbeit (für eine Übersicht der geförderten ombudschaftlichen Projekte in Trägerschaft des BRJ siehe die Website www. brj-berlin.de). Ratsuchende können sich seither bei Konflikten und Unsicherheiten hinsichtlich der Entscheidungen und Vorgänge im Rahmen der Leistungsgewährung als auch der Leistungserbringung an die unabhängige Ombudsstelle wenden. Ulrike Pahl Jg. 1983; Diplom-Pädagogin (Interkulturelle Pädagogik), hauptamtliche Mitarbeiterin in der Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe 1 Für die hilfreichen Anmerkungen zum Text danken wir dem Team der BBO Jugendhilfe und Prof. Dr. Ulrike Urban- Stahl. 84 uj 2 | 2020 Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe Ombudschaft ist dabei durch eine aufklärende und beratende, aber auch - wenn nötig - durch eine die jungen Menschen und Eltern begleitende und zwischen den AkteurInnen konkret vermittelnde Vorgehensweise in Konflikt- und Streitfällen gekennzeichnet. Grundlegend für die Ombudschaft ist die Erkenntnis, dass zwischen den AdressatInnen und den Fachkräften der öffentlichen und freien Träger als VertreterInnen staatlicher Institutionen eine strukturelle Machtasymmetrie existiert und wirkt (vgl. Urban-Stahl 2012, 74). Fachkräfte agieren im Status und in der Position von Professionellen, verfügen über jugendhilfespezifisches Wissen, über in der Regel höhere Artikulations- und Durchsetzungsfähigkeiten und können in ihrer Arbeit und bei Entscheidungen auf sie stützende Team- und Leitungsstrukturen zurückgreifen. AdressatInnen sind demgegenüber in der Regel nicht nur in ihren persönlichen Ressourcen unterlegen, sondern befinden sich zudem in belasteten und belastenden, teils krisenhaften Lebenssituationen (vgl. Smessaert/ Fritschle 2015, 359). Deshalb erfahren die Interessen und Perspektiven der strukturell unterlegenen Partei in der Ombudschaft eine besondere Beachtung und Unterstützung im Sinne einer „fachlich fundierten Parteilichkeit“ (Bundesnetzwerk Ombudschaft 2016, 4). Die ratsuchenden jungen Menschen und Eltern sollen durch Aufklärung über ihre bestehenden Rechte und über jugendhilfespezifische Verfahrenslogiken, durch Beratung und wenn nötig konkrete Begleitung so unterstützt und gestärkt werden, dass sie die ihnen zustehenden Rechte selbst einfordern, existierende Verfahrensmöglichkeiten nutzen und sich so als aufgeklärte und selbstwirksame AkteurInnen im Kontakt mit der Jugendhilfe erleben können. Befördert und gestärkt wurde das Bewusstsein für die Notwendigkeit unabhängiger Anlauf- und Ombudsstellen insbesondere durch die Empfehlungen der beiden runden Tische zur Aufarbeitung der Heimerziehung der 1950er- und 60er-Jahre zur Sexualisierten Gewalt in Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen, dem 11. Kinder- und Jugendbericht von 2002 (,sozialer Verbraucherschutz‘) und durch die Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes von 2015. Begrifflich und fachlich bedeutsam ist die Unterscheidung unabhängiger Ombudschaft von internen Beschwerdeverfahren in statinären Einrichtungen (i. S. d. § 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII) und anderen Formen der Beschwerde-, Konfliktbearbeitung und Schlichtung, die im Rahmen bereits etablierter öffentlicher oder freier Trägerstrukturen der Jugendhilfe angesiedelt sind, z. B. teils vorhandene interne Beschwerdemanagements der Jugendämter oder von größeren freien Trägern benannte eigene Stellen. Der Aspekt der Unabhängigkeit ist für die Funktionsfähigkeit