unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Rechte von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien stärken
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2020
Laura Husmann
Tanja Rusack
Wolfgang Schröer
Meike Kampert
Mechthild Wolff
Schutzkonzepte sollen die persönlichen Rechte von jungen Menschen im institutionellen Gefüge des Aufwachsens stärken. Sie sind häufig auf Organisationen zugeschnitten und in der Pflegekinderhilfe bis dato nicht entsprechend etabliert. Nachfolgend werden Schutzkonzepte als „Seismografen“ zur Stärkung höchstpersönlicher Rechte junger Menschen vorgestellt.
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273 unsere jugend, 72. Jg., S. 273 - 280 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art43d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Rechte von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien stärken Herausforderungen für Schutzkonzepte in der Infrastruktur der Pflegekinderhilfe Schutzkonzepte sollen die persönlichen Rechte von jungen Menschen im institutionellen Gefüge des Aufwachsens stärken. Sie sind häufig auf Organisationen zugeschnitten und in der Pflegekinderhilfe bis dato nicht entsprechend etabliert. Nachfolgend werden Schutzkonzepte als „Seismografen“ zur Stärkung höchstpersönlicher Rechte junger Menschen vorgestellt. von Laura Husmann Jg. 1988; Sozial- und Organisationspädagogin M. A. Dr. Tanja Rusack Jg. 1984; Diplom-Pädagogin Prof. Dr. Wolfgang Schröer Jg. 1967; Diplom-Pädagoge Universität Hildesheim Institut für Sozial- und Organisationspädagogik Meike Kampert Jg. 1985; Pädagogin M. A. Prof. Dr. Mechthild Wolff Jg. 1962; Erziehungswissenschaftlerin M. A. Hochschule Landshut Fakultät für Soziale Arbeit Schutzkonzepte zur Stärkung der persönlichen Rechte von jungen Menschen Seit 10 Jahren besteht eine Diskussion über die Entwicklung von Schutzkonzepten, um die persönlichen Rechte von jungen Menschen in Organisationen zu stärken. Diese Diskussion hat zu unterschiedlichen Verständnissen von Schutzkonzepten geführt. Schutzkonzepte werden vor allem als Herausforderung der Organisationskultur verstanden, die sich hin zu einer Achtsamkeit z. B. für Grenzverletzungen entwickeln soll. Es geht demzufolge um einen Organisationsentwicklungsprozess. Grenzverletzungen, sexuelle Übergriffe und sexueller Missbrauch in Einrichtungen sollen durch eine konsequente Personalverantwortung und ein präventives Handeln in Einrichtungen begegnet werden (Enders 2012). Entsprechend werden Schutzkonzepte auch als organisationsverändernde Maßnahmen für den Kinderschutz begriffen. 274 uj 6 | 2020 Schutzkonzepte in der Pflegekinderhilfe Schutzkonzepte werden dabei auch als organisationsethische Maßnahmen und als Möglichkeit einer wertebasierten Organisationsentwicklung genutzt. Organisationen sollen sich einer wertebasierten Analyse unterziehen, um langfristig eine nachhaltige Organisationskultur („corporate sustainability“) zu etablieren (Wolff 2015). Beschwerdeverfahren werden in diesem Zusammenhang als Maßnahmen angesehen, eine Fehlerkultur in einer Organisation zu etablieren (Liebhardt 2015). In diesem Zusammenhang werden Schutzkonzepte als organisations- und professionsethische Zugänge aufgefasst. Sie sollen dazu beitragen, ein individuelles und organisationales ethisches Bewusstsein als Gegenentwurf zu institutionalisierter Macht zu etablieren (Christmann/ Watzlawik 2019). In eine ähnliche Richtung