eJournals unsere jugend 72/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Sozialpädagogische Zeitkompetenz?

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2020
Michael Görtler
Zeit kann in Theorie und Praxis als Ressource sozialpädagogischen Handelns gelten. Wie Untersuchungen und Erfahrungsberichte von Fachkräften zeigen, ist der Alltag in sozialen Berufen von zeitlichen Herausforderungen geprägt. Daher spielt sozialpädagogische Zeitkompetenz eine wichtige Rolle und soll in diesem Beitrag theoretisch und in ihrer Bedeutung für die Praxis reflektiert werden.
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410 unsere jugend, 72. Jg., S. 410 - 416 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art65d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Sozialpädagogische Zeitkompetenz? Eine Reflexion zur Theorie und Bedeutung für die Praxis Zeit kann in Theorie und Praxis als Ressource sozialpädagogischen Handelns gelten. Wie Untersuchungen und Erfahrungsberichte von Fachkräften zeigen, ist der Alltag in sozialen Berufen von zeitlichen Herausforderungen geprägt. Daher spielt sozialpädagogische Zeitkompetenz eine wichtige Rolle und soll in diesem Beitrag theoretisch und in ihrer Bedeutung für die Praxis reflektiert werden. von Prof. Dr. Michael Görtler Jg. 1982; Professor für Soziale Arbeit, Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften, OTH Regensburg Hinführung Sozialpädagogik braucht Zeit. Dies lässt sich belegen, indem typische Formen sozialpädagogischen Handelns, wie etwa die Erziehung oder Förderung junger Menschen, und die Prozesse, die bei eben jenen Adressat*innen angeregt werden sollen, wie etwa die Entwicklung oder das Lernen, in Theorie und Praxis näher betrachtet werden. Daher kann Zeit - so die erste These dieses Beitrags - als Ressource sozialpädagogischen Handeln gelten. Während Zeit als Ressource in der Theorie als analytische Kategorie sozialpädagogischen Handelns genutzt wird, stellt sie in der Praxis eine Voraussetzung dafür da. In der Realität ist diese Ressource jedoch knapp bemessen. Untersuchungen und Erfahrungsberichte von Fachkräften zeigen, dass Zeit im Berufsalltag in den meisten Fällen nicht oder nicht in dem Maße zur Verfügung steht, wie es sinnvoll oder notwendig wäre; eine oft diskutierte Problematik in diesem Kontext ist der Personalschlüssel in sozialpädagogischen Einrichtungen und die daraus resultierende chronische Zeitnot. Fakt ist, dass die Fachkräfte im Berufsalltag mit zeitlichen Herausforderungen verschiedenster Art konfrontiert werden - der allgegenwärtige Zeitdruck spricht hier für sich. Die Fachkräfte müssen eben jene Herausforderungen situativ bewältigen, indem sie auf ihre Zeitkompetenz zurückgreifen. Die zeitlichen Herausforderungen im Berufsalltag sind mitunter schwierig, unsicher oder widersprüchlich, sodass - so die zweite These dieses Beitrags - die zeitkompetente Bewältigung dieser Situationen auch als Kennzeichen der Professionalität verstanden werden kann. 411 uj 10 | 2020 Sozialpädagogische Zeitkompetenz Zeitdruck in sozialen Berufen: Normalität im Berufsalltag? Neu ist die Klage von Fachkräften in sozialen Berufen über (zu) knappe zeitliche Ressourcen nicht. In der globalisierten Marktwirtschaft und der beschleunigten Arbeitswelt muss mehr und mehr unter Zeitdruck gehandelt werden (Rosa 2013), was sich angesichts der Digitalisierung nicht