eJournals unsere jugend 72/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Antisemitismus, Rassismus und Homofeindlichkeit: Rechtsextreme Einstellungsmuster in der Kinder- und Jugendhilfe

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2020
Ruben Obenhaus
Die Mobile Beratung Niedersachsen gegen Rechtsextremismus für Demokratie berät Institutionen und Einzelpersonen im Umgang mit rechtsextremen Erscheinungsformen. Insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe ist das Problem rechtsextremer Erscheinungsformen allgegenwärtig, weshalb pädagogische Fachkräfte regelmäßig in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus unterstützt werden.
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364 unsere jugend, 72. Jg., S. 364 - 370 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art58d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Antisemitismus, Rassismus und Homofeindlichkeit: Rechtsextreme Einstellungsmuster in der Kinder- und Jugendhilfe Einblicke in die Praxis der Mobilen Beratung Niedersachsen Die Mobile Beratung Niedersachsen gegen Rechtsextremismus für Demokratie berät Institutionen und Einzelpersonen im Umgang mit rechtsextremen Erscheinungsformen. Insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe ist das Problem rechtsextremer Erscheinungsformen allgegenwärtig, weshalb pädagogische Fachkräfte regelmäßig in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus unterstützt werden. von Ruben Obenhaus Jg. 1988; M. A. Philosophie; Projektleitung Mobile Beratung Niedersachsen gegen Rechtsextremismus für Demokratie bei WABE e.V. Die Mobile Beratung Niedersachsen - Entstehung und Entwicklung Die Mobile Beratung Niedersachsen gegen Rechtsextremismus für Demokratie berät und unterstützt Institutionen, Initiativen und Einzelpersonen sowie Kommunen und Verwaltungsstrukturen im Umgang mit Rechtsextremismus und rechtsextremen Einstellungsmustern, um langfristige, passgenaue und ganzheitliche Strategien vor Ort gemeinsam zu entwickeln. Das Konzept der Mobilen Beratung wurde in den 1990er Jahren zunächst in den ostdeutschen Bundesländern als zivilgesellschaftliche Struktur aufgebaut, die sich vor allem mit den Strukturen und Folgen von Rechtsextremismus in den vorhandenen Sozialräumen und Gemeinwesen auseinandersetzte. Das zunächst auf Landesebene in Brandenburg geförderte Projekt unter zivilgesellschaftlicher Trägerschaft wurde ab 2001 im Rahmen des Bundesprogramms „CIVITAS - initiativ gegen Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern“ gefördert und auf alle ostdeutschen Bundesländer ausgeweitet - die Bundesregierung sah den Förderbedarf „speziell für Ostdeutschland […], da dort ein spezifischer Nachholbedarf an demokratischer Bildung und Kultur als Folge der Transformationsprozesse diagnostiziert wurde“ (BMB 2017, 6). Die staatliche Förderung von zivilgesellschaftlichen Projekten zur Prävention und Intervention bei Problemstellungen in Be- 365 uj 9 | 2020 Rechtsextreme Einstellungsmuster zug auf die extreme Rechte hat zu einem Paradigmenwechsel geführt, war dieser Themenbereich aus staatlicher Sicht doch zuvor ausschließlich bei Repressionsorganen wie der Polizei zu verorten. Neben der Skepsis von zivilgesellschaftlichen Initiativen und Vereinen gegenüber der Polizei hat diese Vorgehensweise auch zu Problemen u. a. bei Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe geführt - sie hatte schlichtweg keinen Bezug zur pädagogischen Arbeit und nahm keine Rücksicht auf sozialräumliche Besonderheiten. Erst ab 2007 konnten sich aufgrund der Ausweitung der Förderung auf alle Bundesländer nach und nach auch mobile Beratungsteams in Westdeutschland etablieren. Unter Anpassung und Erweiterung der Methoden und Vorgehensweisen an die regionalen Gegebenheiten konnten sich so nach und nach Beratungsteams bei zivilgesellschaftlichen Trägern in allen 16 Bundesländern mit unterschiedlichen Hürden und Finanzierungsmodellen zusammenfinden. Im Rahmen der Förderung durch das Bundesprogramms „Demokratie leben! “ ab 2015 hat sich schließlich auch der Bundesverband Mobile Beratung e.V. gegründet, in