eJournals unsere jugend 72/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Interventionen bei sexueller Gewalt

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2020
Uta Becker
Gabriele Fuhrmann
Maria Gerhard
Die Bearbeitung von Verdachtsfällen sexueller Gewalt ist eine große Herausforderung in der Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) der kommunalen Jugendämter. Die Information über entsprechende Sachverhalte erfolgt oft mit großem Zeitdruck und starken Gefühlen auf allen Seiten. Vorgestellt wird eine von den Autorinnen erarbeitete Handreichung zur Intervention bei sexuellem Missbrauch.
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257 unsere jugend, 72. Jg., S. 257 - 264 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art41d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Uta Becker Jg. 1957; Dipl.-Sozialpädagogin, Mediatorin, Kinderschutzkoordinatorin Jugendamt Hamburg Eimsbüttel Interventionen bei sexueller Gewalt Eine Handlungsorientierung für den Allgemeinen Sozialen Dienst Die Bearbeitung von Verdachtsfällen sexueller Gewalt ist eine große Herausforderung in der Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) der kommunalen Jugendämter. Die Information über entsprechende Sachverhalte erfolgt oft mit großem Zeitdruck und starken Gefühlen auf allen Seiten. Vorgestellt wird eine von den Autorinnen erarbeitete Handreichung zur Intervention bei sexuellem Missbrauch. Der ASD ist eine Organisation, die mit hohen Fallzahlen und schwierigsten Falldynamiken aufgrund komplexer Problemlagen und Herausforderungen belastet ist. Erschwerend kommt eine starke Personalfluktuation dazu. Jede einzelne Fachkraft hat eher selten mit dem Thema sexueller Gewalt zu tun und es stellt sich daher keine Bearbeitungsroutine ein. Vor diesem Hintergrund haben wir, zwei Hamburger Kinderschutzkoordinator*innen und die zuständige Fachreferentin des Landesjugendamtes, 2013 eine Handlungsorientierung zur Intervention bei sexuellem Missbrauch für die Fachkräfte des ASD erarbeitet, deren wesentliche Aspekte wir hier darstellen wollen. Mitte der 1990er Jahre wurde von engagierten Fachreferentinnen eine erste Handreichung der Jugend- und Sozialbehörde in Hamburg erstellt. Es ging darum, das Thema sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen breit in die Jugendhilfe zu tragen. Anfang der 2010er Jahre, als es erste Ideen zu einer Überarbeitung und Neufassung der Handlungsorientierung gab, standen wir vor einer veränderten Situation. Es gab inzwischen zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema. Im Ju- Gabriele Fuhrmann Jg. 1962; Dipl.-Sozialpädagogin, systemische Therapeutin und Supervisorin Kinderschutzkoordinatorin Jugendamt Wandsbek Maria Gerhard Jg. 1951; Dipl.-Sozialpädagogin, bis 2016 zuständige Fachreferentin in der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration 258 uj 6 | 2020 Interventionen des ASD bei sexueller Gewalt gendamt gab es die Diskussion um die Garantenstellung von Fachkräften und 2005 trat der § 8 a SGB VIII (Sozialgesetzbuch) in Kraft, der ein genaues Vorgehen bei „gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung“ beschreibt. In der Folge waren differenzierte Instrumentarien zur Gefährdungseinschätzung (Risikoeinschätzungsbögen wie der Mainzer Bogen zur Gefährdungseinschätzung, die Stuttgarter Kinderschutzbögen, in Hamburg der „Schonebogen“) entwickelt worden. Diese Instrumente sind zur Einschätzung von