verweist die Vorstellung, dass Schutzkonzepte eine Möglichkeit bieten, um professionelle Beziehungsarbeit sicherzustellen. Mittels Schutzkonzepten sollen Haltungen und Praktiken in Organisationen in Bezug auf „sichere“ pädagogische Beziehungen weiterentwickelt werden (Iwers 2017). Darüber hinaus versteht der unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) Schutzkonzepte als institutionelle Kinderschutzmaßnahme zur Prävention vor sexuellem Kindesmissbrauch. Institutionen sollen sich dabei zu Schutz- und Kompetenzräumen entwickeln und geschützte und sichere Orte für junge Menschen vorhalten. Grundlage sind hier fachpolitisch ausgehandelte Mindeststandards (Kappler et al. 2018). In eine ähnliche Richtung verweist die Argumentation, dass die Implementierung präventiver Kinderschutzstrukturen nur durch eine Sensibilisierung und Qualifizierung aller Beteiligten mittels Beratung von Organisationen und Organisationsentwicklung zu erzielen ist (Eberhardt/ Naasner/ Nitsch 2016). Im Rahmen verschiedener vom BMBF geförderten Forschungsprojekte der Universität Hildesheim, der Hochschule Landshut und des Universitätsklinikums Ulm wurden Schutzkonzepte als Seismografen für die Achtung unveräußerlicher persönlicher Rechte von jungen Menschen in Organisationen diskutiert. Schutzkonzepte stellen hier andauernde und kontinuierliche Reflexionsprozesse im Rahmen einer partizipativen Organisationsentwicklung dar. Maßnahmen der Analyse, Prävention, Intervention und Aufarbeitung werden etabliert, um zur Sicherstellung der persönlichen Rechte von jungen Menschen beizutragen. Als grundlegende Zugänge zur Stärkung persönlicher Rechte gelten „Voice-“, „Choice“- und „Exit“-Optionen (in Anlehnung an Hirschmann 1970), d. h. die Zubilligung stets gehört zu werden, eine Wahlmöglichkeit zu haben und aus ungewollten Situationen stets heraustreten zu dürfen (Schröer/ Wolff 2018). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Schutzkonzepte mitunter auf die Prävention von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen verengt werden. Sie werden auch nicht immer als partizipative Entwicklungsprozesse gesehen, sondern sind vielmehr in der Gefahr, auf ein technokratisches Vorgehen („copy and paste“) mit hohen ethischen Ansprüchen verkürzt zu werden. Es zeigt sich letztlich auch, dass Schutzkonzepte bis dato lediglich auf Organisationen bezogen wurden, aber weniger auf Konstellationen, wie die Pflegekinderhilfe. Eine flächendeckende Implementierung von Schutzkonzepten in der Pflegekinderhilfe in Deutschland fehlt bisweilen und Schutzprozesse gründen sich bisher meist nur auf Einzelmaßnahmen und Einzelpersonen. Insgesamt zeigt sich, dass mögliche Krisen in der Pflegekinderhilfe nicht mitgedacht werden. Darum wird in einem nächsten Schritt ein Blick auf das Gefüge der Pflegekinderhilfe mit seinen besonderen Herausforderungen geworfen. Die Infrastruktur der Pflegekinderhilfe und ihre Bedeutung für Schutzkonzepte In Forschung und Praxis der Pflegekinderhilfe wurde in den letzten Jahren immer wieder die große Bedeutung einer verbesserten fachlichen 275 uj 6 | 2020 Schutzkonzepte in der Pflegekinderhilfe und sozialen Infrastruktur für die Arbeit der Pflegefamilien herausgestellt (Wolf 2014). Insgesamt kann die Pflegekinderhilfe als Geflecht unterschiedlicher AkteurInnen angesehen werden. Klaus Wolf (Wolf 2015, 181) stellt in der Infrastruktur die „Figuration“ von Pflegeeltern, Jugendamt, Herkunftsfamilie