dem sich beinahe alle Beratungsteams bundesweit zusammengeschlossen haben und die gemeinsame inhaltliche, methodische und strategische Arbeits- und Vorgehensweise weiterentwickeln. Die Etablierung der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Niedersachsen erfolgte im bundesweiten Vergleich relativ spät und schleppend. Erst seit 2017 gibt es die bis heute bestehende Struktur von drei Regionalbüros mit hauptamtlichen Beraterinnen und Beratern, die durch das Bundesprogramm „Demokratie leben! “ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert werden. Bis dahin wurde gewissermaßen eine „verstaatlichte“ Form der Mobilen Beratung praktiziert: Anlassbezogen wurden zentral durch den in der Landeshauptstadt Hannover ansässigen Landespräventionsrat Honorarkräfte als „Interventionsteams“ für einzelne Fälle engagiert. Dieses Modell stieß - insbesondere durch die Größe und heterogene sowie ländliche Struktur Niedersachsens - schon früh an seine Grenzen. Hannover ist einerseits für Problemlagen vor Ort in den meisten Fällen zu weit entfernt, um eine geeignete Lageeinschätzung zu geben und passende Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Andererseits zeigte sich, dass u. a. für die Zivilgesellschaft und nicht-staatliche Akteure der Kinder- und Jugendhilfe die Hürde für eine Kontaktaufnahme zu groß war - nur wenige Hilfesuchende wandten sich an den im Niedersächsischen Justizministerium angesiedelten Landespräventionsrat. Anfang 2017 wurden daher drei Regionalbüros in Oldenburg, Verden und Wolfsburg bei den zivilgesellschaftlichen Trägern „IBIS - Interkulturelle Arbeitsstelle für Forschung, Dokumentation, Bildung und Beratung e.V.“, WABE e.V. sowie bei dem „Zentrum Demokratie Bildung“ von der „Bildungsvereinigung Arbeit und Leben“ eingerichtet. Aufgrund guter sozialräumlicher Kenntnisse und einer bereits vorhandenen gemeinwesenorientierten Vernetzung der neuen Träger konnten schnell neue Zielgruppen erreicht und Barrieren abgebaut werden. Durch die festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist seit dem Einrichten der Regionalbüros eine konstante Erreichbarkeit und Fallbearbeitung möglich, dies hat vor allem durch das Ausbilden von Vertrauensverhältnissen einen positiven Effekt auf die Beratung. Bis Ende 2019 bestand die Struktur der von staatlicher Seite zusammengestellten „Interventionsteams“ parallel zu den Regionalbüros der zivilgesellschaftlichen Träger. Erst im Januar 2020 wurde aufgrund der positiven Rückmeldung von Beratungsnehmenden und der Vielzahl an erfolgreich durchgeführten Beratungen die gesamte Struktur des Beratungsangebots in zivilgesellschaftliche Trägerschaft übergeben. Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus ist in Niedersachsen somit nun gemäß den Empfehlungen des Bundesverbands und aufgrund der Erkenntnisse aus der Evaluation durch die wissenschaftliche Begleitung unter ausschließlicher Trägerschaft 366 uj 9 | 2020 Rechtsextreme Einstellungsmuster der Zivilgesellschaft. Alle drei Regionalbüros mit den erfahrenen Beraterinnen und Beratern arbeiten nun unter dem Dach von WABE e.V.; durch die einheitliche Trägerschaft können vor allem qualitätssichernde Maßnahmen, wie die gemeinsame Super- und Intervision und Fortbildungen für die Beraterinnen und Berater besser umgesetzt werden. Auch eine einheitliche Öffentlichkeitsarbeit und die verbesserte Ansprechbarkeit sowie einheitliche Beratungsstandards unterstreichen die fortschreitende Professionalisierung der Mobilen Beratung - auch im bundesweiten Kontext. Begriffsbestimmung Rechtsextremismus Die Mobile Beratung Niedersachsen unterstützt Ratsuchende in der Auseinandersetzung mit rechtsextremen Einstellungen und Verhaltensweisen - der angewandte Begriff des „Rechtsextremismus“ umfasst hierbei vielerlei Facetten und dient im Sinne der praktischen Anwendung als Sammelbegriff. Hans-Gerd Jaschke beschreibt den Rechtsextremismus als „die Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, die von der rassisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangen und das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklarationen ablehnen, die den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betonen, von der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsraison ausgehen und die den Wertepluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen“ (Jaschke 2001, 31). Für die Arbeit in der Praxis empfiehlt sich die Unterscheidung von zwei Dimensionen des Rechtsextremismus, wie sie Stöss (2010, 22ff ) vornimmt. Die erste Dimension der Einstellungsmuster umfasst nach Stöss beispielsweise Völkisches Denken, Biologismus, Rassismus, Autoritarismus, Homogenitätsdenken, Elitismus, Sexismus, Antisemitismus, Antiamerikanismus, Geschichtsrevisionismus und weitere. Bei der Einzelperson, die rechtsextreme Einstellungsmuster verinnerlicht hat, müssen dabei nicht alle Attribute (vollständig) zutreffen, vielmehr werden unterschiedliche rechtsextreme Ideologien durch immer neue Zusammensetzung und Gewichtung der einzelnen Einstellungsmuster gebildet. Die zweite Dimension ist die des Verhaltens. In der sinnbildlichen Vorstellung dieses Models als Eisberg ist das Verhalten der kleinere Teil, der jedoch bereits auf den ersten Blick sichtbar ist. In der Praxis können dies Provokationen und Formen des Protestes ebenso wie Wahlverhalten, Mitgliedschaften bis hin zu Gewalt und Terrorismus sein. Ergänzend verweist Heitmeyer (2002 - 2012) im Rahmen einer „Ideologie der Ungleichheit“ auf die allgemeine Gewaltakzeptanz im Rechtsextremismus: hier zeigt sich die Verknüpfung von Einstellungen und Verhalten, die Gewalt muss nicht zwangsweise selbst ausgeübt, sondern kann auch „lediglich“ akzeptiert werden. Heitmeyer bezieht sich für seine Annäherung auf einen Begriff des Rechtsextremismus auf zwölf Elemente des „Syndroms der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, die im Wesentlichen den oben beschriebenen Einstellungsmustern ähneln (ebd.). In der Praxis zeigt sich - gedeckt durch wissenschaftliche Studien - dass in vielen Fällen bei den Menschen kein geschlossenes rechtsextremes Einstellungsmuster aufzufinden ist, sondern vielmehr einzelne Elemente mal mehr und mal weniger deutlich zu tragen kommen. Insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe werden Fachkräfte häufig mit Handlungsweisen konfrontiert, die nicht auf ein geschlossen rechtsextremes Weltbild schließen lassen. An vielen Stellen sind die Jugendlichen keine Kaderfiguren oder Mitglieder geschlossener rechtsextremer Gruppierungen, sondern versuchen sich die Welt durch einfache rechtsextreme Erklärungsansätze zu begreifen - die ihnen durch Gruppierungen der organisierten Szene „frei Haus“ geliefert werden. 367 uj 9 | 2020 Rechtsextreme Einstellungsmuster Jedoch muss auch auf die Kritik des Begriffs „Rechtsextremismus“ verwiesen werden, der schließlich nur als „Sammelbezeichnung“ eines wissenschaftlichen Diskurses angesehen werden kann. Samuel Salzborn (2015, 18) verweist zu Recht darauf, dass das „Adjektiv ‚rechtsextremistisch‘ (im Unterschied zu rechtsextrem oder extrem rechts) weitgehend abzulehnen [sei], weil es auf das verkürzte und wissenschaftlich untaugliche Extremismuskonzept verweist, mit dem die Verfassungsschutzbehörden arbeiten und das lediglich eine substanzielle Gegnerschaft zur FDGO ausmacht, ohne dabei weltanschauliche Strukturen des Rechtsextremismus und ihre dynamischen Veränderungen, auch in ihren Bezügen zur politischen Mitte, hinreichend zu analysieren oder zu reflektieren“. Das Leitziel Mobiler Beratung ist es, „Beratungsnehmer/ innen in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus und im Engagement für eine demokratische Alltagskultur zu unterstützen“ (Bringt/ Klare 2019, 25). Im Entwicklungs- und Professionalisierungsprozess haben sich einige Eckpunkte für den Beratungsprozess ergeben, Mobile Beratung ist den Grundsätzen nach: ➤ bedarfs-, anlass- und ressourcenorientiert, ➤ „Hilfe zur Selbsthilfe“ und Empowerment, ➤ Gemeinwesenorientiert und „Denken in Zusammenhängen“, ➤ im Ansatz professionell distanziert und moderierend (ebd.). Mobile Beratung ist darüber hinaus menschenrechtsorientiert, demokratisch und orientiert sich am