von externer Ombudschaft grundlegend und von zentraler Bedeutung (vgl. Rosenbauer/ Schruth 2019). Dass das relativ junge fachliche Konzept der unabhängigen Ombudschaft mittlerweile fachpolitisch Anerkennung gefunden hat, hat sich zuletzt in der Reformdiskussion zum SGB VIII durch die Einfügung einer programmatischen Rechtsnorm im Entwurf des Kinder- und Jugendhilfestärkungsgesetzes gezeigt (vgl. Smessaert 2018, 1). Zentral bewegt wird in diesem Zusammenhang die Frage, wie eine infrastrukturelle, regional flächendeckende Einrichtung und Absicherung von Ombudsstellen in der Jugendhilfe realisiert und gleichzeitig deren Unabhängigkeit bei Finanzierung durch öffentliche Mittel abgesichert werden könnte. Als bundesweit erste mit öffentlichen Mitteln geförderte unabhängige Ombudsstelle wurde die Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe (BBO Jugendhilfe) von 2014 bis 2017 in Trägerschaft des BRJ als Modellprojekt erprobt. Konzeptionell steht sie damit exemplarisch für die Frage, wie eine unabhängige Ombudsstelle in Finanzierung des öffentlichen Trägers implementiert und gestaltet werden kann. 2017 wurde eine zweijährige Weiterfinanzierung bis Ende 2019 vereinbart. Die Finanzierung der BBO wird zum wesentlichen Teil 85 uj 2 | 2020 Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe von der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft getragen (80 %), unter Beteiligung der zwölf Berliner Jugendamtsbezirke (20 %). Als Modellprojekt wurde sie durch das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) München extern evaluiert. Der Abschlussbericht der Evaluation ist zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags im Erscheinen; die Entwurfsfassung liegt intern vor. Aktuelle Einblicke in die Arbeit der BBO Jugendhilfe Das erste zentrale Aufgabenfeld der BBO Jugendhilfe ist die Beratung von Anliegen von jungen Menschen und Familien im Beratungsspektrum der individuellen Hilfen zur Erziehung (§§ 27 f SGB VIII) sowie der hilfeplan(analog) gesteuerten Leistungen im Rahmen der §§ 19, 35 a und 41 SGB VIII. Richtschnur für die Beratungspraxis sind zudem die Beteiligungs- und Verfahrensrechte des SGB I, SGB VIII und SGB X. Bei Anfragen jenseits des genannten Beratungsspektrums übernimmt die BBO eine Lotsenfunktion. Sie verweist dann auf andere Hilfsangebote, klärt über Zuständigkeiten innerhalb des Sozialleistungssystems auf und vermittelt Ratsuchende weiter; dies auch bei Anliegen im Kontext familiengerichtlicher Verfahren. Da die angestrebte Aufnahme des § 13.3 SGB VIII in das Beratungsspektrum nicht realisiert werden konnte, wird diese Beratung aktuell über ein Aktion-Mensch-Projekt des BRJ abgedeckt. Das zweite zentrale Aufgabenfeld ist die aktive Kooperation und der fachlich-strukturelle Austausch der BBO mit den AkteurInnen der öffentlichen und freien Jugendhilfe. Ziel ist es, die regionale Beteiligungs- und Beschwerdekultur strukturell zu stärken und die Akzeptanz gegenüber Beschwerden von betroffenen Kindern, Jugendlichen und Familien in der Jugendhilfe zu erhöhen. Diese Kooperationsentwicklung unterstützt und begleitet ein mit VertreterInnen der öffentlichen und freien Jugendhilfe sowie der Wissenschaft besetzter Fachbeirat. Aktuell sind vier hauptamtliche Projektmitarbeiterinnen mit unterschiedlichen Stellenanteilen (3,3 VZÄ) und zwei Verwaltungskräfte (1 VZÄ) im Projekt beschäftigt. Die Beratungsarbeit wird durch eine Fachkraft auf 450 €-Basis und ehrenamtlich tätige