eJournals unsere jugend 72/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2020
7210

Wie können Implementierungen von Innovationen gelingen?

101
2020
Daniel Niebauer
Wolfgang Klug
Maria Wolf
Die Implementierung von Innovationen stellt für Organisationen aus dem Bereich der Sozialen Arbeit eine große Herausforderung dar. Wie können entsprechende Implementierungsprozesse gelingen? Und welche Faktoren wirken dabei hemmend? Im Rahmen einer Evaluationsstudie in einem Jugendamt ließen sich diesbezüglich Erkenntnisse gewinnen, die im vorliegenden Beitrag näher beleuchtet werden.
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424 unsere jugend, 72. Jg., S. 424 - 432 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art67d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Wie können Implementierungen von Innovationen gelingen? Erkenntnisse einer Evaluationsstudie in einem Jugendamt zur „Wirkungsorientierten Steuerung“ der Kinder- und Jugendhilfe Die Implementierung von Innovationen stellt für Organisationen aus dem Bereich der Sozialen Arbeit eine große Herausforderung dar. Wie können entsprechende Implementierungsprozesse gelingen? Und welche Faktoren wirken dabei hemmend? Im Rahmen einer Evaluationsstudie in einem Jugendamt ließen sich diesbezüglich Erkenntnisse gewinnen, die im vorliegenden Beitrag näher beleuchtet werden. von Prof. Dr. Daniel Niebauer Jg. 1987; Professor für Pädagogik (in Vertretung) an der Fakultät für Soziale Arbeit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Ausgangssituation Die Hilfen zur Erziehung, wie die Soziale Arbeit allgemein, unterliegen der Beweispflicht, dass ihre Leistungen wirksam sind. Unumstritten ist dabei das Kostenargument (Seithe 2012). Allerdings wird die Kinder- und Jugendhilfe angesichts des steigenden Aufwands nicht daran vorbeikommen, ihren Ressourceneinsatz in ein Verhältnis zu ihren Wirkungen zu setzen. Unstrittig ist jedenfalls aus fachlicher Sicht, dass der Eingriff in die Lebensführung und die Selbstbestimmung der AdressatInnen Sozialer Arbeit legitimiert sein muss. Genauso notwendig ist eine Legitimation sozialarbeiterischer Hilfen gegenüber der öffentlichen Hand. Damit gelangt die Wirksamkeit von Interventionen in den Fokus, wodurch für Mitarbeitende sozialer Organisationen wesentliche Veränderungen in der Anwendung ihres Instrumentariums einhergehen (Polutta 2014, 49f ). Seit der Einführung der §§ 78 a - g SGB VIII 1999, und spätestens seit der Umsetzung des Bundesmodellprogramms „Wirkungsorientierte Jugendhilfe“ 2006, wurden in diversen Kommunen wirkungsorientierte Steuerungsverfahren in der Jugendhilfe implementiert (Polutta 2014, 97). Prof. Dr. Wolfgang Klug Jg. 1960; Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt mit den Forschungsschwerpunkten u. a. Case Management und Motivationsarbeit im Zwangskontext Maria Wolf Jg. 1984; Dipl. Sozialarbeiterin/ Dipl. Sozialpädagogin (FH), Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt 425 uj 10 | 2020 Wirkungsorientierte Steuerung im Jugendamt Auch in dem von uns untersuchten Jugendamt kann die Implementierung eines Projektes zur „Wirkungsorientierten Steuerung in der Kinder- und Jugendhilfe (WSKJ)“ festgestellt werden. Die Zielsetzung hierbei ist es, die Steuerung der Hilfen zur Erziehung auf Wirksamkeit auszurichten und ein neues (weiterentwickeltes) Hilfeplanverfahren dauerhaft in der Praxis zu etablieren. Diese