Vernachlässigung und Kindesmisshandlung geeignet und eher nicht zur Abklärung eines sexuellen Missbrauchsverdachts. In Hamburg gibt es in jedem bezirklichen Jugendamt seit 2006 Kinderschutzkoordinator*innen mit dem Auftrag der Fachberatung, Fortbildung und Qualitätsentwicklung im Kinderschutz. Sie beraten und unterstützen u. a. den ASD im Jugendamt bei besonders schwierigen Einzelfällen, so auch häufig in Verdachtsfällen von sexueller Gewalt. Aus diesen Erfahrungen entstand der Impuls, die Handlungsorientierung zu überarbeiten, um den Fachkräften im ASD mehr Handlungssicherheit zu geben. Problemkonstellationen des ASD beim Verdacht auf sexuelle Gewalt Mitteilungen mit einem Verdacht auf sexualisierte Gewalt gehen von unterschiedlichen Personen und Einrichtungen beim Jugendamt ein. Die Wege sind sehr unterschiedlich. Es kommen Mütter und Väter direkt zum ASD mit ihrer Vermutung, ihr Kind habe sexuelle Gewalt erfahren und der Bitte um Hilfe und Unterstützung. Es kommen jugendliche Mädchen und Jungen und lassen sich zu ihrem Schutz in Obhut nehmen. In anderen Konstellationen erfahren die Fachkräfte des ASD von anderen Institutionen, wie der Schule oder der Polizei, oder auch aus dem Umfeld von Kindern und Jugendlichen von Hinweisen auf sexuelle Gewalt gegenüber Kindern. Beispiele aus der Praxis: ➤ In einer Grundschule wurde einer Lehrerin ein digitales Foto übermittelt, das als kinderpornografisch bewertet wurde. Die Lehrerin nahm nach einer Beratung mit ihrer Leitung Kontakt zum ASD und zum Landeskriminalamt (LKA) auf. ➤ Das LKA informierte den ASD darüber, dass ein bereits wegen sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilter Straftäter eine Partnerschaft mit einer Frau eingegangen sei, die ein Kind habe, das dem „Opferschema“ des Mannes entspreche. ➤ Eine Jugendliche hatte sich ihrem Lehrer am Gymnasium anvertraut und ihm von sexuellen Übergriffen durch ihren älteren Bruder berichtet. Dieser Lehrer begleitete sie zu einer spezialisierten Beratungsstelle und stellte den Kontakt zum ASD her. ➤ Im Rahmen des hochstreitigen Trennungs- und Scheidungsprozesses von Eltern zweier gemeinsamer minderjähriger Kinder meldet sich die Mutter mit der Sorge, der Vater würde im Rahmen der Umgangskontakte seine 2-jährige Tochter sexuell misshandeln. Die Aufgabe des ASD ist im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung den Verdacht zu klären, einen möglichen Missbrauch zu beenden und den betroffenen Minderjährigen und ihren Eltern geeignete Hilfen zur Verfügung zu stellen. Gefährdungseinschätzung im ASD Wird der Verdacht eines sexuellen Missbrauchs eines Mädchens oder Jungen bekannt, löst dies bei beteiligten Fachkräften eine große emotionale Betroffenheit aus und setzt professionelle Helfer*innen unter Handlungsdruck. Es ist ratsam, keine übereilten und ungeplanten Schritte zu unternehmen. Unbedachtes Handeln schadet und verhindert langfristig wirkungsvolle Lösungen. 259 uj 6 | 2020 Interventionen des ASD bei sexueller Gewalt Die Einschätzung der Gefährdung, deren Bewertung, die anschließende Intervention und Hilfe sollten daher gut geplant und vorbereitet werden. Welches Vorgehen im Einzelfall angemessen ist, welche Schritte zu welchem Zeitpunkt unternommen werden können, ist abhängig von der Situation des Kindes und den Bedingungen des sexuellen Missbrauchs. Schnelle und unkomplizierte Hilfen gibt es ebenso wenig wie Patentrezepte. Jeder Einzelfall erfordert immer wieder aufs Neue