unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Rezension
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Thomas Feld
Thomas Klatetzki (2019): Narrative Praktiken, die Bearbeitung sozialer Probleme in den Organisationen der Kinder und Jugendhilfe 1. Auflage, Beltz Juventa, Weinheim/Basel, 246 Seiten, € 29,95
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188 uj 4 | 2020 Rezension „Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten! “ - so Odo Marquard (1986, 105). Und in der Tat, wenn man erfahren will, wer die Menschen sind, wie sie ihr Leben führen und was ihrem Leben Sinn verleiht, muss man auf die Geschichten hören, die über ihr Leben erzählt werden. Klatetzki geht der Bedeutung von Geschichten in den Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe nach. Narrative Praktiken bestimmen das Handeln dieser Organisationen fundamental, so Klatetzkis These, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: einem „kulturellen Wissen in Form von Skripts“. Das heißt: „einem gemeinsamen Wissen über den Ablauf von interaktiven Routinehandlungen, welches man sich wie ein Drehbuch für Theateraufführungen vorstellen kann“ (10). Da Routinen aber überraschend unterbrochen und in Aporien führen können, finden die Skripts eine Ergänzung durch eine zweite Form narrativen Wissens: „der erzählerischen Erzeugung von Geschichten“ (10). „Die Organisation als Gesamtheit“, so Klatetzki, „lässt sich im Rahmen dieser Perspektive als ein Netz beschreiben, das aus einer Vielzahl unterschiedlicher narrativer Praktiken besteht. Dieses Netz ist komplex, d. h. es weist Eigenschaften wie Offenheit, Nicht-Linearität, Mehrdeutigkeit, Widersprüchlichkeit, lose Koppelung und Pfadabhängigkeit auf. Das ist in nuce das theoretische Modell narrativer Praktiken, von dem dieses Buch handelt“ (10). Der detaillierten Entfaltung dieses Modells ist der erste Teil des Buches gewidmet. Klatetzki gelingt hier eine überraschende, aspektreiche und spannende Perspektive auf die Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe. Allerdings: Klatetzki spricht nicht von einer „Theorie“ narrativer Praktiken, sondern von „theoretischen Interpretationen“, um - anknüpfend an eine 2001 durch den Sozialwissenschaftler Bent Flyvberg angestoßene Debatte - die Differenz zu einem an Naturwissenschaften orientierten Wissenschaftsverständnis zu markieren. Entgegen der Gefahr, dass sich die Sozialwissenschaften in einer Fixierung auf quantitative Sozialforschung und der Suche nach universell gültigem, kontextunabhängigem, „epistemischem“ Wissen den Naturwissenschaften angleichen, sollten sie sich an einem „phronologischen“ Modell des Wissens orientieren, das an den Anforderungen einer konkreten historischen Praxis ausgerichtet ist (10f ). Vielleicht ist es der Orientierung an dieser „phronologischen“ Form wissenschaftlichen Denkens geschuldet, dass dem Lesenden Klatetzkis Gedankenführung zeitweise sprunghaft und wenig systematisch erscheint. So werden theoretisch bedeutsame Konzepte wie das Weiterwirken mythologischer Narrative in der Tiefenstruktur gegenwärtiger Organisationen nicht im Rahmen der theoretischen Grundlegungen eingeführt, sondern eher en passant im Rahmen der Fallinterpretationen (196ff ). Es kommt zu begrifflichen Unklarheiten: wie genau unterscheiden sich zum Beispiel die narrativen Praktiken des Skriptwissens von der narrativen Praxis des Erzählens und auf welche Tiefe weist eigentlich die „Tiefenstruktur“ mythischer Narrative hin? Etwas unglücklich wirkt auch das „Nachwort“, in dem dem Lesenden Merlin Donalds Theorie der Evolution menschlichen Wissens quasi im Nachgang als eine Theorie vorgestellt wird, die geeignet sein soll, der Hervorhebung des narrativen Wissens als „zentraler Wissensform in sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen“ den Anschein der „arbiträren Auswahl“ aus der Vielfalt theoretischer Ansätze zu nehmen (223). Klatetzki stellt sich als Leserschaft „an Praxis orientierte TheoretikerInnen“ und an „Theorie interessierte PraktikerInnen“ vor (14) und zu- Thomas Klatetzki (2019): Narrative Praktiken, die Bearbeitung sozialer Probleme in den Organisationen der Kinder und Jugendhilfe 1. Auflage, Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 246 Seiten, € 29,95 uj 4 | 2020 189 Rezension mindest für diese Lesergruppe ergeben sich anregende Perspektiven auf das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe. Das wird insbesondere im zweiten Teil des Buches deutlich: in vier Fallvignetten weist Klatetzki die Brauchbarkeit seines Ansatzes nach. Besonders spannend las sich für mich die dritte Fallinterpretation zum Hilfeverlauf im „Fall Jonas“ (167 - 195). Es geht um den Tod eines kleinen Jungen, der am Ende einer Kette von Fehlern der involvierten Helfersysteme an erlittenen Misshandlungen durch den Lebensgefährten seiner Mutter stirbt. Ein Geschehen also, das alle Beteiligten betroffen und ratlos zurücklässt. Der übliche Umgang mit einem solchen Scheitern besteht in der Regel darin, persönliches Versagen aufzudecken und einzelne Schuldige zu identifizieren. Klatetzki analysiert diesen Fall, indem er dem Skript der Aufdeckung und Identifizierung der Schuld Einzelner nicht folgt, sondern ein Systemversagen aufdeckt, das dem System als Ganzem geschuldet ist. Dem auf Vertrauen aufgebauten System der sozialpädagogischen Familienhilfe wurden im Fall Jonas Aufgaben der Kontrolle und Aufdeckung von Straftaten zugemutet, für die dieses System nicht ausgerichtet und gedacht ist und so notwendigerweise versagen musste. Man muss nicht erst Michael Winklers Plädoyer für die Wiederentdeckung von Geschichten für Theorie und Praxis der Pädagogik lesen (Winkler 2019), um Klatetzkis Buch als bemerkenswerten Beitrag zu Theorie und Praxis der Sozialpädagogik wahrzunehmen. „Habent sua fata libelli“ - auch Bücher haben ihre Schicksale und Geschichten. Klatetzkis Buch wünsche ich eine Geschichte voller Wirkungen in praxisnaher Theorie und theorieorientierter Praxis. Literatur Marquard, O. (1986): Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. In: ders.: Apologie des Zufälligen. Stuttgart, 98 - 116 Winkler, M. (2019): Subjektivität als Erkenntnisform. Oder. Ein höchst subjektives Plädoyer. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 17 (3), 315 - 334 Pfr. Thomas Feld E-Mail: Thomas.feld@diakonie-ol.de DOI 10.2378/ uj2020.art30d