zuletzt auch in der gegenseitigen Erwartung, jederzeit und überall professionell handeln zu können und zu wollen, niederschlägt. Im Kontext der sog. Ökonomisierung der Sozialen Arbeit wird die Rationalisierung des Handelns beklagt (in Form einer Kosten-Nutzen-Relation), die auch die Zeit als soziale wie ökonomische Ressource (ganz nach dem Motto: Zeit ist Geld) umfasst. Untersuchungen zu den (zeitlichen) Arbeitsbedingungen über alle Branchen hinweg zeigen auf, dass Zeitdruck eine Herausforderung im Berufsalltag darstellt. Ein Beispiel dafür ist der „DGB-Index Gute Arbeit“ aus dem Jahr 2015 (Institut DGB-Index Gute Arbeit 2015), für den 4900 Arbeitnehmer*innen befragt wurden. Auf die Frage „Wie häufig fühlen Sie sich bei der Arbeit gehetzt oder stehen unter Zeitdruck? “ antworteten 31 % der Befragten aus dem Sozialwesen mit „sehr häufig“, 18 % mit „oft“, 34 % mit „selten“ und 17 % mit „nie“ und lagen bei der Antwort der ersten Frage sogar über dem Durchschnitt aller Befragten. Bei der Frage nach den Ursachen für Arbeitshetze und Zeitdruck gaben 65 % der Befragten „Zu viele gleichzeitig zu bearbeitende Vorgänge und Projekte“, 63 % „Zu knappe Personalbemessung“, 61 % „Ungeplante Zusatzaufgaben“ und 54 % „Zu knapp vorgegebene Termine oder Zeitvorgaben an (ebd., 6). Hielscher u. a. (2013) weisen auf das „alltägliche Dilemma sozialer Dienstleistungsarbeit“ hin, weil für zu viele Aufgaben zu wenig zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen. Die (zeitlichen) Arbeitsbedingungen sind mittlerweile nicht nur Gegenstand gesellschaftlicher und wissenschaftlicher, sondern auch politischer Debatten (Deutscher Bundestag 2016). So plädiert die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik e.V. schon seit vielen Jahren für die Etablierung einer „Zeitpolitik“ mit dem Ziel der Gestaltung der zeitlichen Strukturen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von Mensch und Umwelt (DGfZP 2003). Zeit: abstrakt und konkret zugleich? Damit die zeitlichen Herausforderungen im Berufsalltag, insbesondere der eben beschriebene Zeitdruck und der Begriff der Zeitkompetenz erfasst werden können, ist es unabdingbar, den Begriff der Zeit, der konkret und abstrakt zugleich ist, zu betrachten. Das bekannte Zitat des antiken Philosophen Augustinus „Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht“ (1888, o. S.) weist auf eine Paradoxie hin, die auch heute noch Bestand hat: Zeit ist für alle Menschen zwar ein Begriff, der im Alltag von konkreter Bedeutung ist, bei näherer Betrachtung aber abstrakt bleibt. Dabei gilt Zeit als soziale Konstruktion, die als Strukturgeber im Rahmen der Modernisierung von entscheidender Bedeutung war (Elias 1984), nicht zuletzt durch Uhren, Kalender, gesetzliche Regelungen usw. Zeitfragen sind Thema vieler - und dabei ganz unterschiedlich gelagerter - Diskurse. So lassen sich beim genaueren Hinsehen verschiedene Disziplinen identifizieren, die sich mit Zeit befassen, dabei eigene Zeitbegriffe und Zeittheorien zugrunde legen (Fischer/ Wiegandt 2012). In der Pädagogik gilt Zeit als knappe Ressource, die aus verschiedenen Gründen für das pädagogische Handeln relevant ist - nicht zuletzt, weil die Lebenszeit („Chronos“) des Menschen und damit die rechten Zeitpunkte („Kairos“) zur (Selbst-)Bildung begrenzt sind (Haan 2005); in den Sozialwissenschaften wird Zeit als Handlungsressource verstanden (Morgenroth 2008); die Psychologie besagt, dass eine Handlung aus zeitlich aufeinanderfolgenden Phasen besteht, die durchlaufen werden müssen, um zum Abschluss zu kommen (Achtziger/ Gollwitzer 2009). In Kombination dieser Zugänge lässt sich Zeit als Ressource sozialpädagogischen 412 uj 10 | 2020 Sozialpädagogische Zeitkompetenz Handelns verstehen, die von den Fachkräften aufgewendet werden muss, um Entwicklungs- oder Lernprozesse bei den Adressat*innen anzuregen; dabei wird einerseits die Annahme, dass Zeit ein Maßstab für Bewegung und Dauer ist, und andererseits die Annahme, dass es dabei im Kern um (Selbst-)Bildungsprozesse geht, die aus der reflexiven Weltbegegnung resultieren, zugrunde gelegt (Schmidt-Lauff 2012). Folglich kann sozialpädagogisches Handeln als Prozess der Erziehung und Förderung von jungen Menschen, der Zeit braucht, damit eben jene (Selbst-)Bildungsprozesse abgeschlossen werden können, konzeptualisiert werden. Dabei ist die Beachtung der „Eigenzeiten“ (Held/ Geißler 1993) von entscheidender Bedeutung, weil alle Beteiligten - Fachkräfte wie Adressat*innen - ihre eigene Zeit zum Handeln brauchen. So galt es schon bei Rousseau, einem der Gründungsväter der Pädagogik der Gegenwart, „als wichtigste pädagogische Regel, Zeit zu verlieren“, beispielsweise indem von den Fachkräften ein „Zeitraum“ zum Lernen pädagogisch gestaltet wird (Göhlich et al. 2014, 8f ). Zeitkompetenz: theoretische Zugänge Im Folgenden soll der Begriff der Zeitkompetenz in zwei Zügen geklärt werden. Dafür wird der Kompetenzbegriff in der Pädagogik erst erläutert und dann mit dem eben beschriebenen Verständnis von Zeit erweitert. In der Pädagogik gehört die Kompetenz zu den Schlüsselbegriffen. Es gibt sowohl in der Pädagogik im Allgemeinen als auch in der Sozialen Arbeit im Speziellen unterschiedliche Modelle, um kompetentes Handeln in einem spezifischen Bereich zu bestimmen (Kreft 2010). In Anlehnung an den Pädagogen Heinrich Roth ist die Systematik aus den Dimensionen der Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz weit verbreitet; in manchen Modellen um die Dimension der Methodenkompetenz erweitert. Während sich die Sachkompetenz auf den Umgang mit fachlichen Herausforderungen bezieht und daher in vielen Fällen auch als Fachkompetenz bezeichnet wird, geht es bei der Selbstkompetenz um den Umgang mit der eigenen Person, bei der Sozialkompetenz um den mit anderen Personen; die Methodenkompetenz zielt auf den Einsatz von Verfahren und Techniken ab, um bereichsspezifische Herausforderungen zu bewältigen. Mit Blick auf die Praxis wird in manchen Kompetenzmodellen der Begriff der Handlungskompetenz, welcher die Dimensionen der Sach-, Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenz umfasst, übergeordnet. Dabei wird der Fokus auf bereichsspezifisches berufliches Handeln bzw. den kompetenten Umgang mit beruflichen Situationen in spezifischen Bereichen, wie etwa der Sozialpädagogik, gelegt. Mit Blick auf das berufliche Handeln bzw. den kompetenten Umgang mit beruflichen Handlungssituationen unterscheidet Maja Heiner im Kontext der Sozialen Arbeit drei Dimensionen: „Erstens die Berechtigung und Verpflichtung in einem bestimmten Aufgabenbereich tätig zu werden (Zuständigkeitsdimension), zweitens die Fähigkeit komplexe und bedeutende Aufgaben zu bewältigen (Qualifikationsdimension) und drittens die Bereitschaft, dies auch zu tun (Motivationsdimension)“ (Heiner 2010, 51 - 75). In ihrem „Handlungskompetenzmodell“ integriert sie einerseits das „Bereichsbezogene Kompetenzmuster“ mit den Dimensionen „Selbstkompetenz, Fallkompetenz, Systemkompetenz“ und andererseits das „Prozessbezogene Kompetenzmuster“ mit den Dimensionen „Planungs- und Analysekompetenz, Interaktions- und Kommunikationskompetenz, Reflexions- und Evaluationskompetenz“ (ebd.). Die beiden analytischen Kompetenzmuster werden beim sozialpädagogischen Handeln miteinander verknüpft und dabei aufeinander abgestimmt, um eine auf die Situation angepasste Handlungsstrategie entwickeln zu können. Der erste Fall weist auf die Notwendigkeit hin, dass es beim kompetenten Handeln sowohl auf die eigene 413 uj 10 | 2020 Sozialpädagogische Zeitkompetenz Person - die „Person als Werkzeug“, wie es Hiltrud von Spiegel nennt und dabei die Bedeutung der (sozial-)pädagogischen Haltung betont - als auch auf die Fähigkeit zur Bewältigung der Herausforderungen im Klienten- und Leistungssystem (Fall- und Sozialmanagement) ankommt. Der zweite Fall unterstreicht, dass dabei unterschiedliche Fähigkeiten gefragt sind, wie etwa das Planen und Analysieren, das Interagieren - insbesondere in Form der Kommunikation - sowie das Reflektieren und Evaluieren des eigenen Handelns, aber auch der Rahmenbedingungen. Schließlich hat in diesem Kompetenzmodell auch die Zeit als Ressource sozialpädagogischen Handelns ihren Platz, weil Heiner von „einer logischen zeitlichen Abfolge, bei der kein Schritt des Problemlösungsprozesses übersprungen werden kann - aber eine Rückkehr zu einem früheren Schritt jederzeit sinnvoll sein kann (rekursives Vorgehen)“ ausgeht (ebd., 65). Sozialpädagogisches Handeln vollzieht sich folglich linear in dem Sinne, dass ein Schritt nach dem anderen gegangen werden muss, und zyklisch in dem Sinne, dass sich diese zeitliche Schrittfolge so lange wiederholt, bis die Intervention erfolgreich beendet ist, falls sie nicht vorzeitig abgebrochen wird. Der Begriff der Zeitkompetenz wird in der Regel mit dem Begriff des Zeitmanagements in Verbindung gebracht. Zeitmanagement wird dort als Fähigkeit und Bereitschaft zum Umgang mit Zeit im ökonomischen Sinne definiert. Damit ist eine Idee von Zeit als knapper Ressource („Zeit ist Geld“), die mittels einer (zeitlichen) Kosten-Nutzen-Rechnung effizient verwaltet werden muss, gemeint. Im Zeitmanagement geht es daher um Verfahren und Techniken, die dabei helfen sollen, sich so gut wie möglich selbst zu organisieren (Schlote 2002). Das Zeitmanagement steht in der Kritik, denn Anspruch und Wirklichkeit dieses Ansatzes gehen auseinander. Einer der Hauptkritikpunkte bezieht sich auf die Annahme, dass Zeit eine (knappe) Ressource ist, die effizient verwaltet werden muss: zum einen verwalte sich der Mensch dabei selbst, indem er seinen Alltag zeitlich strukturiere; zum anderen spiegle sich darin die Ökonomisierung der Gesellschaft und der Lebenswelt wider, die zur Selbstoptimierung führe (ebd.). Die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik e.V. (DGfZP 2005) ordnet den Begriff als „Kompetenz zur Gestaltung des eigenen Lebenslaufs“ im Sinne einer „Befähigung der Menschen zum ,bewussten‘ Gebrauch ihrer Zeit - nach persönlichen Sinnkriterien, Interessen und Anforderungen“ (ebd., 18) im Kontrast zum eben skizzierten Zeitmanagement in einen größeren Zusammenhang ein. Sie fordert: „Sowohl die Einzelnen als auch Gruppen müssten weitgehend das Recht erlangen, ihre Arbeitszeiten kurz- und langfristig zu planen, zu strukturieren und ohne Zeitnot zu meistern. Voraussetzung dafür sind wirkliche Verfügungsrechte über die Zeit und vor allem die Aneignung der Kompetenz zum bewussten, nachhaltigen Umgang mit der persönlichen Zeit.