und Pflegekind heraus und weist damit auch auf die Wechselwirkungen, Abhängigkeiten und Machtbeziehungen hin. Betrachtet man die „Infrastruktur der Pflegekinderhilfe“, so wird deutlich, dass ganz verschiedene Organisationen und AkteurInnen zusammenwirken. Sie arbeiten mit unterschiedlichen Zugängen, sind in unterschiedlichen Graden professionalisiert und folgen entsprechend auch unterschiedlichen Handlungslogiken. In der Abbildung zur Infrastruktur der Pflegkinderhilfe steht der junge Mensch mit seinen sozialen Beziehungen und mit den unterschiedlichen Elternschaften sowie Geschwistern (in unterschiedlichen Konstellationen) im Zentrum (Abb. 1). Dabei ist dieses Beziehungsgeflecht in eine komplexe Struktur aus Gesundheits- und sozialen Diensten, Jugendämtern (Pflegekinderdienst und Allgemeiner Sozialer Dienst und Eingliederungshilfe, Vormundschaften und Pflegeelternvereinen eingebettet. Diese bewegen sich wiederum im Kontext des regulären institutionellen Gefüges des Aufwachsens. Die Pflegekinderhilfe steht dabei in einem Spannungsfeld zwischen öffentlicher Hilfe - als Hilfe zur Erziehung der Kinder- und Jugendhilfe - und familiärem Setting, das u. a. grundgesetzlich gerahmt ist. Pflegefamilien arbeiten letztlich für eine Aufwandsentschädigung. Sie leisten als Familie großes zivilgesellschaftliches Engagement. Abb. 1: Infrastruktur der Pflegekinderhilfe Elternschaft/ Kindschaft Netzwerkfamilie Pflegekind Pflegefamilie Leibliche Familie Jugendamt PKD, ASD, Vormundschaft, Adoption Soziale Dienste Beratungsstellen, freie Träger, Wohngruppen, Erziehungsstellen, betreutes Wohnen Justiz Anwaltschaft, Richter*innen, Vormundschaft, Polizei Bildung Schule, KiTa, Vereine… Gesundheitswesen Ärzt*innen, Therapeut*innen… Lobby Pflegeelternvereine, Careleaververeine Soziale und leibliche Geschwister/ Verwandte Inklusion/ gesellschaftliche Teilhabe 276 uj 6 | 2020 Schutzkonzepte in der Pflegekinderhilfe Mit der Abbildung des AkteurInnen-Netzwerks der Pflegekinderhilfe werden Herausforderungen offensichtlich, die für die Entwicklung und Implementierung von Schutzkonzepten zur Stärkung der persönlichen Rechte der jungen Menschen grundlegend sind. So müssen Schutzkonzepte in der Pflegekinderhilfe anders gedacht werden als z. B. in der stationären Kinder- und Jugendhilfe, weil Pflegefamilien keine professionellen Organisationen darstellen (Wolf 2014). Wie Pflegeeltern und junge Menschen in Pflegefamilien ihre eigene Situation in dieser Infrastruktur wahrnehmen, wurde im Rahmen des Projekts FosterCare näher betrachtet. Perspektiven junger Menschen und von Pflegeeltern Dieser Beitrag hebt einige zentrale Ergebnisse aus dem Verbundprojekt FosterCare aus den qualitativen Erhebungen mit den jungen Menschen und den Pflegeeltern hervor. In den Analysen zeigt sich, dass es strukturelle Ambivalenzen gibt, die in der Pflegekinderhilfe angelegt sind, die durch die Infrastruktur der Pflegekinderhilfe bearbeitet werden müssen und für Schutzkonzepte grundlegende Ausgangskonstellationen darstellen. Junge Menschen Im Projekt FosterCare wurden am Standort Hildesheim Interviews und Gruppendiskussionen mit jungen Menschen geführt, die aktuell in einer Pflegefamilie leben oder eine Zeit lang dort gelebt haben. Die jungen Menschen waren zwischen 12 und 34 Jahren alt, wobei der Altersdurchschnitt bei 17 Jahren lag. Dabei wurden von den jungen Menschen viele positive Erfahrungen in den Pflegefamilien