die Suche nach angemessenen Handlungsmöglichkeiten und wirksamer Unterstützung. Einschätzung der Gefährdung im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte Vorhandene Hinweise, Beobachtungen und Informationen werden im Rahmen der kollegialen Beratung im Allgemeinen Sozialen Dienst gemeinsam erörtert und bewertet, bevor weitere Schritte unternommen werden. Auf diese Weise können unterschiedliche Sichtweisen, mögliche Alternativhypothesen sowie die Vor- und Nachteile verschiedener Hilfemöglichkeiten erwogen werden. Eine solche Haltung widerspricht nicht der im Umgang mit sexuell missbrauchten Kindern geforderten Parteilichkeit und ist nicht gleichbedeutend damit, „dem Kind nicht zu glauben“. Eine solche Haltung ist notwendig, um zu einer umfassenden und verlässlich abgesicherten Aufklärung zu gelangen. Darüber hinaus wird empfohlen, in Fällen eines Verdachts auf sexuelle Gewalt immer zu zweit zu arbeiten. In den Hamburger Jugendämtern soll auf jeden Fall die bezirkliche Kinderschutzkoordinator*in zur fachlichen Unterstützung hinzugezogen werden. Es ist sinnvoll, bei der Bewertung von Anhaltspunkten, mehrdeutigen Hinweisen, der Reflexion und der Planung der weiteren Vorgehensweise eine Fachberaterin der spezialisierten Beratungsstellen zum sexuellen Missbrauch einzubeziehen. Diese Fachkraft von außen kann dazu beitragen, eine größtmögliche Klarheit und Sicherheit in der Bewertung des Verdachts zu gewinnen. Bei Auftreten eines konkreten Verdachts auf sexuellen Missbrauch wird die oder der Vorgesetzte informiert. In einem gemeinsamen Gespräch werden Absprachen über das weitere Vorgehen getroffen. Damit soll eine Entlastung und Handlungssicherheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erreicht werden. In der Klärungsphase ist es wichtig, die Fachkräfte aus den Institutionen (Schule, Kita, Einrichtung der offenen Kinder- und Jugendarbeit), die zu einer Gefährdungseinschätzung einen Beitrag leisten können, zu einem Fachgespräch einzuladen. Dabei ist auf die Verschwiegenheit hinzuweisen. In diesem Rahmen sollten alle Hinweise genannt, gesammelt und anschließend auch bewertet werden. Dabei sind neben konkreten Fakten und Beobachtungen auch die fachliche Intuition („das Bauchgefühl“) und andere Wahrnehmungen von Bedeutung. Im gesamten Klärungsprozess ist es notwendig, auch Alternativhypothesen für die Auffälligkeiten zu entwickeln. Diese sind ebenso sorgfältig zu überprüfen wie der Verdacht des sexuellen Missbrauchs. Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft bei Verdacht auf sexuelle Gewalt Die Zusammenarbeit mit der Polizei muss in jedem Einzelfall sorgsam abgewogen werden. Sollte die Polizei beratend angefragt werden, muss auf eine Anonymisierung der Daten geachtet werden. Eine Datenweitergabe löst auf jeden Fall Ermittlungen aus - die Polizei muss gemäß des Legalitätsprinzips tätig werden. Es besteht die Gefahr, dass potenzielle Opfer als Zeugen befragt werden, die noch nicht zur Aussage bereit oder in der Lage sind, und ein Strafverfahren mangels Beweise eingestellt werden muss. Gerade bei den in letzter Zeit bekannt gewordenen Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch im Netz können polizeiliche Ermittlungen dringend geboten sein. Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass die Dauer der polizeilichen 260 uj 6 | 2020 Interventionen des ASD bei sexueller Gewalt Ermittlungen zu Schwierigkeiten für den gesamten Klärungsprozess führen können. Wenn es nicht gelingt, ein zeitlich abgestimmtes und zügiges Vorgehen zu erreichen, z. B. die Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen keine zeitnahe Hausdurchsuchung machen kann oder will, muss der ASD abwägen, in welcher Weise er den Schutzauftrag für die betroffenen Kinder wahrnehmen kann. Ein zentraler Abwägungsgesichtspunkt ist eine Strafanzeige, wenn betroffene Kinder oder Jugendliche dies nicht wünschen. Eine Nichtberücksichtigung dieses Wunsches, z. B. im Bestreben, weitere potenzielle Taten zu verhindern, kann für die Betroffenen einen erneuten Übergriff darstellen. Zudem besteht das oben genannte Risiko, dass diese Kinder oder Jugendlichen dann nicht aussagen und so Strafverfahren scheitern. Abfrage bei der Staatsanwaltschaft Die Fachkräfte des ASD haben die Möglichkeit bei der Staatsanwaltschaft anzufragen, ob und ggf. welche Erkenntnisse dort über Erziehungspersonen bzw. Kontaktpersonen des Kindes in häuslicher Gemeinschaft vorliegen, die aus Sicht der Staatsanwaltschaft auf eine erhebliche Gefährdung Minderjähriger i. S. der Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen (MiStra, Nr. 35) in Verbindung mit § 17 Nr. 5 des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz (EG- GVG) hindeuten. Dokumentation Alle Fakten, Beobachtungen und alle getroffenen Entscheidungen, ihre Begründungen sowie die den Entscheidungen zugrunde liegenden Äußerungen von Kindern, Eltern und anderen Personen sind nachvollziehbar schriftlich festzuhalten. Aussagen des Kindes oder der Jugendlichen zu einem erfahrenen sexuellen Missbrauch sind sehr genau zu verschriftlichen, wenn möglich wörtlich unter Angabe des jeweiligen Datums. Die Sicherung von Informationen und Aussagen ist wichtig für ein Gesamtverständnis und dient auch als Beweismaterial, falls es aufgrund der geltenden Verjährungsfristen zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Strafverfahren kommt. Beteiligung von Eltern an der Gefährdungseinschätzung Der gesetzliche Schutzauftrag sieht vor, dass die Personensorgeberechtigten, die Kinder oder Jugendlichen an der Gefährdungseinschätzung, Diagnostik und Hilfeplanung beteiligt werden sollen, es sei denn, der Schutz des betroffenen Kindes oder Jugendlichen wird hierdurch gefährdet (§8a SGBVIII). Der richtige Zeitpunkt der Elternbeteiligung hängt davon ab, wie konkret der Verdacht ist, gegen wen sich der Verdacht richtet, welche Rolle die Eltern beim vermutlichen Missbrauch einnehmen und wie ihre Beziehung zu dem Kind ist. Außerdem muss ein Gespräch mit den Eltern über den Verdacht des sexuellen Missbrauchs sehr gut vorbereitet werden. In der Phase des ersten Verdachts wird es eher nicht möglich sein, die Eltern auf die Vermutungen anzusprechen, besonders dann, wenn der Verdacht sich gegen ein Familienmitglied richtet. Nicht nur das betroffene Kind und die missbrauchende Person, sondern meist auch der nicht missbrauchende Elternteil und die Geschwister unterliegen - besonders bei innerfamiliären Missbrauch - den Mechanismen der Geheimhaltung und Verleugnung. Aber auch bei Missbrauchsverdacht im sozialen Nahfeld oder in Institutionen muss das Risiko, dass die Äußerung des Missbrauchsverdachtes gegenüber den Eltern eine weitere Aufklärung erschwert oder unmöglich macht, abgewogen werden. Eine vorzeitige Konfrontation der Eltern mit dem Verdacht kann dazu führen, dass beispielsweise das Kind aus der Kindertagesstätte oder der Schule abgemeldet und in eine