systemischen Beratungsansatz; Mobile Beratung ist „vor Ort“ und unterstützt dort, wo die Hilfe gebraucht wird und ist ihrem Anspruch nach barrierearm. Fallarbeit in der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Der „idealtypische Fallablauf“ (BMB 2017, 26) sieht sechs Phasen vor, die idealerweise im Rahmen des Beratungsprozesses durchlaufen werden. In einem ersten Schritt muss es eine Problemanzeige durch eine beratungsnehmende Person geben; beispielsweise eine pädagogische Fachkraft, die steigenden Rassismus in ihrer Einrichtung wahrnimmt. Im Einzelfall kann auch ein proaktives Vorgehen durch das Beratungsteam erfolgen, etwa wenn auf Missstände in einer Einrichtung durch Presseberichte oder anonyme Hinweise hingewiesen wurde. Im zweiten Schritt erfolgt nach der Auftragsklärung die eigentliche Beauftragung der Mobilen Beratung - die beratungsnehmende Person muss dabei nicht identisch mit dem Problemanzeigenden sein. Im Beispiel einer pädagogischen Einrichtung kann auch ein Mitarbeiter die Problemanzeige gestellt haben und die Leiterin schließlich die Beratungsnehmende sein. Im dritten Schritt erfolgt eine Problemanalyse: was ist genau passiert? Welche Akteure sind in die Problemlage verwickelt? Gibt es Einfluss durch organisierte Rechtsextremisten? Wer engagiert sich im lokalen Kontext für Demokratie? Gibt es Betroffene? In dieser Phase werden Informationen zum akuten Problem gesammelt und Kontakte zu bestehenden Netzwerken geknüpft. Auf Grundlage der Recherchen wird als Basis für das weitere Vorgehen gemeinsam mit den Beratungsnehmenden ein Handlungskonzept entwickelt, das durch drei Aspekte gekennzeichnet sein soll: Es formuliert umsetzbare Ziele, orientiert sich an den gegebenen Möglichkeiten und Ressourcen und stärkt die Handlungskompetenz vor Ort nachhaltig. In der (möglichst eigenständigen) Konzeptumsetzung begleitet die Mobile Beratung schließlich in einem fünften Schritt. Durch die Beraterinnen und Berater wird hier eine moderierende und begleitende und keine Akteursrolle eingenommen. Der letzte Schritt umfasst schließlich die Reflexion im Team sowie mit den Beratungsnehmenden und kann in Hinblick auf die Qualitätssicherung auch eine Evaluation umfassen. Während des gesamten Prozesses ist die hauptsächliche Methode der Mobilen Beratung das Beratungsgespräch mit einem systemischen Ansatz, wobei dieser aufgrund des Beratungs- 368 uj 9 | 2020 Rechtsextreme Einstellungsmuster gegenstandes „Rechtsextremismus“ neu gedacht werden muss. Beraterinnen und Berater können im Beratungsprozess nicht „neutral“ sein, sondern sind in ihrer menschenrechtsorientierten Haltung aktiv pro-demokratisch und auf der Seite von Betroffenen rechter Gewalt. Im Sinne der Bedarfs- und Ressourcenorientiertheit können neben der klassischen Beratung auch Elemente der (Politischen) Erwachsenenbildung herangezogen werden. Im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe kommen insbesondere Fortbildungsveranstaltungen für das Kollegium infrage, die die Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten im pädagogischen Kontext erweitern und die Sensibilität für bestimmte Phänomene erhöhen können. Beispiel aus der Beratungspraxis Die Arbeit der Mobilen Beratung Niedersachsen ist - unter Berücksichtigung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und theoretischer Rückkopplung - vor allem praktisch. Die Beratungsteams sind landesweit unterwegs, um vor Ort Beratungsnehmende zu unterstützen. Die Wirksamkeit des Beratungsangebots lässt sich daher am besten an einem Praxisbeispiel erkennen. Bei einem Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Niedersachsen hat sich ein Vorfall ereignet, der exemplarisch für viele Situationen in der Arbeit mit Jugendlichen steht: Eine pädagogische Mitarbeiterin eines Trägers der Kinder- und Jugendhilfe kontaktierte die Mobile Beratung Niedersachsen und berichtete von einem Vorfall mit einem Jugendlichen, den sie ambulant betreut und der in einer Wohnung des Trägers wohnt. Der Jugendliche hat in der Betreuungssituation von Webseiten berichtet, auf denen antisemitische, frauen- und homofeindliche