dargelegt. Im Folgenden wird aber der Fokus auf kritische Punkte in der Infrastruktur der Pflegekinderhilfe gerichtet, die ebenfalls genannt wurden und für die Entwicklung von Schutzkonzepten relevant sein können. Gerade für eine Kultur der Achtsamkeit können auch einzelne kritische Positionierungen sensibilisierende Zugänge ermöglichen, die auf krisenhafte Konstellationen hinweisen. Die Auflistung charakterisiert dabei nicht die Arbeit der Pflegekinderhilfe insgesamt, sondern öffnet allein den Blick für Strukturherausforderungen oder Ansatzpunkte von Schutzkonzepten. Betrachtet man Partizipationsmöglichkeiten, so werden weitere strukturelle Herausforderungen deutlich. Beispielsweise dabei, dass junge Menschen als einzelne Personen in einer Pflegefamilie ‚untergebracht‘ werden und nicht als Gruppe. Diese Unterbringungsform hat in vielerlei Hinsicht für die jungen Menschen Vorteile, ermöglicht ihnen aber weniger, sich selbst mit anderen jungen Menschen, die in einer ähnlichen Lebenssituation leben, zu organisieren. So gibt es z. B. zu Heimräten in der Pflegekinderhilfe kein Pendant, in denen sich junge Menschen organisiert eine Stimme verleihen und ihre Rechte stärken können. Darüber hinaus wird von einigen jungen Menschen herausgestellt, dass sie zu wenig Wissen über die Strukturen und die Verfahren innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe haben. Dies wird auch im Hinblick auf das Wissen über ihre persönlichen Rechte erkennbar: „Wir Kinder werden zu wenig gehört. Also, wenn wir was sagen, dann läuft das immer alles über drei Ecken und ich finde, wir haben zwar offiziell Rechte, aber so wirklich sagt uns keiner, was unsere Rechte sind.“ Dass Verfahren in der Infrastruktur der Pflegekinderhilfe den jungen Menschen nicht immer transparent sind, zeigt sich auch daran, dass einige junge Menschen mitunter keine klaren Ansprechpersonen außerhalb der Pflegefamilien benennen können und auch Hilfeplangespräche ihrer Wahrnehmung nach nur selten stattfinden oder von einigen gar nicht als Orte erlebt werden, in denen es um ihren Alltag und ihre Zukunft geht: „… ich glaube einmal im Jahr oder so kommt eine Frau, die dann entscheidet, wie es weitergeht“. 277 uj 6 | 2020 Schutzkonzepte in der Pflegekinderhilfe Zudem wurden von einigen jungen Menschen die Erfahrungen innerhalb der Pflegefamilie in erster Linie vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der leiblichen Familie reflektiert und mitunter relativiert. Das heißt die subjektive Einschätzung der Lebensqualität innerhalb der Pflegefamilie wird im Vergleich zu dem Erlebten in der sog. Herkunftsfamilie gesehen. Dies birgt jedoch die Gefahr, dass Umstände, die von den jungen Menschen in der Pflegefamilie als belastend oder krisenhaft erlebt werden, durch diesen Vergleich abgeschwächt werden oder nicht ernst genug genommen werden können. Gleichzeitig kommt es vereinzelt auch vor, dass junge Menschen berichten, dass sie lange Zeit gar nicht wussten, dass sie ein Kind in Pflege seien. Außerdem berichten einige - wenn sie ihre Position reflektieren - über eine Unsicherheit bzgl. des Bleiberechts in der Pflegefamilie und damit verbunden über eine diffuse Angst eines erneuten Beziehungsabbruchs sowie einer möglichen Platzierung in einer Wohngruppe. Dies führt dazu, dass die jungen Menschen berichten, dass sie das Gefühl hätten, einem Anpassungsdruck zu unterliegen, und sie weniger gemeinsam Regeln aushandeln können: „Sich anstrengen dann nicht wieder rauszufliegen. Sich anpassen.