Veränderungen auf der Steuerungs- und Fallebene lassen sich als eine Innovation im Kontext der Sozialen Arbeit verstehen, mit deren Implementierung das untersuchte Jugendamt folgende Ziele erreichen möchte: Auf der Fallebene: ➤ Es wird eine am Case-Management orientierte Hilfeplanlogik eingeführt. Diese sieht vor, die Fallverantwortung durchweg beim öffentlichen Träger zu verankern und somit eine eindeutige Ansprechperson für die Leistungsberechtigten und die Maßnahmeträger zu schaffen. Die federführende Fachkraft des öffentlichen Trägers ist insbesondere für die Sicherung der Partizipationsmöglichkeiten der Eltern/ Personensorgeberechtigten und der jungen Menschen sowie für die Steuerung des gesamten Verfahrens verantwortlich. Somit soll das Erreichen der mit den KlientInnen vereinbarten Ziele gewährleistet werden. Während des gesamten Verfahrens, also auch nach der Hilfeplanvereinbarung, liegt die Fallverantwortung beim öffentlichen Träger, wonach im Sinne eines die Wirkung feststellenden „Monitorings“ eine regelmäßige Hilfeplan- Überprüfung durchzuführen und ggf. (wirkungsorientiert) nachzusteuern ist. ➤ Weiterhin sind umfassende Fortbildungsmaßnahmen für die Fachkräfte des öffentlichen Trägers und der freien Träger mit der flächendeckenden Einführung des neuen Hilfeplanverfahrens verbunden. Neben dem Fachverfahren muss die Wirkungsmessung in den Erziehungshilfen auch eine werteorientierte, partizipative und subjektorientierte Pädagogik sicherstellen, sodass die Schulungen ebenfalls darauf abzielen, eine partizipative Haltung bei den Fachkräften des öffentlichen Trägers und der freien Träger zu stärken. Auf der Steuerungsebene: ➤ Kernstück der Innovation sind Steuerungsdialoge mit den Maßnahmeträgern im Hinblick auf die Wirksamkeit der erbrachten Leistungen. Diese sollen nach einem standardisierten Gesprächsleitfaden und auf Grundlage eines auf Wirkungsdaten basierenden Datenreports geführt werden. ➤ Im Endeffekt soll das Verfahren auch Daten zur politischen Steuerung liefern. Insbesondere geht es hierbei darum, Lücken im sozialen Netz der Kinder- und Jugendhilfe zu entdecken. Evaluationsauftrag und methodisches Vorgehen Die Kath. Uni. Eichstätt-Ingolstadt (Fakultät für Soziale Arbeit, Professur für Methoden der Sozialen Arbeit) wurde im Zeitraum 2016 - 2018 mit einer Begleitevaluation des Implementationsverfahrens der WSKJ-Innovation betraut, die folgende Fragestellungen und methodischen Zugänge umfasst: a) Im Rahmen einer Aktenanalyse (Lehmann/ Klug/ Burghardt 2014) wurden Handhabbarkeit und Dokumentationsqualität des weiterentwickelten Hilfeplanverfahrens sowie die Wirksamkeit der Instrumente zur Qualitätssicherung untersucht. Hierfür wurden anhand einer Zufallsstichprobe 44 Fallakten des öffentlichen Trägers miteinbezogen. b) Der Implementierungsgrad von WSKJ im Arbeitsalltag und die Identifikation von Umsetzungsproblemen beim öffentlichen Träger und bei den freien Trägern wurden anhand leitfadengestützter Interviews (Döring/ Bortz 2016, 356f ) mit fünf Fach- 426 uj 10 | 2020 Wirkungsorientierte Steuerung im Jugendamt kräften des öffentlichen Trägers und sechs Fachkräften der freien Träger untersucht und inhaltsanalytisch (Mayring 2015) ausgewertet. c) Um die Umsetzung von Schulungen, Fortbildungen und Wissensmanagement möglichst in Breite abbilden zu können, wurde eine quantitative Onlinebefragung (Kuckartz et al. 2009) an alle