andere Einrichtung umgemeldet oder auf andere Weise noch stärker isoliert wird. Die Möglichkeiten, 261 uj 6 | 2020 Interventionen des ASD bei sexueller Gewalt mit dem Kind in einem engen Austausch zu bleiben und es zu schützen, können dadurch stark eingeschränkt werden. Beteiligung der betroffenen Kinder Kinder sind gemäß § 8 SGB VIII bei allen sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen. Sie haben einen Anspruch auf Aufklärung über ihre Rechte und im Not- und Konfliktfall einen eigenständigen Beratungsanspruch ohne Kenntnis der Sorgeberechtigten. Bei der Gefährdungseinschätzung sowie bei der Auswahl von Hilfen sind Minderjährige entsprechend ihrem Alter, ihrer Reife und ihrer Persönlichkeitsentwicklung einzubeziehen. Kinder sollten über die Bezugsperson, der sie sich anvertraut haben, über das weitere Verfahren informiert werden. Kinder sind sehr glaubwürdige Zeugen und ihre Aussagen über sexuelle Gewalterfahrungen entsprechen nahezu immer der Wahrheit (vgl. Enders 2011, 197). Berichten Mädchen und Jungen über erlebte sexuelle Übergriffe, ist je nach Alter mit ihnen gemeinsam zu klären, wie Schutz und Unterstützung für sie/ ihn aussehen sollte. Kooperation im Helfersystem Der Schutz vor weiterer sexueller Gewalt erfordert in der Regel eine Vielzahl von unterschiedlichen Hilfen für das Kind und andere Familienmitglieder. Oft werden unterschiedliche Kompetenzen (sozialpädagogische, erzieherische, psychologische, rechtliche und/ oder medizinische) benötigt. Jede Berufsgruppe und Institution hat ihre spezifischen Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten, die häufig erst in einer abgestimmten Kooperation einzelner Handlungsschritte ihre Wirkung entfalten können. Für die Hilfeplanung und die Intervention ist deshalb eine verbindliche und multiprofessionelle Kooperation unerlässlich. Es sind alle Einrichtungen, die mit dem Kind und der Familie zu tun haben und die für die Intervention benötigt werden, in den Hilfeprozess einzubeziehen. An dieser Stelle ist eine verbindliche Vereinbarung zur weiteren Kooperation notwendig. Es ist wichtig sich bewusst zu machen, dass die Klärung des Verdachts längere Zeit in Anspruch nehmen kann und ein häufigerer fachlicher Austausch benötigt wird. Deshalb ist es sinnvoll, Aufgaben präzise zu verteilen, Ergebnisse zu dokumentieren und ggf. erneute Treffen zu planen. Planung des weiteren Vorgehens Zeichnet sich ein deutlich werdender Verdacht ab, wird eine weitere Fallbesprechung mit anderen Fachdiensten nötig sein, um Möglichkeiten der Hilfe für das Kind zu erörtern und zu entwickeln. Die Unterstützung für Elternteile, die bereit und in der Lage sind, ihr Kind zu schützen, sollte frühzeitig eingeplant werden. Der Verdacht erhärtet sich nicht Ergebnis des Klärungsprozesses kann sein, dass nach eingehender, wiederholter Prüfung aller vorliegenden Hinweise sich ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch nicht bestätigen lässt. Es ist wichtig, dieses Ergebnis im Zusammenwirken der beteiligten Fachkräfte abzustimmen. Diese Entscheidung sollte auf keinen Fall zu früh getroffen werden, denn oft dienen andere Familienthemen als „Nebenschauplätze“, um von dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs abzulenken. In jedem Fall gilt es, die beobachteten Auffälligkeiten ernst zu nehmen und als Hinweise auf andere Probleme des Kindes oder eine Krise in der Familie zu verstehen, die möglicherweise anderweitige Hilfestellungen