“ Die jungen Menschen beschreiben so Ambivalenzen in ihrem Normalitätserleben (Reimer 2017), die vielfach strukturell durch die Anlage der Pflegekinderhilfe bedingt sind. So wünschen sich viele der jungen Menschen Teil einer „normalen Familie“ und damit „normal zu sein“ (was auch immer dies genau bedeutet). Zum anderen ist ihnen immer wieder präsent, was in ihrem Leben und ihrer Biografie „anders“ ist. Dirk Schäfer konstatiert diesbezüglich auch, dass „Pflegekinder […] sich in einem besonderen Spannungsfeld [befinden], da ihre Entwicklung zwischen den Bräuchen und Lebensstilen von mindestens zwei häufig sehr unterschiedlichen Familien stattfindet“ (Schäfer 2011, 68). Für die Entwicklung von Schutzkonzepten bedeutet dies, dass mit den jungen Menschen ausgehend von diesen Ambivalenzen Zugänge gefunden werden müssen, um die Achtsamkeit gegenüber den Rechten der jungen Menschen zu erhöhen. Entscheidend erscheint somit, wie diese Ambivalenzen in der Infrastruktur der Pflegekinderhilfe bearbeitet und wie die jungen Menschen in diesen Konstellationen in ihren persönlichen Rechten geschützt werden und es ihnen ermöglicht wird, ihre persönlichen Rechte z. B. in der Hilfeplanung zu kennen und transparent wahrzunehmen. Sie sollten nicht, wie einige junge Menschen es empfinden, der individuellen Bewältigung der jungen Menschen selbst überlassen bleiben. Pflegeeltern Wie bei den Erhebungen mit jungen Menschen zeigen sich auch in den Gruppendiskussionen mit Pflegeeltern Normalitätsvorstellungen und -bestrebungen. Am Projektstandort Landshut wurden sechs Gruppendiskussionen mit insgesamt 32 Pflegeeltern (Durchschnittsalter 49,7 Jahre, mehrheitlich Betreuung eines bzw. mehrerer jungen/ r Menschen in Vollzeitpflege) durchgeführt und ausgewertet. Die Ergebnisauswertung zeigt, welche große Bedeutung die Herstellung bzw. Gestaltung von einer Pflegefamilie als eine (normale) Familie für die Pflegeeltern einnimmt. Die Herstellung einer Familie und eines geregelten Familienalltags betrachten die Pflegeeltern als einen ausschlaggebenden Schutz- und Sicherheitsfaktor für die jungen Menschen. Damit die Beziehung zu den jungen Menschen gelingt, sie sich aufgehoben in der Familie fühlen, ist aus Sicht der Pflegeeltern Authentizität und der Aufbau von emotionaler Nähe grundlegend. Dies wird als wichtiges Qualitätskriterium für eine gelingende Beziehung zu den jungen Menschen gerahmt: „Es ist das Wichtigste, denen am Anfang Geborgenheit und Liebe zu geben, und die Kinder spüren das, ob das ehrlich ist.“ Dabei fällt auf, dass einige Diskussionsteilnehmende ihre Rolle als Pflegeeltern sowie das Thema Nähe - Distanz durchaus in der Ambivalenz reflektieren. „Für die bin ich wirklich so was ÄHN- 278 uj 6 | 2020 Schutzkonzepte in der Pflegekinderhilfe LICHES wie eine Mama, obwohl MIR bewusst ist, dass (…) ich EIGENTLICH, so wie man es auch mit Jugendlichen eher handhabt, eher so Wegbegleiter bin.