eJournals unsere jugend 72/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
21
2020
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Rezension

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2020
Roland Merten
Édouard Louis (2019): Wer hat meinen Vater umgebracht. Roman Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 77 Seiten, € 16,–
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uj 2 | 2020 91 Rezension Was eingangs einer politikwissenschaftlichen Abhandlung erwartet werden darf, verwundert in einem literarischen Essay: eine Begriffsbestimmung von Politik. „Begreift man Politik als die Regierung von Lebewesen über andere Lebewesen, und gehören die Individuen jeweils Gemeinschaften an, denen sie zugewiesen wurden, dann besteht Politik in der Abgrenzung jener Bevölkerungsteile, die ein komfortables, geschütztes, begünstigtes Leben genießen, von solchen, die Tod, Verfolgung, Mord ausgesetzt sind.“ (11) Man muss einer solchen Klassentheorie nicht folgen, aber Éduard Louis macht anhand des Lebens seines Vaters exemplarisch deutlich, warum sie heute immer noch ihre Berechtigung hat. Er zeigt vor dem Hintergrund seines eigenen Herkunftsmilieus - einer armen Familie -, wie Politik im von ihm verstandenen Sinne Begünstigungen oder Benachteiligungen schafft, wie sie Lebensentwürfe bestimmt, wie sie ganz konkret die Menschen und ihre Körperlichkeit formt, die unter Armutsbedingungen aufwachsen und leben müssen. So werden junge Menschen daran gehindert, ihre Potenziale zu entfalten, weil sie frühzeitig genötigt sind, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Diese harten materiellen Zwänge hat die frühe Jugendsoziologie lange unreflektiert ausgeblendet, und man darf immer noch Zweifel haben, ob sie diese Blindflecken vollständig überwunden hat. Denn es gibt immer noch junge Menschen, denen „Jugend“ vorenthalten wird. So Louis‘ Vater - und seinen Leidensgenossen: „Kaum, dass sie keine Kinder mehr waren, mit vierzehn, fünfzehn, hatten sie angefangen zu arbeiten. Ohne Übergang waren sie von der Kindheit zur Erschöpfung und zur Vorbereitung auf den Tod gewechselt, ihnen waren diese wenigen Jahre nicht gegönnt, in denen man die Welt und die Wirklichkeit vergessen darf, diese Zeit, die von manchen Jugend genannt wird…“ (36). Und soreflektiertÉdouard Louis Politik anhandder Biografie seines Vaters weiter. Politik betrifft die Lebenswirklichkeit armer Menschen direkt, z. B. die Kürzung von Hilfeleistungen um 5 €. Wer am Existenzminimum lebt, der spürtdas,währenddiePrivilegierten davon unberührt bleiben. „Die Politik verändert ihr Leben nicht oder kaum. Auch das ist eigenartig: Sie bestimmten die Politik, obgleich die Politik kaum Auswirkungen auf ihr Leben hat.“ (71) Politik bleibt bei Louis nicht abstrakt, sie hat Namen, sie ist das Ergebnis der Entscheidungen dieser ‚Namen‘. In Frankreich heißen sie Chirac, Hollande, Sarkozy, Macron,… Ähnliches gilt auch für Deutschland: Kohl, Blüm, Schröder, Hartz, Fischer, Merkel,… Und so resümiert Édouard Louis am Ende seines Essays, wie sich die Entscheidungen dieser politisch Verantwortlichen konkret auf das Leben seines Vaters ausgewirkt haben: „Die Geschichte deines Körpers ist die Geschichte dieser Namen, die aufeinandergefolgt sind, um dich zu zerstören. Die Geschichte deines Körpers ist eine Anklage der politischen Geschichte.“ (75) Sie ist eine Anklage an die politischen Akteure! Édouard Louis lässt im Laufe seines Essays wenig Zweifel an seiner persönlich spannungsvollen, ja ablehnenden Einstellung gegenüber seinem Vater. Aber er ist klug genug zu erkennen, dass vieles von dem, was er an seinem Vater zu kritisieren hat und ablehnt, nicht (allein) persönliche Boshaftigkeit dieses Vaters ist, sondern Ausdruck schwieriger, die Persönlichkeit deformierender Lebensumstände. Gesellschaftsanalyse und (selbst-)kritische Reflexion der Abgrenzung vom eigenen Herkunftsmilieu werden hier meisterhaft vorgeführt - ein Lehrstück für sozialpädagogische Fallarbeit! Prof. Dr. Roland Merten DOI 10.2378/ uj2020.art15d Édouard Louis (2019): Wer hat meinen Vater umgebracht. Roman Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 77 Seiten, € 16,-