Fachkräfte unterstützt. Mit Blick auf das zweite Aufgabenfeld beinhalten alle hauptamtlichen Projektstellen einen Stellenanteil für fachlich-strukturelle Tätigkeiten. Zwischen dem Berliner Senat und der BBO Jugendhilfe wurde für die Modellphase eine Fallzahl von 100 Fällen pro Jahr als Zielvorgabe vereinbart (nicht differenziert in HzE- und Lotsenfälle). In der Praxis und auch in der Evaluation für 2014 bis 2017 zeigte sich ein höheres und tendenziell steigendes Fallaufkommen; im Durchschnitt wurden 210 Fälle pro Jahr beraten (inkl. Lotsenfälle). Im Jahr 2018 wurden 265 Anfragen an die BBO gestellt: Davon fielen 171 Fälle in das Beratungsspektrum, 94 Anfragen waren Lotsenfälle. Der überwiegende Teil der beratenen Anfragen betrifft die Leistungsgewährung: 2014 bis 2017 waren dies 86,3 % der Anfragen, 10,5 % betrafen die Leistungserbringung und 3,2 % betrafen Konflikte in beiden Bereichen (vgl. IPP i. E., 46). Bei den Anliegen der Ratsuchenden sind alle Hilfeformen des Beratungsspektrums vertreten. Es zeigen sich jedoch zwei deutliche Schwerpunkte: Mehr als die Hälfte der Beratungen (51,8 %) betreffen die Hilfen zur Erziehung nach §§ 27f SGB VIII, und innerhalb dieser thematisieren fast zwei Drittel stationäre Hilfen zur Erziehung (§ 34 SGB VIII). Ein weiteres Viertel (24,7 %) betreffen die Hilfen für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII), 12,6 % bewegen sich im Bereich § 35 a SGB VIII. Bei den Anliegen gegenüber der öffentlichen Jugendhilfe zeichnen sich bei den Fragen bzw. Konflikten zwei größere Bereiche ab: Der erste Bereich betrifft die Gewährungspraxis. Nach Häufigkeit geht es hierbei insbesondere um die Gewährung von neuen Hilfen und die Fortfüh- 86 uj 2 | 2020 Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe rung von Hilfen, im Weiteren um Fragen nach der Geeignetheit von Hilfen, der Gewährung zusätzlicher Hilfen und der Beendigung von Hilfen. Der 18-jährigen Sarah wird zum zweiten Mal verweigert, in den Urlaub zu fahren. Schon als 17-Jährige wurde ihr mitgeteilt, Urlaub sei während stationärer Jugendhilfe nicht vorgesehen. Nach Hinweis auf den Berliner Rahmenvertrag für Hilfen in Einrichtungen und durch Dienste der Kinder- und Jugendhilfe (Anspruch von 30 Tagen Urlaub im Jahr, kein Erlaubnisvorbehalt) wird Sarah der Urlaub von ihrer zuständigen Jugendamtsmitarbeiterin gewährt, allerdings verbunden mit der Ankündigung, auf den Urlaub folge die Hilfebeendigung. In den Urlaub fahren sei Ausdruck bereits ausreichender Verselbstständigung. Der zweite Bereich sind Anliegen, die Fragen der Beteiligung bzw. eine nicht ausreichende Beachtung der Beteiligungsrechte thematisieren - insbesondere bezogen auf den Hilfeplanprozess und das Wunsch- und Wahlrecht (vgl. IPP i. E., 48). In einem Teil der Anliegen sind beide Bereiche tangiert; etwa wenn sich eine knapp 18-jährige junge Frau, die vormals noch keinen Kontakt mit der Jugendhilfe hatte, an das Jugendamt mit der Bitte um Unterstützung wendet (neue Hilfe nach § 41 SGB VIII), sich im Rahmen der Kontaktaufnahme bspw. im Hinblick auf ihre Problembelastetheit und die Prüfung ihres ggfs. Bedarfs nicht ausreichend gehört wahrnimmt (Beteiligung). Deshalb erfasst die interne Fallstatistik der BBO bei den Anliegen auch Mehrfachnennungen. Gegenüber freien Trägern werden bspw. Anliegen im Hinblick auf Umgangs-/ Besuchskontakte und -regelungen, Probleme der Privatsphäre, die Taschengeldgewährung, eine mangelhafte pädagogische Betreuung sowie