sowie rassistische Verschwörungsmythen verbreitet werden. Über diese Inhalte sprach der Jugendliche auch mit anderen betreuten Jugendlichen in Räumen des Trägers. Die Mitarbeiterin meldete sich telefonisch in einem der Regionalbüros und bat zunächst um eine Einschätzung des Vorfalls durch die Mobile Beratung. Da sich durch die Beschreibungen der Mitarbeiterin eindeutig auf einen rechtsextremen Vorfall schließen ließ, wurde ein erster zeitnaher Beratungstermin im Büro des Kinder- und Jugendhilfeträgers vereinbart, um eine ausführliche Auftragsklärung durchzuführen. Während des ersten Beratungsgesprächs wurde zunächst im Rahmen einer mündlichen Auftragsklärung festgehalten, dass die Ratsuchende mitsamt dem pädagogischen Betreuungsteam als Beratungsnehmende auftritt. Es schloss sich vor Ort bereits der erste Teil einer Problemanalyse an. In diesem Schritt wurde zunächst das direkte Umfeld des Jugendlichen ausgeleuchtet und festgestellt, dass einerseits die Gefahr einer Radikalisierung durch eine örtliche Neonazi-Gruppierung besteht, andererseits aber auch positive Einflüsse durch vielversprechende Förderangebote vorhanden sind. Die involvierten Berater haben ergänzende Recherchen zum Umfeld und ähnlichen Vorfällen vor Ort unternommen und sahen insbesondere die Gefahr durch die örtliche Neonazi-Szene, die wiederholt Versuche zur Gewinnung von örtlichen Jugendlichen unternahm. Bei einem zweiten Treffen mit dem pädagogischen Team stand der kollegiale Austausch im Vordergrund. Insbesondere in größeren Teams lassen sich häufig Kommunikationsdefizite feststellen, die häufig durch die schwierigen Arbeitsbedingungen verstärkt werden. So ließ sich im Rahmen des Austauschs feststellen, dass das Problem von rechtsextremem Gedankengut in der Einrichtung bereits größer als zunächst vermutet war. Vor allem zeigte sich auch, dass mehrere Bewohnerinnen und Bewohner sich in ihrer Bewegungsfreiheit durch die rechtsextremen Äußerungen eingeschränkt sahen. Auf Grundlage der gesamten Problemanalyse wurde gemeinsam ein Handlungskonzept entworfen: In einem ersten Schritt sollte die pädagogische Leitung des Trägers auf das Problem aufmerksam gemacht werden und die Dringlichkeit der 369 uj 9 | 2020 Rechtsextreme Einstellungsmuster Handlung dargestellt werden. In einem zweiten Schritt sollte das gesamte Kollegium für das Problemfeld sensibilisiert und Handlungsanweisungen für den Akutfall erarbeitet werden. Schließlich sollte die Hausordnung der Einrichtung überarbeitet werden, um rechtsextreme Erscheinungsformen aus der Einrichtung zu verbannen. Der erste Schritt verlief problemlos, da die Leitungsebene insbesondere auf Grundlage der ausführlichen Problemanalyse von der Dringlichkeit des Problems überzeugt wurde. Es konnte daher zeitnah eine ganztägige Fortbildungsveranstaltung für das gesamte Kollegium organisiert werden. Die Mobile Beratung hat das Problemfeld „Rechtsextremismus“ deutlich gemacht und die Betroffenenperspektive sichtbar gemacht. Es konnte im pädagogischen Team eine spürbare Sensibilisierung geschaffen werden. Anschließend wurden unter Federführung der Leitung und Moderation durch die Mobile Beratung passgenaue Handlungsoptionen für konkrete Situationen entwickelt. Auch hier lag ein besonderer Schwerpunkt auf der Betroffenenperspektive und dem Schutz von (potenziell) Betroffenen. Auf Grundlage der Handlungsoptionen wurde in einem weiteren Treffen mit der Leitungsebene und einigen Fachkräften die Hausordnung der Einrichtung überarbeitet. Die Mobile Beratung nahm auch hier vor allem eine moderierende Rolle ein und konnte mit fachspezifischem Wissen über rechtsextreme Erscheinungsformen und Erfahrungen aus anderen Einrichtungen unterstützen. Sowohl die Konzeptentwicklung als auch die ersten Schritte der Umsetzung konnten so zur Zufriedenheit der Beratungsnehmenden abgeschlossen werden. Teil des Konzepts war auch ein Workshoptag mit den Fachkräften und den Jugendlichen, bei dem die neue Hausordnung vorgestellt und in einigen Punkten verbessert wurde. Es wurde schließlich ein regelmäßiger, institutionalisierter Austausch verabredet, um die Konzeptumsetzung in der Einrichtung und mit den Jugendlichen zu begleiten. Bei einem gemeinsamen Abschlusstreffen etwa drei Monate später wurde das Vorgehen reflektiert und über Erfahrungen in der Umsetzung berichtet. Insbesondere in Hinblick auf spätere Fälle, die ähnlich gelagert waren, war das letzte Reflexionstreffen hilfreich für die Mobile Beratung. Herausforderungen, Grenzen und Empfehlungen für Fachkräfte Der beschriebene Fall lief in vielerlei Hinsicht nahezu idealtypisch ab, insbesondere ließ sich erfolgreich mit den Akteuren vor Ort ein Handlungskonzept entwickeln, welches durch die eigene Erarbeitung der Fachkräfte eine hohe Akzeptanz gefunden hat. Dennoch zeigen sich auch hier deutliche Grenzen in der präventiven und eingreifenden Arbeit in Bezug auf Rechtsextremismus. Wie in dem Praxisbeispiel aus einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe ist die Arbeit der Mobilen Beratung und anderer Akteure in diesem Gebiet angewiesen auf aktive und achtsame Fachkräfte vor Ort. Rassismus, Antisemitismus und weitere Formen des Rechtsextremismus werden - insbesondere hinter den Türen von pädagogischen Einrichtungen - erst sichtbar, wenn Einzelne die Herausforderung annehmen und auf diese Vorfälle aufmerksam machen. Wird auf solche Probleme nicht aufmerksam gemacht, bleiben vor allem Betroffene von rechter (physischer und psychischer) Gewalt allein: Angsträume entstehen und Menschen werden ausgegrenzt. Daher liegt es - nicht nur - an den pädagogischen Fachkräften, auf bestehende Problemlagen, Ausgrenzungen und fehlende Sensibilisierung aufmerksam zu machen. Insbesondere in Hinblick auf rechtsextreme Problemlagen ist es wichtig, sich bereits frühzeitig Hilfe und Verbündete zu suchen: im Kollegium und bundesweit bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus. Der in Zeiten des Coronavirus besonders bekannt gewordenen Spruch „there is no glory in prevention“ gilt besonders auch für die Rechtsextremismusprävention: eine frü- 370 uj 9 | 2020 Rechtsextreme Einstellungsmuster he Entwicklung von Handlungsoptionen und Konzepten, bei denen sich sowohl Fachkräfte als auch Jugendliche wohl fühlen, scheinen teilweise übertrieben - schützen aber langfristig vor antidemokratischen Tendenzen und gewaltvollen Erfahrungen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Es muss kein „bedeutender“ Vorfall stattgefunden haben, um sich an die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus richten zu können. Ruben Obenhaus Mobile Beratung Niedersachsen gegen Rechtsextremismus für Demokratie bei WABE e.V. Holzmarkt 15 27283 Verden (Aller) Tel.: (0 42 31) 1 24 62 E-Mail: info@mbt-niedersachsen.de Web: www.mbt-niedersachsen.de Literatur Becker, R., Klare, H. (2019): Mobile Beratung - Entwicklung, Grundlagen und Spannungsfelder. In: Becker, R., Schmitt, S. (Hrsg.) (2019): Beratung im Kontext Rechtsextremismus. Felder - Methoden - Positionen. Wochenschau Verlag, Frankfurt am Main Bundesverband Mobile Beratung e.V. (BMB) (2017): Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus. Inhaltliche und Methodische Grundsätze. In: https: / / www.bundes verband-mobile-beratung.de/ wp-content/ uploads/ 2018/ 03/ bmb_grundsaetze_DinA5_web.pdf, 15.5.2020 Heitmeyer, W. (Hrsg.) (2002 - 2012): Deutsche Zustände. Folge 1 - 10. Suhrkamp, Frankfurt am Main Jaschke, H.-G. (2001): Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe, Positionen, Praxisfelder. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden Salzborn, S. (2015): Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. BpB, Bonn Stöss, R. (2010): Rechtsextremismus im Wandel. Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2., aktualisierte Auflage 2020. 134 Seiten. 5 Abb. DIN A4. (978-3-497-02954-9) kt Kinder stark machen! Die Förderung der Resilienz und der sozial-emotionalen Kompetenzen sollte so früh wie möglich beginnen und gewinnt auch in der Schule zunehmend an Bedeutung. Nach dem bewährten Programm „Prävention und Resilienzförderung in Kindertageseinrichtungen“ (PRiK) liegt nun auch ein Förderprogramm für Grundschulen vor. a www.reinhardt-verlag.de