“ (Großschreibung bedeutet Betonung) Deutlich wird in vielen Gruppendiskussionssequenzen außerdem, dass aus der Perspektive der Pflegeeltern die Pflegefamilie sorgende Funktionen übernimmt, die in der Herkunftsfamilie anscheinend nicht erfüllt wurden. Dabei nehmen viele Diskussionsteilnehmende eine deutliche Abgrenzung zur Herkunftsfamilie vor: Alltägliche Bedürftigkeiten in der Sozialintegration der jungen Menschen werden hervorgehoben und durch Fokussierungsmetaphern wie „wir lieben dich ins Leben hinein“ und „man führt sie ins Leben ein“ präzisiert. Für die Pflegeeltern spielt die Integration ihrer Pflegekinder als gleichberechtige Mitglieder in die gesamte Familie eine zentrale Rolle, um ein „Wir-Gefühl“ zu erzeugen. Die Gleichstellung und -behandlung von leiblichen Kindern und Pflegekindern wird dabei in vielen Gruppendiskussionen verhandelt: „… umso normaler das Familienleben abläuft, also sie gleichgestellt sind mit den leiblichen Kindern, (…) sie MITsprechen können (…), umso mehr sie sich integriert fühlen, ich glaube, umso besser fühlen sie sich aufgehoben und eben behütet.“ Die Herstellung familiärer Zugehörigkeit und Identität geschieht zudem über die Suche nach Gemeinsamkeiten: „Wir haben zum Beispiel BEI- DE einen Leberfleck und sie hat blaue Augen wie ich und unsere eigene Tochter hat braune wie mein Mann. (…). Also sie SUCHT dann auch solche Sachen.“ Über dieses „displaying family“ (Finch 2007) wird eine gemeinsame (Familien-) Identität (bewusst) entwickelt, die sowohl nach „innen“ gerichtet als auch nach „außen“ inszeniert wird: „(…) wenn wir wohin gehen oder so, stellt sie uns als ihre Eltern vor“. Gleichzeitig sehen sich viele Pflegeeltern häufig mit dem negativen Bild, das die Gesellschaft und Personen in Institutionen (z. B. Schule) von Pflegekindern haben, konfrontiert und wollen ihre Pflegekinder vor Stigmatisierungen schützen: „Früher habe ich immer gedacht, es ist GUT, das zu erzählen, weil die Leute dann Verständnis haben oder sich was vorstellen können. Aber das stimmt überhaupt nicht. Das ist GENAU das GEGENTEIL (…). Das ist immer zum Schaden von dem Kind. Also das mache ich nicht mehr.“ Betrachtet man die dargestellten Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen mit Pflegeeltern insgesamt, offenbart sich, mit welchen Herausforderungen, Ambivalenzen und Erwartungshaltungen sich Pflegeeltern im (Pflege-)Familienalltag auseinandersetzen müssen und welche zivilgesellschaftlichen Leistungen sie erbringen. Dass Familie (d. h. auch Pflegefamilie) nicht per se gegeben, sondern eine gemeinsame Gestaltungsleistung aller Beteiligter ist, wird in der Familienwissenschaft unter den Begriff „Doing Family“ gefasst (Jurczyk 2014). „Doing Family“ ist ein Konzept, in dem Familie „nicht mehr nur als ein selbstverständlicher Zustand und als gegebene Struktur gesehen [wird], sondern als eine Lebensform, die auf der Basis von alltäglichen Fürsorgeleistungen und in Interaktionen ,hergestellt‘ werden muss“ (Helming 2011, 229). Es ist davon auszugehen, dass sich die Herstellungsleistung von Familie für alternative Familienformen wie z. B. Pflegefamilien, die nicht der sozio-biologischen Norm entsprechen, anders bzw. herausforderungsvoller gestaltet (ebd.). Sie „bedürfen in besonderer Weise dieser expliziten Konstruktion von Gemeinsamkeit und Herstellung von Identifikation mit einem ,Wir‘“ (ebd., 229), wie auch die dargestellten Ergebnisse in diesem Beitrag zeigen. Setzt man die Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen mit Pflegeeltern in den Kontext von Schutzkonzepten in der Pflegekinderhilfe, so lassen sich auch verschiedene strukturelle Ambivalenzen und Herausforderungen ableiten. „Doing Family“ in Pflegefamilien fordert Pflegeeltern viele emotionale und soziale Eigenleistungen ab, denn sie müssen sich stets selbst als Pflegeeltern immer wieder (neu) verorten gegenüber den