erfordern. Der Verdacht erhärtet sich Von einem erhärteten Verdacht kann dann gesprochen werden, wenn Kinder oder Jugendliche eindeutige Angaben zum Geschehen machen, es medizinische Befunde, Foto- oder Filmmaterial gibt und andere Ursachen für das 262 uj 6 | 2020 Interventionen des ASD bei sexueller Gewalt Verhalten des Kindes weitgehend ausgeschlossen werden können. Die Koordination des Fallgesprächs zur Entwicklung der weiteren Vorgehensweise ist Aufgabe der fallzuständigen Fachkraft im ASD. Zu diesem Zeitpunkt geht es darum, die neu hinzugekommenen Informationen und Einschätzungen zusammenzufassen und gemeinsam zu bewerten. Wichtig ist die gemeinsame Planung der nächsten Interventionsschritte. Intervention und Hilfeplanung Nachdem sich der Verdacht auf sexuellen Missbrauch bestätigt hat, muss die weitere Vorgehensweise sorgfältig geplant werden. Es soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass jeder Fall in seiner Dynamik anders und es deshalb sehr wichtig ist, flexibel zu bleiben und Ruhe zu bewahren. Im Rahmen der Planung der Intervention ist zu klären, wer in welcher Rolle bei der Durchführung beteiligt wird. Schutzkonzept Bevor die Konfrontation der beschuldigten Person erfolgen kann, ist der weitere Schutz des betroffenen Kindes zu klären: ➤ Wer bleibt in Kontakt mit dem betroffenen Kind oder Jugendlichen und informiert es einerseits altersangemessen über den Hilfeprozess und transportiert andererseits die Ängste und Wünsche des Kindes oder Jugendlichen in das Hilfeteam? Dies sollte nach Möglichkeit eine Person sein, die dem Kind bereits vertraut ist und der es sich offenbart hat, ggf. mit fachlicher Beratung und Unterstützung durch eine spezialisierte Fachkraft. ➤ Wer kann den Schutz des Kindes gewährleisten? (Eltern? Mutter? Vater? Ältere Geschwister? Tanten? andere Verwandte? ) ➤ Kann das Kind in seinem gewohnten Umfeld bleiben oder muss zu seinem Schutz ein anderer Lebensort gefunden werden? ➤ Sind Spuren zu sichern und ist deshalb eine rechtsmedizinische Untersuchung durchzuführen? ➤ Welche weiteren unterstützenden Hilfen benötigt das betroffene Kind? ➤ Auf welche Weise sind die Geschwisterkinder in das Schutzkonzept einzubeziehen? Zusammenarbeit mit dem Familiengericht/ Inobhutnahme Wenn Mädchen oder Jungen sich einer Fachkraft des Jugendamtes mit Hinweisen zu sexuellem Missbrauch anvertrauen und um Schutz bitten, sind sie in Obhut zu nehmen und geschützt unterzubringen. Die Eltern sind hierüber umgehend zu informieren, wobei der Aufenthaltsort nicht genannt werden muss. (§ 42 SGB VIII) Wenn sich der Missbrauchsverdacht erhärtet hat, ist zu prüfen, ob es notwendig ist, das Familiengericht gem. § 8 a SGB VIII einzubeziehen und eine Einschränkung der elterlichen Sorge oder (weitere) Schutzanordnungen gemäß § 1666 BGB z. B. Kontakt- und Näherungsverbote zu beantragen. Wird die Gefahr als so akut eingeschätzt, dass eine Entscheidung des Familiengerichts nicht abgewartet werden kann, kann ein Kind oder Jugendlicher zu seinem Schutz gem. § 42 SGB VIII in Obhut genommen werden. Es muss umgehend mit den Eltern oder Elternteilen gesprochen werden, um zu klären, ob sie der Inobhutnahme zustimmen oder das Kind oder der/ die Jugendliche anderweitig geschützt werden kann. Widersprechen die Eltern der Inobhutnahme, muss umgehend das Familiengericht informiert werden. Arbeit mit den nicht missbrauchenden Eltern(teilen) Bei innerfamiliärem sexuellem Missbrauch muss sorgfältig abgewogen werden, ob und wie der nicht missbrauchende Elternteil in die Interventionsplanung einbezogen werden 263 uj 6 | 2020 Interventionen des ASD bei sexueller Gewalt kann. In Einzelkontakten muss vorsichtig versucht werden einzuschätzen, ob es eine Bereitschaft gibt, dem Kind zu glauben und es zu unterstützen. Da diese Problematik sehr schwerwiegende Dynamiken in Gang setzen kann, braucht dieser Prozess in aller Regel Zeit, insbesondere wenn eine starke Abhängigkeit vom misshandelnden Elternteil besteht. Dabei ist nicht zu unterschätzen, welche starken Erschütterungen bei Müttern oder Vätern die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs ihres Kindes auslösen kann. Es ist im Hilfeteam zu klären, wer die Beratung von nicht missbrauchenden Elternteilen übernehmen kann. Ist die Einschätzung über den nicht missbrauchenden Elternteil eher unsicher oder so, dass nicht von einer Unterstützung auszugehen ist, sollte er auch nicht vorher einbezogen werden. Bei außerfamiliärem sexuellem Missbrauch sind je nach familiärer Situation beide Elternteile in die Beratung einzubeziehen. Mit ihnen ist zu besprechen, wie sie ihr Kind in dieser Situation schützen und unterstützen können. Dabei sollte die Beratung in einer spezialisierten Beratungsstelle empfohlen werden, auch um eigene Gefühle, Fantasien und Ängste zu bearbeiten und einen angemessenen Umgang damit zu entwickeln. Es gibt jedoch auch Situationen, in denen Eltern auf unterschiedliche Weise in einen außerfamiliären sexuellen Missbrauch oder Missbrauch in Institutionen verstrickt sein können. Manchmal bestehen z. B. sehr enge nachbarschaftliche Beziehungen zu oder Abhängigkeiten von der missbrauchenden Person, sodass Eltern nicht in der Lage sind, den Schutz ihrer Kinder verantwortlich zu übernehmen. Überdies ist Eltern, die eigene schwerwiegende soziale und psychische Probleme haben, häufig der Blick auf Notlagen ihrer Kinder verstellt. Es kann aber auch sein, dass Kinder, die Opfer von außerfamiliärem sexuellem Missbrauch geworden sind, schon Missbrauchserfahrungen in der eigenen Familie machen mussten und deshalb das Sprechen darüber in der Familie stark tabuisiert ist. Handelt es sich um außerfamiliären sexuellen Missbrauch, ist vor dem Konfrontationsgespräch unbedingt zu klären, ob ➤ weitere Kinder sexuell missbraucht werden bzw. wurden. ➤ es ein Schutzkonzept für alle betroffenen Kinder/ Jugendlichen gibt. ➤ eine überregionale Koordination des Falls eingerichtet werden muss. ➤ Eltern informiert, einbezogen und bereit sind, ihre Kinder zu unterstützen. ➤ eine Kooperation mit dem zuständigen Landeskriminalamt erfolgen sollte. ➤ eine Strafanzeige gestellt werden soll, und wer für Kontakte zu der Polizei zuständig sein soll. ➤ Schutzanordnungen, z. B. Näherungs- und Kontaktverbote, notwendig sind. Konfrontation mit Missbrauchsgeschehen Die Konfrontation der vermutlich missbrauchenden Person mit dem Verdacht des innerfamiliären sexuellen Missbrauchs sollte erst dann erfolgen, wenn die Fachleute sich sicher sind, dass es sich um einen begründeten Verdacht handelt. Auf der Grundlage der bisher gewonnenen Informationen und Eindrücke wird die beschuldigte Person in sachlicher Form mit den Beobachtungen und Experteneinschätzungen konfrontiert. In der Regel sollte dieses Gespräch von Fachkräften des ASD geführt werden, ggf. in Kooperation mit den bezirklichen Kinderschutzkoordinator*innen. Zu diesem Anlass sollte eine Reihe von Punkten vorher geklärt sein: ➤ Sind alle Beobachtungen, Informationen, Aussagen des Kindes, Einschätzungen, die den Verdacht erhärten, zusammengetragen und dokumentiert? 264 uj 6 | 2020 Interventionen des ASD bei sexueller Gewalt ➤ Wo kann das Kind bzw. die/ der Jugendliche ggf. vorübergehend untergebracht werden? Ist das Kind auf eine (zumindest zeitweilige) Trennung vorbereitet? ➤ Was wollen die Geschwisterkinder und was geschieht mit ihnen? ➤ Welche Alternativen können dem nicht missbrauchenden Elternteil angeboten werden? ➤ Im Gespräch mit der missbrauchenden Person ist zu klären, inwieweit sie bereit ist, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und das betroffene Kind zu schützen. ➤ Welche beraterischen bzw. therapeutischen Angebote können der missbrauchenden Person im Fall von Verantwortungsübernahme gemacht werden? Kann ihm/ ihr zumindest eine verbindliche Ansprechperson genannt werden? ➤ Ist die missbrauchende Person bereit, die gemeinsame Wohnung zu verlassen, damit das Kind in seinem gewohnten Umfeld bleiben kann? ➤ Leugnet der/ die Missbraucher*in den sexuellen Missbrauch oder bagatellisiert ihn? ➤ Wird versucht Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Kindes oder Jugendlichen zu erzeugen? Weitere Arbeit mit den Beteiligten Die Arbeit mit der Familie sollte nach einer erfolgten Intervention aufmerksam fortgeführt werden. Die Auswirkungen von sexueller Misshandlung auf alle Beteiligten des Familiensystems und darüber hinaus sind immens und ohne fachliche Unterstützung und Begleitung oft nicht zu bewältigen. Viele Familien - insbesondere die betroffenen Kinder - haben den Wunsch, möglichst schnell zur „Normalität“ zurückzukehren und das Geschehene zu „vergessen“. Aus diesem Grund werden insbesondere Beratungs- und Therapieangebote für Kinder oder Jugendliche oft nicht oder nur sehr begrenzt genutzt. Die Folgen eines sexuellen Missbrauchs für das weitere Leben sind in aller Regel sehr schwer wiegend und umso gravierender, wenn ein Tabu daraus gemacht wird. Deshalb benötigen alle Familienmitglieder Hilfe und Unterstützung, um zu lernen, über den Missbrauch zu sprechen, achtsam miteinander umzugehen und dann auch wieder neue Perspektiven entwickeln zu können. Auch das noch so sorgfältige Vorgehen verhindert nicht, dass ein Verdacht sexueller Gewalt im Einzelfall nicht aufzuklären ist. Dies bedeutet für Fachkräfte eine hohe emotionale Belastung. Um mit diesen Belastungen professionell umgehen zu können, halten wir eine gute Kooperation im Team, aufmerksame Leitungskräfte und Einzelfallsupervision und/ oder Fachberatung in diesen Situationen für notwendig. Uta Becker Uta.Becker@eimsbuettel.hamburg.de Gabriele Fuhrmann Gabriele.Fuhrmann@eimsbuettel.hamburg.de Literatur Enders, U. (Hrsg.) (2011): Zart war ich, bitter war’s. Handbuch gegen sexuellen Missbrauch. 4. Aufl. Kiepenheuer und Witsch, Köln Freie und Hansestadt Hamburg (2013): Handlungsorientierung zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch, Hamburg. In: www.hamburg.de/ kinderschutz, 10. 3. 2020 Münder, J., Meysen, T., Trenczek, T. (2013): Kommentar SGB VIII, 7. Aufl. Nomos, Baden-Baden Unterstaller, A. (2006): Wie kann ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch abgeklärt werden? In: Kindler, H., Lillig, S., Blüml, H. Meysen, T., Werner, A. (Hrsg.): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und der Allgemeine Soziale Dienst (ASD), 69. DJI, München, www.dji.de/ asd, 10. 3. 2020