Probleme in der Kommunikation mit der Einrichtung formuliert (vgl. IPP i. E., 48). Eine nicht sorgeberechtigte Großmutter, bei der die 10-jährige Enkelin mehrere Jahre im Einvernehmen aller Beteiligten aufwuchs, erhält einen Brief ihrer seit Kurzem in einer regional weiter entfernten stationären Einrichtung untergebrachten Enkelin. In diesem Brief schildert das Mädchen fehlende pädagogische Betreuung, Versorgung sowie unangemessene Strafen. Der 10-Jährigen werden die Kontakte zur Großmutter und zu anderen vorherigen Bezugspersonen untersagt. Die Schule des Mädchens kritisiert ebenfalls eine teilweise fehlende Versorgung der 10-Jährigen mit Essen für die Schulzeit, und beobachtet keine pädagogischen Probleme mit dem Mädchen, das sich gut in die Schule integriert. Der Vormund ist jedoch auf Bitten der Großmutter hin nicht bereit, im Interesse des Kindes die Qualität der aktuellen stationären Unterbringung und die Geeignetheit zu prüfen. Zu zwei Dritteln wenden sich direkt betroffene AdressatInnen an die BBO: am häufigsten Kindsmütter (29,7 %), junge Menschen (12,6 %) sowie Pflegeeltern (11,5 %). Zum zweiten sind MitarbeiterInnen von Jugendhilfeeinrichtungen wichtige VermittlerInnen an die Ombudsstelle (25,4 %) (vgl. IPP i. E., 22). Der Erstkontakt erfolgte in Dreiviertel der Fälle telefonisch. In fast 80 % der Fälle wurden nach dem Erstkontakt weitere Termine und Absprachen vereinbart, davon fand etwa die Hälfte als face-toface-Beratungen statt (vgl. IPP i. E., 27f ). Die Beratungen erfolgen auf Grundlage eines mehrstufigen Konzeptes. Als erstes wird geklärt, ob das Anliegen im Beratungsspektrum der BBO verortet ist. Dann werden der Prozessverlauf und bisherige Schritte der Ratsuchenden zur Klärung des Konflikts erfragt; ggfs. bisherige Dokumente gesichtet. Die Ratsuchenden werden über die rechtliche Anspruchslage im Bereich Hilfen zur Erziehung informiert, zu möglichen Handlungs- und Verfahrensschritten beraten und über den Hilfeplanungsprozess (§§ 5, 8, 36 SGB VIII) und die Standards des Verwaltungsverfahrens aufgeklärt. Wenn nötig und von den Ratsuchenden gewünscht, begleitet die BBO schließlich den Prozess der Konfliktklärung und die Vermittlung zwischen ihnen und den beteiligten Fachkräften der öffentlichen oder freien Träger. Auf Wunsch der Betroffenen nehmen die Mitar- 87 uj 2 | 2020 Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe beiterInnen der BBO Kontakt auf, begleiten zu Gesprächen, beraten ggfs. zur Nutzung von regelhaften Beschwerdeverfahren (Widerspruchsverfahren, Dienstaufsichtsbeschwerden, Petitionsmöglichkeiten) und informieren auch über das Klageverfahren. Der 16-jährige Serkan hat sich in der Jugendhilfe stabilisiert. Nun wurde der Familiennachzug realisiert, und Serkan soll, so das zuständige Jugendamt, wieder bei den Eltern leben. Serkan hat Angst, dass es wieder zu Konflikten mit dem Vater kommt und er zudem seine Eltern so unterstützen muss, dass er keine Zeit mehr für seine Ausbildung findet. Er will nicht zu den Eltern ziehen. Das Jugendamt will die Hilfe durch Rückführung zur Familie beenden. Bei Anliegen und Beschwerden gegenüber freien Trägern informiert, berät und begleitet die BBO im Rahmen der gegebenen Beteiligungs- und Beschwerderechte (z. B. interne Beschwerdeverfahren nach § 45.2 SGB VIII oder Initiierung vermittelnder Gespräche im Jugendamt mit allen Beteiligten). Beratungsstandard ist das Vier-Augen-Prinzip, d. h. es wird unter Einbezug qualifizierter ehrenamtlicher BeraterInnen ein Beratungsteam gebildet, um die für die Fallanalyse notwendige Perspektivenvielfalt zu erhalten. Einbezogen werden auch bereits involvierte Unterstützungsinstanzen. Die Falldokumentation, für die im Sinne des Datenschutzes nur die für die Beratung nötigen Daten erhoben werden, wird in anonymisierter Form statistisch ausgewertet. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen werden immer, soweit altersentsprechend möglich, in den Beratungsprozess mit einbezogen. Alle Schritte werden vorab mit den Ratsuchenden abgesprochen und nur mit deren Zustimmung gegangen. Wenn möglich, sollen sie alle weiteren Schritte selbst unternehmen, und nur wenn nötig dabei durch die BeraterInnen unterstützt und begleitet werden (Ziel der Ermächtigung der jungen Menschen und Familien selbst). Die Unabhängigkeit ist für die Beratungsarbeit essenziell. Die BBO Jugendhilfe unterliegt keiner Weisungsbefugnis durch den öffentlichen Träger. Im Rahmen ihrer ombudschaftlichen Arbeit gibt die BBO wiederum ausschließlich Empfehlungen ab; sie selbst besitzt keine Aufsichts-, Weisungs- oder Entscheidungsbefugnis gegenüber den öffentlichen oder freien Trägern. Wirkungen und Grenzen in der ombudschaftlichen Beratungsarbeit Die Auswertung unserer Beratungsarbeit zeigt deutlich, dass die Aufklärungs- und Vermittlungsfunktion der Ombudschaft realisiert wird. In einem Großteil der Beratungen fühlen sich die Ratsuchenden nach einer Aufklärung über die Verfahrensabläufe und ihre Rechte und Pflichten informiert und ermächtigt, um nächste Schritte selbst zu gehen. Eine stellvertretende Interessenartikulation gegenüber den öffentlichen und freien Trägern zur Konfliktklärung ebenso wie Rechtsmittel, bspw. das Einlegen eines Widerspruches, werden im ombudschaftlichen Vorgehen vergleichsweise wenig genutzt. Von 2014 bis 2017 war die Unterstützung bei einer Klage und/ oder Vermittlung eines Anwalts nur zweimal Gegenstand von Beratung und Begleitung (vgl. IPP i. E., 32). Eine zentrale Erfahrung im Rahmen ihrer Vermittlungsfunktion ist, dass das begleitende Tätigwerden von Ombudschaft zu einer Versachlichung der Kommunikation in teils eingefahrenen, auch sehr emotionalen Situationen beiträgt, etwa im Rahmen von Hilfeplangesprächen. „Vor allem im direkten Austausch mit Fachkräften im ombudschaftlichen Beratungs- und Vermittlungskontext wird (manchmal gleichsam verwundert) mit Erleichterung konstatiert, dass die Beteiligung einer unabhängigen dritten ‚Instanz‘ im Sinne einer beidseitigen ‚Übersetzungsfunktion‘ hilfreich sein kann“ (Smessaert/ Fritschle 2015, 361). 88 uj 2 | 2020 Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe Junge Menschen und Eltern bewerten die Arbeit der BBO rückblickend außergewöhnlich positiv; dies auch, wenn sie ihre ursprünglichen Ziele als nur teilweise (37 %) oder nicht verwirklicht einschätzen (8,7 %) (IPP i. E., 56f ). Als Effekte beschreiben sie selbst insbesondere auch jene der Aufklärung und Information, sowie eine (teils massive) emotionale Entlastung und die Gewinnung von Orientierung. Orientierung heißt, dass es den Ratsuchenden durch die ombudschaftliche Begleitung gelingt, den bisherigen Fallverlauf besser zu verstehen, neue Perspektiven für ihr weiteres Handeln zu entwickeln und nach Möglichkeiten zu suchen, sich und die eigenen Ziele als Teil eines akzeptablen Lösungsvorschlags im Kontakt mit der Jugendhilfe zu erleben. Für sie entsteht eine Transparenz über die Vorgänge, die