MitarbeiterInnen adressiert. An der Onlinebefragung beteiligten sich 43,5 % der Mitarbeiterschaft des öffentlichen Trägers und 56,5 % der freien Träger. d) Die Funktion und die Leistungsfähigkeit der Kooperationsstrukturen intern und extern konnten anhand von Gremienbeobachtungen (Döring/ Bortz 2016, 323f ), der Analyse von Prozessen und Protokollen (Döring/ Bortz 2016, 533f ) sowie leitfadengestützten Interviews (Döring/ Bortz 2016, 356f ) mit neun Leitungs- und Steuerungskräften untersucht und inhaltsanalytisch (Mayring, 2015) ausgewertet werden. e) Aufgrund von Zwischenergebnissen im laufenden Evaluationsprozess sollten abschließend Erkenntnisse für eine alternative Implementierungsstrategie entwickelt werden. Hierzu wurden weitere Befragungen zentraler Personen der operativen Ebene (fünf leitfadengestützte Interviews und eine Fokusgruppe mit vier Fachkräften) als auch der Steuerungsebene (drei leitfadengestützte Interviews) des öffentlichen Trägers durchgeführt und inhaltsanalytisch (Mayring 2015) ausgewertet. Zentrale Ergebnisse der Evaluation Angesichts der Komplexität der Fragestellungen möchten wir an dieser Stelle auf die genaue Darstellung von statistischen Werten verzichten. Stattdessen geben wir nur die generalisierbaren Ergebnisse wieder, die sich auf die Implementierung von WSKJ als Innovation sowohl auf der Fallebene als auch auf der Steuerungsebene beziehen. Formale und inhaltliche Umsetzung des Hilfeplanverfahrens Hinsichtlich der formalen Umsetzung zeigt sich, dass die Dokumentationsqualität im Laufe des Hilfeprozesses abnimmt. Entgegen der Annahme, dies geschehe immer dann, wenn standardisierte Dokumente verwendet werden müssen, ist zu erkennen, dass das Fehlen standardisierter Dokumentationsvorschriften innerhalb eines Prozessschrittes nicht unmittelbar zu einer geringeren Dokumentationsqualität führt. Eine fachliche Bewertung - im Sinne der inhaltlichen Qualität der Umsetzung des weiterentwickelten Hilfeplanverfahrens - wurde anhand der folgenden vier Kriterien vorgenommen: Bezüglich (1) Partizipation ist zu erkennen, dass die Partizipationswerte der Eltern/ Personensorgeberechtigten deutlich höher sind als die der jungen Menschen. Jedoch sind hohe Werte häufig nur für eine „formale Partizipation“ - in Form von Unterschriften - zu verzeichnen. Ein (2) ressourcenorientierter Blick ist insbesondere in der initialen Fallbeschreibung zu erkennen, während ressourcenorientierte Ziele nur sehr selten in den Akten zu finden sind. Für die Umsetzung des Hilfeplanverfahrens im Sinne einer (3) Case- Management-Logik zeigen sich für die „Monitoring“-Phase deutliche formale und inhaltliche Schwächen, während Assessment und Hilfeplanung meist vorhanden sind. Eine Verknüpfung einer Einzelfallentscheidung mit (4) wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Wirkungsforschung ist lediglich in einer einzigen Akte dokumentiert. Damit wird - zumindest aus diesem (begrenzten) Blickwinkel - deutlich, dass bei der Entscheidungsfindung im Einzelfall die Wirkungsforschung zumindest explizit keine große Rolle spielt. Abschließend ist zu betonen, dass im Anschluss an das Assessment und die Hilfeplanung auffallend häufig ein Wechsel der federführenden Fachkraft stattfindet. Dadurch sind in einem hohen Maße unmittelbare Brüche der Beziehungskonstanz zu einer Bezugsperson des öffentlichen Trägers zu erkennen. 