“ (ebd., 15). Durch „Zeitpolitik“ sollen die gesellschaftlichen Strukturen so gestaltet werden, dass der kompetente Umgang mit der eigenen Zeit auch tatsächlich für alle Menschen möglich ist (z. B. durch flexible Arbeitszeitmodelle). In diesem Kontext spricht die DGfZP einerseits von „Zeitsouveränität“ als „,Meistern-Können‘ von Zeit“ und „Zeitwohlstand“ als„,Haben‘ von Zeit“ (ebd.). Dahinter liegt die Idee, dass Zeit - im Gegensatz zum Güterwohlstand - nicht (nur) als materielle, sondern (auch) als immaterielle Ressource verstanden werden kann, die für alle möglichen Dinge, die einen Menschen glücklich und zufrieden machen, aufgewendet werden kann - und dazu gehört abseits von Effizienz und Selbstoptimierung selbstverständlich auch das Nichtstun oder das Zeit verlieren, wie es Rousseau für die Erziehung forderte. In diesem Sinne bestimmen auch Hatzelmann/ Held (2005) die Zeitkompetenz über den kompetenten Umgang mit der Vielfalt an Zeiten im Berufswie Privatleben, um die zeitlichen Herausforderungen in allen Lebenslagen zu bewältigen. Dafür ist ihrer Ansicht nach ein Verständnis der Zeit(en) von Mensch und Umwelt bzw. natürlichen und künstlichen Zeiten relevant. 414 uj 10 | 2020 Sozialpädagogische Zeitkompetenz An dieser Stelle lässt sich festhalten, dass Zeitkompetenz als Schlüsselkompetenz im beruflichen wie privaten Bereich gilt und die Fähigkeit und Bereitschaft zur Analyse und Bewertung des Umgangs mit Zeit in Bezug auf die eigene Person (Selbstkompetenz), andere Personen (Sozialkompetenz) sowie fachliche Herausforderungen (Sachkompetenz) unter Anwendung von Verfahren und Techniken (Methodenkompetenz) umfasst. Ergänzen lässt sich dieses Verständnis aus zeitpolitischer Perspektive um die Analyse und Bewertung der Zeitkultur und Zeitstrukturen in der Gesellschaft, aber auch in der Organisation, in der man tätig ist, sowie die (Mit-)Gestaltung eben jener zeitlichen Rahmenbedingungen. Diese Erweiterung ist anschlussfähig für pädagogische, aber auch berufsethische Ansätze, welche die Soziale Arbeit als kritische und politische Profession in Theorie und Praxis betrachten. Zeitkompetenz in der sozialpädagogischen Praxis: ein Kennzeichen von Professionalität? Die folgenden Abschnitte setzen sich mit der Frage nach der Bedeutung der Zeitkompetenz für die sozialpädagogische Praxis unter besonderer Berücksichtigung der Professionalität auseinander. Wie der Kompetenzbegriff wird auch der Professionalitätsbegriff in der Pädagogik und ihren Teilbereichen in unterschiedlichen Ansätzen thematisiert, wie etwa dem interaktionistischen, welcher das aufeinander bezogene Handeln von Fachkräften mit Expertenstatus und Adressat*innen als Laien fokussiert (Combe/ Helsper 2017). Dabei gilt es zu beachten, dass es auf die Frage, was Professionalität eigentlich ausmacht, bisher keine endgültige Antwort gibt. Dies liegt neben der Nicht-Standardisierbarkeit der Praxis darin begründet, dass der Prozess der Professionalisierung und der Status der Sozialen Arbeit als (Semi-)Profession sowie die damit verbundenen Handlungskompetenzen nach wie vor umstritten sind (Kreft 2019, 49 - 59). Als ein Kennzeichen der Professionalität gilt im Allgemeinen die Fähigkeit und Bereitschaft, berufliche Situationen zu bewältigen, die schwierig, unsicher oder widersprüchlich sind (Combe/ Helsper 2017). Um mit solchen Situationen umgehen zu können, benötigen Fachkräfte sowohl sozialpädagogisches Wissen, Fähigkeiten, Haltungen usw., die in Ausbildung, Studium, Fort- und Weiterbildung vermittelt werden, als auch Erfahrung in der sozialpädagogischen Praxis. Professionalität heißt damit auch, im Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis agieren und sein Denken und Handeln darin reflektieren zu können (ebd., 22f ). Zeitliche Herausforderungen - insbesondere der Zeitdruck in sozialen Berufen - können die eben beschriebenen Merkmale der Schwierigkeit, Unsicherheit oder Widersprüchlichkeit aufweisen und die Professionalität der Fachkräfte auf den Prüfstein stellen. Die Fähigkeit und Bereitschaft, mit der Zeit in Bezug auf die eigene Person (Selbstkompetenz), andere Personen (Sozialkompetenz) sowie fachliche Herausforderungen (Sachkompetenz) unter Anwendung von Verfahren und Techniken (Methodenkompetenz) kompetent umzugehen, kann also helfen, solche Situationen zu bewältigen. Die bisherigen Ausführungen haben aufgezeigt, dass sozialpädagogisches Handeln Zeit braucht. Prozesse bei den jungen Menschen, die von den Fachkräften angeregt werden, wie etwa das Lernen aus Versuch und Irrtum oder das Lernen am Modell und die damit verbundenen Schritte wie das Verstehen, Begreifen oder Reflektieren der dabei gemachten Erfahrungen, sind zeitaufwendig. Neben dem Lernen gibt es aber auch noch andere Beispiele, welche die Bedeutung von Zeit für die Interaktion zwischen den Fachkräften und den jungen Menschen unterstreichen. Die folgenden Punkte sollen einen Eindruck davon vermitteln, was damit in der Praxis gemeint sein kann. 415 uj 10 | 2020 Sozialpädagogische Zeitkompetenz Erstens ist Sozialpädagogik grundsätzlich eine Form der Kommunikation zwischen den Fachkräften und jungen Menschen, die Zeit braucht. Das Diktum „Man kann nicht nicht kommunizieren“ von Paul Watzlawick unterstreicht, dass gegenseitiges Verstehen wichtig ist, weil jegliche Form der Kommunikation - egal ob auf Sach- oder Beziehungsebene - vom Gegenüber gedeutet wird. Folglich sind zeitliche Ressourcen unabdingbar, um potenzielle Missverständnisse zu vermeiden, beispielsweise durch aktives Zuhören. Zweitens ist Sozialpädagogik immer auch Beziehungsarbeit zwischen den Fachkräften und jungen Menschen, die Zeit braucht. Nicht nur die Entwicklung einer Beziehung, sondern auch das Vertiefen und In- Kontakt-Bleiben ist zeitintensiv. Dazu ist nicht zuletzt Vertrauen unabdingbar, das ebenfalls Schritt für Schritt aufgebaut werden muss. Hinzu kommt, dass Beziehungsarbeit ein dynamischer Prozess ist, weil sich die Beziehung zwischen zwei Menschen kontinuierlich verändert, indem sie aufeinander zugehen oder sich voneinander wegbewegen. Das Verhältnis von Nähe und Distanz muss folglich immer wieder neu ausgelotet werden, weil sich die Bedürfnisse auf beiden Seiten ändern. Schließlich spielt neben dem Verstehen und Zuhören auch das Mitfühlen - also die Empathiefähigkeit, die gemeinhin als wichtige Voraussetzung für eine Tätigkeit in sozialen Berufen angesehen wird - eine wichtige Rolle, um eine emotionale Verbindung zwischen beiden Parteien zu schaffen. Drittens ist Sozialpädagogik Hilfe zur Selbsthilfe, die im Sinne von Empowerment dazu dienen soll, dass junge Menschen ihr Leben bewältigen können. In diesem Rahmen geht es darum, an den sichtbaren Ressourcen anzuknüpfen und die verborgenen Ressourcen aufzudecken, um die Selbstwirksamkeit zu stärken. Dabei ist nicht nur die Analyse der Ressourcen zeitaufwendig, sondern auch deren Förderung macht eine kontinuierliche Unterstützung unabdingbar. Zusammenfassend brauchen die eben beschriebenen Prozesse in der Sozialpädagogik Zeit und deren Ergebnisse sind nicht auf Knopfdruck herstellbar. Hinzu kommt, dass sich diese Prozesse nicht unendlich beschleunigen lassen, weil die sich dabei vollziehenden Handlungen nicht mehr zum gewünschten Ergebnis führen, wenn sie gestört, unter- oder sogar abgebrochen werden. Folglich müssen die Fachkräfte mit der eigenen Zeit und der fremden Zeit der jungen Menschen kompetent umgehen, also beide Zeiten miteinander synchronisieren - der Zeitdruck im Berufsalltag wird damit zur echten Bewährungsprobe. Diese Situation wird noch zusätzlich dadurch verschärft, dass sozialpädagogisches Handeln als ergebnisoffener Prozess gilt. Das „Technologiedefizit“, ein Begriff, der von Luhmann/ Schorr (1982) geprägt wurde, macht darauf aufmerksam, dass pädagogisches Handeln mit Blick auf Ursache und Wirkung keiner linearen Kausalität folgt. So können die Fachkräfte weder immer genau wissen, wann der richtige Moment für eine Intervention gekommen ist, noch, wann deren Resultat sichtbar sein wird. Somit bedarf sozialpädagogisches Handeln in der Praxis grundsätzlich einer Einzelfallentscheidung, wobei neben der Fähigkeit und Bereitschaft zur Reflexion des eigenen Denkens und Handelns auch die Erfahrung und das Bauchgefühl eine wichtige Rolle spielen. Fazit In den bisherigen Ausführungen wurde einerseits die Bedeutung der Zeit als Ressource sozialpädagogischen Handelns und andererseits die darauf aufbauende Bedeutung der Zeitkompetenz der Fachkräfte, um zeitliche Herausforderungen in der Praxis zu bewältigen, deutlich. Angesichts der Schwierigkeit, Unsicherheit oder Widersprüchlichkeit der Handlungssituationen, insbesondere aufgrund des Zeitdrucks in sozialen Berufen, kann die Zeitkompetenz also auch als ein Kennzeichen von Professionalität betrachtet werden. Aus diesen Gründen ist es wichtig, in der Profession der Sozialen Arbeit die Debatten um Zeit in Ge- 416 uj 10 | 2020 Sozialpädagogische Zeitkompetenz sellschaft und Wissenschaft - beispielsweise in Form der Erziehungs-Zeit, Lern-Zeit, aber auch: Care-Zeit - aufzugreifen und dabei einerseits auf die Wichtigkeit der Zeitkompetenz der Fachkräfte hinzuweisen und andererseits durch (zeit-)politische Maßnahmen die Rahmenbedingungen mitzugestalten, damit zeitkompetentes Handeln der Fachkräfte im beruflichen wie privaten Kontext auch tatsächlich möglich ist. Prof. Dr. Michael Görtler E-Mail: michael.goertler@web.de Literatur Achtziger, A., Gollwitzer, P. M. (2009): Rubikonmodell der Handlungsphasen. In: Brandstätter, V., Otto, J. H. (Hrsg.): Handbuch der Allgemeinen Psychologie - Motivation und Emotion. Hogrefe, Göttingen, 150 - 156 Augustinus, A. (1888): Bekenntnisse, Elftes Buch, Vierzehntes Kapitel, Übersetzung von Otto F. Lachmann. Leipzig Combe, A., Helsper, W. 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