Pflegekindern und den möglichen eigenen Kindern. Die stete Regulation von 279 uj 6 | 2020 Schutzkonzepte in der Pflegekinderhilfe Nähe und Distanz muss in den vielfältigen Beziehungen immer wieder neu gestaltet, hinterfragt und (neu) hergestellt werden. Mit den jungen Menschen, die häufig sehr vulnerable Lebenskonstellationen zu bewältigen haben, stellt dies hohe Anforderungen an Pflegeeltern. Weiterhin können eigene Rollenerwartungen und -wünsche der Pflegeltern (z. B. Pflegefamilie als normale Familie) gesellschaftlichen und v. a. auch behördlichen Rollenerwartungen (Pflegefamilien als DienstleisterInnen, öffentliche Familie etc.) ambivalent gegenüberstehen, was zu Konflikten und Missverständnissen führen kann (Wolf 2014). Das Bestreben der Pflegeeltern Familien zu leben und den jungen Menschen einen sicheren Ort des Aufwachsens als Hilfe zur Erziehung zu bieten, kann einen hohen Leistungsdruck und wahrgenommenen Rechtfertigungszwang erzeugen. Weiterhin sehen sich die Pflegeeltern unter einem Legitimationsdruck nach außen. Die häufig in den Gruppendiskussionen der Pflegeeltern vorgenommene Dichotomisierung von der Pflegefamilie als „die gute Familie“ und der Herkunftsfamilie als „die schlechte Familie“ birgt zudem das Risiko, Fehler und Verletzungen von persönlichen Rechten der jungen Menschen nicht wahrzunehmen oder aufgrund des Selbstbildes „Wir sind Schutz! “ nicht thematisieren zu können. Fazit In der Pflegekinderhilfe, die sich in einem besonderen Spannungsfeld der verschiedenen Beteiligten bewegt, werden Ambivalenzen auf unterschiedlichen Ebenen deutlich, die strukturell in der Pflegekinderhilfe angelegt sind und durch die Infrastruktur bearbeitet werden müssen. Einige dieser zentralen Ambivalenzen wurden auf der Ebene der jungen Menschen und der Pflegeeltern aufgezeigt und gegenübergestellt. Zu häufig müssen die jungen Menschen und die Pflegeeltern, so unsere Auswertungen, diese Ambivalenzen allein bewältigen. Für Pflegeltern sowie für junge Menschen bestehen Hinderungsgründe Unterstützungsangebote wahrzunehmen und Beschwerdeverfahren zu nutzen: ➤ Für Pflegeeltern können dies die Normalitätsbestrebungen und eigenen Rollenerwartungen im Hinblick auf die Familie, die sie für die jungen Menschen, die Gesellschaft und ihre leiblichen Kinder sein wollen, sein. ➤ Für die jungen Menschen sind die Unsicherheiten in Bezug auf ihre Rechte, die Verfahren und das Bleiberecht in der Pflegefamilie und ihren Status als „Pflegekind“ relevant. Dies verdeutlicht, dass die Stärkung der Rechte von jungen Menschen wichtig ist, vor allem müssen alle Beteiligten und dabei vor allem die Pflegeeltern und die jungen Menschen einbezogen, sensibilisiert und ihnen Räume in der Infrastruktur geöffnet werden, damit sie ihre eigenen Erwartungen, ihre Rollen, Herausforderungen und Rechte reflektieren können. Dies ist ein Aspekt von Schutzkonzepten, er erfordert Aushandlung zwischen den unterschiedlichen Beteiligten und ermöglicht Beteiligung. Die Befunde zeigen auch, welche Anstrengungen mit der Herstellung und Gestaltung der Pflegefamilie („Doing Family“) verbunden ist. Elisabeth Helming stellt hierzu fest, dass „Doing Family“ die Unterstützung durch Beratungsdienste und letztlich unterstützende Infrastrukturen erforderlich macht (Helmig 2011). Die sich andeutenden emotionalen und sozialen Herausforderungen, die sich in Pflegefamilien stellen, müssen bei der Implementierung von Schutzkonzepten