sie betreffen: Indem sie verstehbar über ihre Rechte sowie Pflichten aufgeklärt werden; indem die BeraterInnen helfen zu verstehen, warum ihr Fall so verlaufen ist, wie er verlaufen ist; indem aufgezeigt wird, wo evtl. Dinge versäumt oder Möglichkeiten nicht genutzt wurden; und auch, indem verdeutlicht und benannt wird, wann und wo ihnen etwas nicht Rechtmäßiges widerfahren ist (vgl. IPP i. E., 53f ). Für junge Menschen und Eltern ist es oftmals eine immense Herausforderung, sich in formalen Gesprächssituationen und Verfahrenslogiken ausreichend Gehör zu verschaffen und ihrer eigenen Sicht der Dinge das nötige Gewicht zu verleihen. Ihren Lebenssituationen liegen reguläre rechtsstaatliche Beschwerdemöglichkeiten oft sehr fern; auch wollen sie in der Regel nicht noch weitere Konflikte mit der Jugendhilfe führen. Vor diesem Hintergrund eröffnet die Ombudschaft den jungen Menschen und Eltern durch ihre spezifische Methodik einen je eigenen Zugang zum Recht bzw. zu ihren Rechten, zur Entwicklung von einzelfallbezogenen Handlungsperspektiven in den jeweiligen Konfliktkonstellationen und zu realisierbaren Strategien, ihre Rechte und Ansprüche auch durchzusetzen (vgl. Smessaert/ Fritschle 2015, 362). Eine Grenze der Arbeit liegt darin, dass sich Ratsuchende den Belastungen konflikthafter Auseinandersetzungen mit den Behörden oder mit MitarbeiterInnen freier Träger trotz ombudschaftlicher Unterstützung manchmal nicht (weiter) gewachsen fühlen. Zwischen 2014 und 2017 kam es bspw. in fast jedem zehnten Fall (9,1 %) zu einem Kontaktabbruch oder die Betroffenen haben nach einer Beratung, trotz teilweise hoher Erfolgsaussichten, von ihrem Anliegen Abstand genommen (vgl. IPP i. E., 67f ). Eine weitere Grenze liegt darin, dass weitverbreitete Problematiken in der Jugendhilfe durch einzelfallbezogene Beratungen nicht grundlegend veränderbar sind, wie bspw. eine rechtswidrige Ermessenspraxis der öffentlichen Träger in Bezug auf die Hilfegewährung für junge Volljährige. Im Einzelfall kann für volljährig werdende Jugendliche hier ggfs. zwar eine bedarfsgerechte Fortführung der Jugendhilfe erreicht werden, insgesamt stellt sich die Gewährung jedoch sehr schwierig oder teilweise nicht realisierbar dar (vgl. hierzu ausführlicher BRJ 2018). Da die bisherigen Erfahrungen ebenso wie die Evaluationen zeigen, dass der Bedarf für unabhängige Ombudschaft in der Jugendhilfe hoch ist, liegt eine Grenze entsprechend auch in dem bearbeitbaren Fallvolumen. Angesichts zu hoher Fallzahlen wurden in der BBO temporäre Fallstopps notwendig; Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit mussten zurückgestellt werden. Herausforderungen ombudschaftlicher Arbeit Spezifische Herausforderungen ombudschaftlicher Arbeit liegen im Kompetenz- und Rollenprofil, der Sicherung von Qualitätsstandards, der Sicherung der Unabhängigkeit sowie der hierfür erforderlichen strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen. Das Kompetenzprofil ombudschaftlicher Beratung ist hoch anspruchsvoll: Es erfordert eine 89 uj 2 | 2020 Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe fundierte sozialpädagogische Expertise, Wissen über Verfahren und Abläufe in der Jugendhilfe, vertiefte Rechtskenntnisse im SGB VIII, in anderen Sozialgesetzbüchern sowie im Verwaltungsrecht. Es umfasst zudem die Fähigkeit zur Vernetzung und Kooperation mit anderen Institutionen. Ombudspersonen brauchen entsprechend breite Qualifikations- und Begleitangebote zur Sicherung