427 uj 10 | 2020 Wirkungsorientierte Steuerung im Jugendamt Implementierungsprozess und Umsetzungsprobleme im Arbeitsalltag Von den Fachkräften wird ein mangelnder Informationsfluss bei der Einführung von WSKJ festgestellt, der sich tendenziell von „oben“ nach „unten“ vollzogen habe. WSKJ wird insgesamt als „schwierig“ in der unmittelbaren Arbeit mit den Leistungsberechtigten wahrgenommen. Insbesondere der intensivere Austausch mit den Eltern, der eine entsprechende Mitarbeit und Partizipation fördern soll, scheint eine große Herausforderung darzustellen, wie folgendes Zitat einer Fachkraft des öffentlichen Trägers verdeutlicht: Befragter: […] da haben wir festgestellt, die Eltern nervt, das. Ja, dass sie dreimal reinkommen müssen innerhalb von ’nem halben Jahr und über das ein und dasselbe. Die ein und dieselben Ziele sprechen müssen. Wir ham das schon mal durchgekaut und warum jetzt schon wieder. Wie auch immer. Und dann ham wir uns entschlossen, eben, und des a bissl verkürzt zu machen. Und ähm, ähm, und an der praktischen Arbeit, irgendwie, mit den Eltern. (ÖT_III; Z: 151 - 160) Grundsätzlich sei WSKJ ein guter Handlungsleitfaden, wenngleich von vielen Fachkräften keine wesentliche Änderung zur früheren Praxis gesehen wird. Die EDV-gestützte Dokumentation sei sehr mühsam und starr, die EDV zwinge eine fachfremde Logik auf. Insgesamt wird das standardisierte und Schritt für Schritt beschriebene Verfahren von den Fachkräften als zu unflexibel für den Einzelfall bewertet. Zudem ist nur etwa ein Drittel der Befragten des öffentlichen Trägers überzeugt, dass WSKJ (große) Potenziale für die Leistungsempfänger birgt. Ein wesentlicher Teil der Befragten des öffentlichen Trägers sieht einen Widerspruch des eigenen Grundverständnisses von Sozialer Arbeit zu dem von WSKJ. An dieser Bewertung änderten auch die umfangreichen Qualifizierungsmaßnahmen nichts. Bei der Befragung zeigte sich die überwiegende Mehrheit (eher) unzufrieden mit den Schulungen und empfindet diese als nicht hilfreich. Interessant dabei ist, dass unmittelbar nach der Maßnahme die Rückmeldungen zu den Schulungen durchaus positiv waren, in der Befragung ein halbes Jahr später aber deutlich negativ ausschlugen. Das könnte daran liegen, dass sich die erlernten Inhalte aus Sicht der Fachkräfte im „Praxistest“ als nicht transferierbar erwiesen haben. Kooperationsstrukturen intern und extern Als besonders problematisch wird das traditionell gute Verhältnis zwischen öffentlichen und freien Trägern beschrieben. Es werde durch die Implementierung von WSKJ (zumindest) vorübergehend irritiert, was u. a. auf eine Verunsicherung durch die neue Rolle des Jugendamtes zurückzuführen sein könnte. Die Untersuchungsergebnisse machen deutlich, dass die Komplexität des Verhältnisses vom öffentlichen Träger zu den freien Trägern, und die Auswirkungen der neuen Steuerungsidee auf dieses Verhältnis, offenkundig unterschätzt wurden. Mit der Einführung der neuen Steuerungsphilosophie bricht die ursprünglich auf Dialog angelegte Kommunikationsstruktur zwischen dem öffentlichen Träger und den freien Trägern zusammen, sodass es zunehmend zu Meinungsverschiedenheiten kommt, wodurch sich zeigt, dass Unklarheit und Uneinheitlichkeit bezüglich der Zielsetzung der Einführung der Steuerungslogik bestehen. Als Folge dieser Irritation kommt es zu einer „Neudefinition“ der Rollen im Sinne einer Rückentwicklung zu alten Verhältnissen: Durch einvernehmliche, „interne Vereinbarungen/ Absprachen“ der Basis wird der normierende und vereinheitlichende Charakter der Steuerungsfunktionen des Jugendamtes sehr stark relativiert, was so weit geht, dass bestimmte Handlungsschritte sogar eliminiert werden. 428 uj 10 | 2020 Wirkungsorientierte Steuerung im Jugendamt Versuch einer Interpretation Parpan-Blaser (2011, 187) hat folgende Ebenen empirisch herausgearbeitet, die für die Implementierung von Innovationen im Kontext der Sozialen Arbeit bedeutsam sind und auf denen sich sowohl förderliche als auch hemmende Faktoren ansiedeln lassen: a) Die Ebene der Haltung und Kultur, womit die grundsätzlichen Einstellungen aller Akteure und die Organisationskultur erfasst werden. b) Die Ebene der Mitarbeitenden, die die Ausstattung der Fachkräfte hinsichtlich ihres professionellen Handelns in den Blick nimmt. c) Die Ebene der Führung und Leitung, wodurch die Prozessgestaltung, Steuerung und die Bereitstellung von Rahmenbedingungen in den Vordergrund rückt. d) Die Ebene der Institution, wonach institutionstypische Strukturen und Prozesse beleuchtet werden. Methodik und Haltungen In Anlehnung an die Ebenen a. und b. möchten wir nachfolgend zentrale fachlich-methodische Aspekte, die sich primär der Fallebene der WSKJ zuordnen lassen, aus den Evaluationsergebnissen herausstellen und entsprechend diskutieren. Das weiterentwickelte Hilfeplanverfahren konnte auf der Fallebene nicht als Ganzes implementiert werden, wofür einige fachlich-methodische Aspekte verantwortlich zu sein scheinen. Ein Blick in die Wissenschaft (vgl. u. a. von Spiegel 2018; Stimmer/ Ansen 2016) zeigt - in etwas verkürzter und idealtypischer Form - , dass eine professionelle Handlungskompetenz sowohl durch (1) Kompetenzen auf der Fach-, Sach- und Methodenebene als auch durch (2) Kompetenzen auf der Haltungs- und Beziehungsebene gekennzeichnet ist. Professionelle Fachkräfte zeichnen sich also dadurch aus, dass sie auf Beschreibungs-, Erklärungs-, Werte- und Veränderungswissen zurückgreifen können. Anhand dessen werden fallspezifisch soziale Problemlagen erklärt, analysiert und zielgerichtet verändert. Dieses professionelle Wissen und das Methodenrepertoire stehen jedoch in einem untrennbaren Zusammenhang mit der eigenen professionellen Haltung, wie von Spiegel (2018, 88f ) sehr treffend formuliert: „Handlungen und Haltungen gehören zusammen: Hinter jeder Handlung steht eine Haltung und umgekehrt drückt sich jede Haltung in bestimmten Handlungen aus“. Eine professionelle Haltung formt die eigene professionelle Identität sowie das eigene Professionsverständnis und hat unmittelbare Auswirkungen auf die methodische Gestaltung der konkreten Fallarbeit. In diesem Zusammenhang konstatieren Otto et al. (2010, 17), dass die Standardisierung organisationaler Verfahren und sozialarbeiterischer Handlungspraktiken im Konflikt zu den üblichen fallinterpretativ-hermeneutischen Ermessens- und Entscheidungsspielräumen als Gütekriterium professioneller Sozialer Arbeit stehen kann. Die Folge hieraus kann eine erhebliche Diskrepanz zwischen der habituellen Passung der Fachkräfte und den wirkungsorientierten Verfahren sein. Wenn wir dies auf unsere Forschungserkenntnisse übertragen, so ist zunächst festzustellen, dass die Fachkräfte des öffentlichen Trägers auf der Handlungsebene innerhalb einiger Prozessschritte durchaus Elemente von WSKJ verinnerlicht haben und diese erfolgreich umsetzen. Da es sich hierbei überwiegend um Prozessschritte handelt, die bereits vor der Einführung von WSKJ zu den zentralen, methodischen Aufgaben der Mitarbeitenden gehörten, scheint es naheliegend, dass bei diesen Handlungsschritten keine weitreichenden Defizite auf der Wissensebene existieren und es auch zu keinen massiven Widersprüchen mit den bisherigen eigenen Haltungen kommt. Die wesentlichen Irritationen werden bei denjenigen Prozessschritten offenkundig, die von maßgeblichen Veränderungen durch die Einführung der Inno- 429 uj 10 | 2020 Wirkungsorientierte Steuerung im Jugendamt vation gekennzeichnet sind (Brown 2010; Parpan-Blaser 2011, 189f; 2018 b, 269f ). Im Rahmen der Hilfeplanung und insbesondere des Monitorings scheinen die methodischen Veränderungen nicht mit den (bisherigen) Haltungen und dem (bisherigen) Professionsverständnis der Fachkräfte einherzugehen, sodass es zu unterschiedlichen „(Auf-)Lösungen“ dieses Widerspruchs aufseiten der Fachkräfte kommt (z. B. Umgehen einzelner Prozessschritte; regionale, individuelle Absprachen). Die wesentlichen Paradigmen, die hinter der „Methodik“ von WSKJ liegen (u. a. Partizipation, Ressourcenorientierung, Monitoring und kontinuierliche Fallverantwortung), zählen jedoch zu den zentralen Wirkfaktoren in den Hilfen zur Erziehung (Macsenaere/ Esser 2015). Demnach wäre es neben einer Schulung und Wissensvermittlung zur Methodik zwingend notwendig gewesen, in einem partizipativen und diskursiven Entwicklungsprozess (West/ Hirst 2003) professionstheoretische Fragestellungen und professionelle Haltungen der Fachkräfte ausreichend zu reflektieren, um insbesondere deren Identifikationsgefühl mit WSKJ zu stärken. Implementierungsstrategien In Anlehnung an die oben genannten Ebenen c. und d. von Parpan-Balser möchten wir nachfolgend zentrale kommunikationsstrukturelle und prozessstrategische Aspekte, die sich primär der Steuerungs- und Leitungsebene zuordnen lassen, aus den Evaluationsergebnissen herausstellen und entsprechend diskutieren. Die Einsicht in die Notwendigkeit von WSKJ, die von der Steuerungsebene nachhaltig vertreten wird, hat sich offenkundig nicht auf die Ebene der MitarbeiterInnen transportieren lassen. So ist zu konstatieren, dass die Kommunikationswege zwischen strategischer und operativer Ebene, die für die Implementierung einer Innovation von entscheidender Bedeutung sind (Parpan-Blaser 2011, 191f; Posch 2018), nicht systematisch ausgebaut wurden. Wesentliche Entscheidungen, z. B. Inhalte der Qualifizierungen und Notwendigkeiten von Nachqualifizierungen, werden kaum datengestützt getroffen, sondern basieren auf Annahmen. Unumgänglich für eine Implementation umfangreicher Veränderungen ist ein projektbezogenes Wissensmanagementsystem, das gezielt Daten zum Zwecke der Steuerung der Umsetzung erhebt, Führungskräfte mit relevanten Daten versorgt und in einer Ist-Soll-Analyse zur Entscheidungsfindung verhilft. Zudem ist es unerlässlich, ein Innovationsprojekt kommunikativ und partizipativ in der gesamten Organisation zu verankern (Posch 2018). Viele Fachkräfte des öffentlichen Trägers fühlen sich jedoch mangelhaft eingebunden und haben den Eindruck, dass WSKJ für sie keine Verbesserung bedeutet. Auch durch den Einsatz der „gängigen“ kommunikativen Instrumente (insbesondere Dienstanweisungen, Gremienarbeit, Newsletter, Fortbildungen) kann offenbar nicht verhindert werden, dass die Fachkräfte an der operativen Basis „Wirkungsorientierte Steuerung“ als überreguliertes Verfahren wahrnehmen, das „von oben aufoktroyiert“ ist und mit ihrer Fachlichkeit wenig zu tun hat. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass es hier um die Darstellung struktureller (und nicht personeller) Probleme der internen Kommunikation geht: Die Rückkopplung von Ergebnissen mit den Fachkräften, die Motivationsarbeit im Hinblick auf die Fachkräfte, die Entwicklung einer gemeinsamen Vision und insbesondere eines gemeinsamen Professionsverständnisses sind durch die vorgegebene Struktur erheblich erschwert. Strukturparameter sind aber, wie wir aus der Organisationsforschung wissen, elementar für den Erfolg von Entwicklungsprojekten (Parpan-Blaser 2018 b) und können nicht ohne Weiteres durch informelle Kontakte ersetzt werden. Parpan-Blaser (2018 b, 265) identifiziert drei zentrale Kriterien, die ein Projekt scheitern lassen können: 430 uj 10 | 2020 Wirkungsorientierte Steuerung im Jugendamt ➤ fehlende Unterstützung durch die Leitung (normative Ebene) ➤ schwerwiegende Akzeptanzprobleme bei denen, die unmittelbar mit den Veränderungen arbeiten sollen (operative Ebene) ➤ fehlende Bedarfsklärung (strategische Ebene) Dies legt folgende Aufgabenteilung nahe: Die normative (oberste) Ebene gibt Zielvorgaben und setzt die Leitlinien und Leitziele. Zu den wichtigsten Aufgaben der strategischen Steuerung gehören die Ermöglichung von Partizipation, die Verarbeitung von Sachstandsinformationen und der Einsatz von Ressourcen zur Verwirklichung von normativ vorgegebenen Zielen. Die operative Ebene wiederum muss die Ergebnisse der von ihr verantworteten Umsetzung rückmelden und mögliche Probleme mit der strategischen Steuerung kommunizieren, welche Letztere zu modifizierten Strategien veranlasst. Der Regelkreis aus Informationsgewinnung, Informationsverarbeitung und Anpassungsveränderungen (Rüegg-Stürm 2005; siehe Abb. 1) darf während eines Entwicklungsprozesses an keiner Stelle längerfristig durchbrochen werden, weil sonst die Bewertungen des Verwirklichungsstandes zwischen den verschiedenen Ebenen auseinanderdriften und ein gemeinsames Verständnis von Zielen und dazu nötigen Mitteln nicht mehr gewährleistet ist. Was in Entwicklungsprojekten unter allen Umständen vermieden werden muss, ist die unkoordinierte und getrennte Weiterentwicklung eines Modells innerhalb verschiedener Abteilungen eines Trägers. Ansonsten besteht die Gefahr, dass am Ende keine gemeinsame Wahrnehmung mehr über Vision, Ziele und den Entwicklungsstand verbleibt (Parpan-Blaser 2018a, 42; West/ Hirst 2003) und - schlimmer noch - kein klares Bild der Organisationsteile voneinander vorhanden ist. Gerade große Träger können hier kommunikativ an ihre Grenzen stoßen. Informieren, beteiligen, ordnen Partizipieren, umsetzen, rückmelden Normative Vorgaben Strategische Steuerung Operative Umsetzung Abb. 1: Regelkreis Strategische Steuerung und Operative Umsetzung 431 uj 10 | 2020 Wirkungsorientierte Steuerung im Jugendamt Klarheit und Kommunikation der Ziele In einem funktionalen Modell einer organisationalen Veränderung ist also ein dauernder strukturell angelegter Dialog zwischen strategischer und operativer Ebene zur Umsetzung der normativen Vorgaben nötig. Voraussetzung hierfür ist die Klarheit der Ziele, die von der normativen Ebene vorgegeben sind. Was WSKJ betrifft, können wir eine fast durchgängig vorhandene, normative Unklarheit erkennen, die sich auf allen Ebenen fortsetzt. Sind schon die offiziellen Ziele von WSKJ anspruchsvoll (auf mehreren Steuerungsebenen angesiedelt, verbunden mit umfangreichen, technischen Herausforderungen), bleiben sie im Laufe des Prozesses in entscheidenden Fragestellungen uneindeutig (z. B. Wirkungsorientierung als Belegungssteuerung oder Qualitätsentwicklung? ) und werden zudem mit nicht offen kommunizierten, aber doch gewünschten Zielen angereichert, wie z. B. die Professionalisierung der Sozialen Arbeit, eine Vereinheitlichung der fachlichen Vorgehensweise oder eine Neuordnung der Trägerlandschaft. Die mangelnden Kommunikationsbedingungen verbunden mit diesen Zielunklarheiten müssen - auch in Anlehnung an die Erkenntnisse von Durlak und DuPre (2008) - fast zwangsläufig zu einem Auseinanderdriften von strategischer und operativer Ebene führen, da für Letztere die Auswirkungen der Irritationen aufseiten der freien Träger zu einem Problem der Fallarbeit werden. Die Kombination aus fehlender Kommunikation der Ziele und strukturellem Versagen des Wissensmanagements führt zu einer nachhaltigen Spaltung zwischen „oben“ (Führungsebene) und „unten“ (Fachkräfte). Letztere fühlen sich bevormundet, Erstere führen ein Projekt durch, das längst nur noch „auf dem Papier“ existiert. Fazit und Ausblick Unabhängig von dem von uns untersuchten Implementierungsprozess bleibt die Qualitäts- und Wirkungsorientierung als Zielrichtung unverzichtbar, wenngleich wir in diesem Beitrag auf inhaltliche Differenzierungen der Wirkungsdebatte (vgl. u. a. Polutta 2014) nicht ausführlicher eingehen konnten. Vielmehr führt unsere Untersuchung nicht nur die oben ausführlich beschriebenen hemmenden Faktoren auf, sondern auch grundlegende Hinweise zu förderlichen Faktoren hinsichtlich der Implementierung von Innovationen in der Sozialen Arbeit. In Anschluss an die systematische Übersichtsarbeit von Durlak und DuPre (2008) ist abschließend zu konstatieren, dass der Erfolg von Entwicklungen und Implementierungen von Innovationen maßgeblich durch den Einbezug unterschiedlicher (auch externer) Sichtweisen unterstützt wird. Damit erhält der gemeinsame Austausch von Wissenschaft und Praxis im Sinne der Kooperation nach Sommerfeld (2014) einen besonderen Stellenwert bei der Entwicklung und Implementierung komplexer Innovationen in der Sozialen Arbeit. Neben der Verschränkung von Wissensbeständen aus Wissenschaft und Praxis wäre es notwendig, die AdressatInnen Sozialer Arbeit verstärkt an Entwicklungs- und Implementierungsprozessen zu beteiligen, um aus ihrer Perspektive eine ideale „Passung“ zu unterschiedlichen Formen sozialarbeiterischer Maßnahmen zu berücksichtigen (Graßhoff 2015, 99). So ließen sich Innovationen entwickeln und implementieren, die sowohl wissenschaftlich fundiert als auch praxistauglich sind und zudem die Sichtweisen der AdressatInnen Sozialer Arbeit würdigen. Kontakt: Prof. Dr. Daniel Niebauer Professur für Pädagogik (in Vertretung) Fakultät für Soziale Arbeit Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Kapuzinergasse 2 Zimmer Kap-228 D-85072 Eichstätt Tel.: +49 84 21 9 32 16 50 E-Mail: dniebauer@ku.de 432 uj 10 | 2020 Wirkungsorientierte Steuerung im Jugendamt Literatur Brown, L. (2010): Balancing Risk and Innovation to Improve Social Work Practice. 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