für die Pflegekinderhilfe mitbedacht werden. Die jungen Menschen sollten in der Pflegekinderhilfe insgesamt dahingehend informiert und befähigt werden, dass sie ihre „Voice“-, „Choice“- und „Exit“-Optionen nutzen können - trotz ihrer Angewiesenheit aufeinander und trotz ihrer unsicheren Situation. Angesichts der komplexen Konstellation und der strukturell angelegten Ambivalenzen ist es gerade für die Infrastruktur der Pflegekinderhilfe weiterführend, eine Kultur der Achtsamkeit als fachliche Basisqualität zu entwickeln, die auch ‚schwache Signale‘ wahrnimmt und letzt- 280 uj 6 | 2020 Schutzkonzepte in der Pflegekinderhilfe lich davon ausgeht, dass in der Pflegekinderhilfe „Fehler“ passieren können. Werden Fehler nicht mitgedacht, dürfen sie auch nicht wahrgenommen werden. Darum sollte auch über Beschwerdemöglichkeiten nachgedacht werden und (individuelle) Handlungspläne für junge Menschen erstellt werden, damit sie wissen, was sie tun können, wenn sie von einer „Exit“- Option Gebrauch machen wollen oder müssen (Fegert et al. 2020). Schutzkonzepte benötigen vor allem niedrigschwellige Hilfs- und Unterstützungsangebote in der Infrastruktur für junge Menschen und für Eltern. Und dies vor allem in der alltäglichen Lebenswelt und nicht nur in akuten Krisensituationen. Dr. Tanja Rusack Universität Hildesheim Institut für Sozial- und Organisationspädagogik E-Mail: tanja.rusack@uni-hildesheim.de Literatur Christmann, B., Watzlawik, M. (2019): Organisationsethik als Perspektive für die Entwicklung und Ausgestaltung von Schutzkonzepten gegen sexualisierte Gewalt in pädagogischen Einrichtungen. Neue Praxis 3, 234 - 247 Eberhardt, B., Naasner, A., Nitsch, M. (2016): Handlungsempfehlungen zur Implementierung von Schutzkonzepten in Einrichtungen der Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe. Erfahrungen und Ergebnisse der Bundesweiten Fortbildungsoffensive 2010 - 2014. Düsseldorf Enders, U. (2012): Grenzen achten: Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen. Kiepenhauer & Witsch, Köln Fegert, J. M., Gulde, M., Henn, K., Husmann, L., Kampert, M., Rusack, T., Schröer, W., Wolff, M., Ziegenhain, U. (2020): Positionen. Kinderrechte in der Vollzeitpflege - Reformbedarf zur Verwirklichung von Schutzkonzepten in der Infrastruktur der Pflegekinderhilfe. 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Springer VS, Wiesbaden, 143 - 166, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-15005-1_7 Kappler, S., Pooch, M.-T., Derr, R., Hornfeck, F., Tremel, I., Kindler, H., Öztürk, Y. (2018): So können Schutzkonzepte in Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche gelingen! Erkenntnisse der qualitativen Studie des Monitorings (2015 - 2018). Teilbericht 4, Berlin Liebhardt, H. (2015): Beschwerdeverfahren als Teil einer Fehlerkultur. In: Crone, G., Liebhardt, H. (Hrsg.): Institutioneller Schutz vor sexuellem Missbrauch. Achtsam und verantwortlich handeln in Einrichtungen der Caritas. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 50 - 62 Schäfer, D. (2011): Normalitätserleben und Familienbilder von Pflegekindern. In: Dokumentation Leuchtturm-Projekt Pflegekinderdienst. LVR-Landesjugendamt Rheinland, 68 - 75. In: https: / / www.uni-siegen.de/ pflegekinder-forschung/ research/ files/ leuchtturm projekte.pdf Schröer, W., Wolff, M. (2018): Schutzkonzepte und Gefährdungsanalysen - Eine Grundverständigung. 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