der Professionalität und Qualität der Arbeit. Das Rollenprofil kennzeichnet sich dadurch, dass BeraterInnen vermittelnd zwischen Fachkräften und AdressatInnen agieren, dabei jedoch im Wissen um die strukturelle Machtasymmetrie der Perspektive der AdressatInnen besonderes Gewicht verleihen. Um dies realisieren zu können, müssen sie eine distanzierte Haltung sowohl gegenüber den öffentlichen als auch freien Trägern einnehmen können. Damit keine Interessen-, Loyalitäts- und Rollenkonflikte entstehen bzw. um diese weitgehend strukturell zu vermeiden, muss ein Aufsichts- oder Weisungsrecht, bspw. der Jugendamtsleitung oder anderer Leitungskräfte, ausgeschlossen sein. Ehrenamtlich tätigen Fachkräften kommt in der Ombudschaft eine spezielle Bedeutung zu; rein ehrenamtliche Strukturen ohne Hauptamt bergen jedoch die Gefahr der Überforderung. Ausreichend gesicherte strukturelle und finanzielle Rahmenbedingungen sind zur Sicherung des Profils, der Qualitätsstandards und der Unabhängigkeit erforderlich. Die aktuelle Finanzierung der BBO Jugendhilfe bietet noch keinen Rahmen, um die ombudschaftliche Arbeit in diesem Sinne langfristig abzusichern. Unabhängigkeit ist schließlich auch für den Zugang der Ratsuchenden zu Information, Aufklärung und Beratung zentral. Ein Großteil, so die Evaluation, wäre explizit nicht zu einer Ombudsstelle gegangen, die operativ mit dem Jugendamt verknüpft ist (IPP i. E., 116). Wesentlich für die Inanspruchnahme der Ombudschaft ist insofern die Glaubwürdigkeit ihrer Funktion als neutrale und unabhängige Instanz. Ausblick: Beschwerde und Ombudschaft als Normalfall in der Kinder- und Jugendhilfe? ! Die Etablierung unabhängiger Ombudschaft war und ist von vielfältigen Widerständen, von Skepsis und Vorbehalten begleitet. Mittlerweile zeigen verschiedene Evaluationen, dass die Zufriedenheit mit der Arbeit der Ombudschaft konkret und vor Ort auf allen beteiligten Seiten durchaus hoch ist. Es zeigt sich jedoch auch, dass es quer über die Hierarchieebenen noch einen hohen Informationsbedarf zum Profil und Verständnis unabhängiger Ombudschaft in der Jugendhilfe gibt. Fachkräfte und Interessierte sind deshalb eingeladen, sich auf der Internetseite des Bundesnetzwerks Ombudschaft https: / / ombudschaft-jugendhilfe.de über verschiedene Initiativen in den Bundesländern, deren Arbeitsbereiche, veröffentlichte Materialien, bisherige Evaluationen etc. zu informieren und bei Interesse Kontakt aufzunehmen. Freie Träger, die sich bereits intensiv mit der Entwicklung und Umsetzung interner Beschwerdeverfahren auseinandergesetzt haben, betrachten die unabhängige Ombudsstelle heute schon als wichtige Ergänzung (vgl. Smessaert/ Fritschle 2015, 361). Wird die Machtasymmetrie in der Jugendhilfe gesehen und das eigene Handeln als Fachkraft auch mit strukturellen Fragen in Verbindung gebracht, dann kann die Ombudschaft durchaus positiv als Reflexionsinstanz und fachliches Korrektiv genutzt werden. Eine gute Zusammenarbeit entsteht in der Regel dort, „wo Mitarbeiterinnen […] freier und öffentlicher Träger die Notwendigkeit einer unabhängigen Anlaufstelle für Klientinnen […] akzeptieren, wo man sich selbst als überprüfbar ansieht, wo Interessenskonflikte nicht als Vorwurf, sondern als berechtigte Realität akzeptiert werden und Mitarbeiterinnen […] fachliche Auseinandersetzung als Teil von Qualitätsentwicklung verstehen“ (Urban-Stahl 2011, 34) 90 uj 2 | 2020 Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe Für die Qualifizierung des Umgangs mit Konfliktkonstellationen, in denen sich junge Menschen und Eltern in der Jugendhilfe als ‚nicht gehört‘ und nicht ernstgenommen erleben und in denen machtvolle Entscheidungen Dritter Gefühle von Unsicherheit, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein erzeugen, bedarf es aus unserer Sicht gemeinsamer fachpolitischer Anstrengungen, konkrete und ernstgemeinte Verfahrenswege für Beschwerde und Widerspruch für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern zu eröffnen - und hierin auch eine gewisse Selbstverständlichkeit in der Jugendhilfe zu etablieren (vgl. Smessaert/ Fritschle 2015, 362). Eine zukunftsfähige Jugendhilfe braucht die Normalität einer Beschwerdekultur durch Stärkung der Betroffenenrechte (vgl. Schruth 2014, 40). Basis hierfür ist eine professionelle Haltung von Fachkräften, die Widerspruch und Beschwerden aus dem Kreis der AdressatInnen als ‚Normalfall‘, als konstruktiv aufzugreifende Kritik und als wichtige Rückmeldungen für das Nachdenken über Weiterentwicklungen in der Jugendhilfe begreifen und aufgreifen kann. Die Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe ist ein Projekt des Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe e.V. Mariendorfer Damm 38 12109 Berlin Tel. (0 30) 62 98 12 69 E-Mail: info@bbo-jugendhilfe.de www.bbo-jugendhilfe.de Literatur Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe e.V. (2018): Zuständig sein und zuständig bleiben! Stolpersteine und Hürden auf dem Weg junger Menschen hin zu einer bedarfsgerechten Unterstützung durch die Jugendhilfe - eine Fallanalyse aus ombudschaftlicher Sicht, Berlin, https: / / doi.org/ 10.2307/ j.ctvddzgrd.8 Bundesnetzwerk Ombudschaft (2016): Selbstverständnis. In: https: / / ombudschaft-jugendhilfe.de/ wp-content/ uploads/ BNW_Brosch%C3%Bcre_Selbstverst%C3%A4ndnis_FINAL.pdf, 15. 9. 2019 Institut für Praxisforschung und Projektberatung - IPP München (i. E.): Evaluation der Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe. Endbericht Rosenbauer, N., Schruth, P. (2019): Ombudschaft als Mittel zur Durchsetzung von Rechten junger Menschen und Familien in der Kinder- und Jugendhilfe. Auf den Spuren notwendiger Unabhängigkeit einer Praxis des Widerspruchs. In: Gathen, M., Meisen, T., Koch, J. (Hrsg.): Vorwärts, aber nicht vergessen! Entwicklungslinien und Perspektiven in der Kinder- und Jugendhilfe. Beltz, Weinheim/ Basel. 146 - 156 Schruth, P. (2014): Exkurs: Beschwerde- und Ombudsstellen. In: Deutsches Rotes Kreuz (Hrsg.): Anwaltschaftliche Vertretung in den Hilfen zur Erziehung, Berlin, 40 - 41 Smessaert, A. (2018): Ombudschaft in der Kinder- und Jugendhilfe. Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz. Dossier 1/ 2018. In: https: / / www.bagjugendschutz.de/ PDF/ Dossier-1-2018_Ombudschaft.pdf, 15. 9. 2019 Smessaert, A., Fritschle, U. (2015): Ombudschaftliche Beratung hilft! Wie die BBO Jugendhilfe Betroffene unterstützt, ihre Rechte in der Kinder- und Jugendhilfe zu erkennen und selbst durchzusetzen. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe 4, 359 - 363 Urban-Stahl, U. (2012): Der Widerspruch wird hoffähig? ! ? Ombuds- und Beschwerdestellen in der Jugendhilfe. In: Widersprüche: Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich 32 (123), 69 - 80 Urban-Stahl, U. (2011): Ombuds- und Beschwerdestellen in der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Expertise. Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln