unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Integrations- und Teilhabechancen junger Menschen mit Fluchtgeschichte durch Jugendarbeit fördern
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2020
Anika Metzdorf
Rebecca Schmolke
Die Bedeutung von Jugendarbeit als Ort, um sich mit der Welt auseinanderzusetzen und Selbstwirksamkeit sowie demokratische Prozesse zu erleben, wird für junge Menschen mit Fluchtgeschichte kaum diskutiert. Der Beitrag widmet sich daher der Frage, welche Integrationspotenziale der Jugendarbeit inhärent sind und wie diese für die Zielgruppe nutzbar gemacht werden können.
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433 unsere jugend, 72. Jg., S. 433 - 439 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art68d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Anika Metzdorf Jg. 1990; M. A. Soziale Arbeit/ Schwerpunkt „Integration und Bildung“, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz gGmbH (ism) Integrations- und Teilhabechancen junger Menschen mit Fluchtgeschichte durch Jugendarbeit fördern Die Bedeutung von Jugendarbeit als Ort, um sich mit der Welt auseinanderzusetzen und Selbstwirksamkeit sowie demokratische Prozesse zu erleben, wird für junge Menschen mit Fluchtgeschichte kaum diskutiert. Der Beitrag widmet sich daher der Frage, welche Integrationspotenziale der Jugendarbeit inhärent sind und wie diese für die Zielgruppe nutzbar gemacht werden können. Jugend vor fluchtbedingten Herausforderungen Junge Menschen mit Fluchtgeschichte sind nach ihrem Ankommen in Deutschland mit einer Vielzahl an Herausforderungen konfrontiert, wie die nachfolgende Abbildung (Abb. 1) im Überblick verdeutlicht. Auf der einen Seite müssen sie sich wie alle jungen Menschen jugendspezifischen Bewältigungsaufgaben stellen: die Abnabelung vom Elternhaus, die Entwicklung eigener Zukunftsvorstellungen, ein Sich-Auseinandersetzen mit der Welt und ihren Werten, die Entwicklung eigener Wertevorstellungen, das Erleben und Einüben demokratischer Prozesse - schlicht die Designerin oder der Designer des eigenen Lebens zu werden. Auf der anderen Seite gilt es für sie aber auch, Fluchterfahrungen und möglicherweise damit einhergehende (psychische) Belastungen zu verarbeiten, die deutsche Sprache zu erlernen und sprachliche Barrieren zu überwinden. Zudem müssen sie andere Systemlogiken und eine Gesellschaft mit vielleicht zunächst fremd erscheinenden Normen und Wertvorstellungen kennenlernen, schulische Bildung erlangen und dabei mit unklaren Bleibeperspektiven, dem Verlust von Bezugspersonen, der räumlichen Trennung von Familie und Freundeskreis und der Ungewissheit über die politische Situation im Herkunftsland zurechtkommen. Dabei ist ihr Alltag oftmals von Restriktionen, Zugangseinschränkungen und Passivität geprägt: Zugänge zu Systemen und Angeboten bleiben aufgrund von Aufenthaltstitel oder ungeklär- Dr. Rebecca Schmolke Jg. 1988; Erziehungswissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz gGmbH (ism) 434 uj 10 | 2020 Integrationspotenziale der Jugendarbeit tem Rechtsstatus teils beschränkt, Verfahrensabläufe erfordern viel Geduld und bringen häufig lange Wartezeiten mit sich, individuelle oder familiale Erwartungen können nicht immer erfüllt werden - die jungen Menschen befinden sich in vielerlei Hinsicht in einer Art Schwebezustand (vgl. Karpenstein/ Klaus 2019) und müssen sich dabei einem Spannungsfeld zwischen „einem ‚nicht mehr‘ integriert sein im Herkunftsland und einem ‚noch nicht‘ integriert sein in der Aufnahmegesellschaft“ (Maykus 2017, 209) stellen. Integrationspotenziale der Jugendarbeit Der Jugendarbeit kommt hier eine zentrale Bedeutung zu, wenn auch ihre Relevanz für junge Menschen mit Fluchtgeschichte im Prozess ihres Erwachsenwerdens bislang kaum in den Betrachtungsmittelpunkt gerückt wurde. Die Jugendarbeit bildet mit ihren Angeboten die dritte Säule der Sozialisation neben dem Elternhaus und der Schule, indem sie es jungen Menschen über Gelegenheitsstrukturen ermöglicht, soziale Beziehungen jenseits formalisierter und vordefinierter Settings zu gestalten. Jugendarbeit kann damit als „eines der Hauptfelder der Einübung von demokratischem Handeln in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen“ (Deinet et al. 2002, 695) verstanden werden, in der politische Prozesse und demokratisches Handeln nicht rein theoriebasiert und damit abstrakt vermittelt, sondern real praktiziert und damit erst erfahrbar gemacht werden (vgl. Deinet et al. 2002). Wie für alle jungen Menschen bietet die Jugendarbeit auch für junge Menschen mit Fluchtgeschichte einen essenziellen Lernraum, allerdings - und das ist ihr entscheidender Vorteil Junge Menschen mit Fluchtgeschichte Jugendspezifische Anforderungen Fluchtspezifische Anforderungen Bildung eigener Zielvorstellungen (Berufliche Orientierung/ Geschlechterrollen) Abnabelung vom Elternhaus Selbstwirksamkeit erfahren Sich mit der Welt und ihren Werten auseinandersetzen Erleben und Einüben demokratischer Prozesse Designer(in) des eigenen Lebens sein Verarbeitung von Fluchterfahrung und möglichen psych. Belastungen Schulische Bildung und Überwindung sprachlicher Barrieren Kennenlernen anderer Systemlogiken, Normen und Werte Unklare Bleibeperspektiven Mögl. Verlust von Bezugspersonen Trennung von der Familie und Bezugspersonen Erwartungshaltungen aus dem Herkunftsland Abb. 1: Jugend- und fluchtspezifische Anforderungen junger Menschen mit Fluchtgeschichte (eigene Darstellung) 435 uj 10 | 2020 Integrationspotenziale der Jugendarbeit im Vergleich zu anderen Systemen und ihren Logiken - jenseits von formalisierten Kontexten, engen Zielgruppendefinitionen oder bestimmten, an Bedingungen geknüpfte Zugangsvoraussetzungen. Damit kann Jugendarbeit insbesondere für junge Menschen mit Fluchtgeschichte einen niedrigschwelligen Beitrag zur sozialen und gesellschaftlichen Integration leisten, denn gerade das interessengesteuerte Zusammensein mit anderen Jugendlichen gibt Freiräume und die Möglichkeit, sich in erster Linie als ‚jugendlich‘ und nicht ausschließlich als ‚geflüchtet‘ zu erleben. Das machen insbesondere auch die Ergebnisse der qualitativen Untersuchung ‚Junge Geflüchtete in den Angeboten der Jugendarbeit‘ der Universität Siegen deutlich. Junge Menschen mit Fluchtgeschichte scheinen Jugendarbeit mit ihren niedrigschwelligen Zugangswegen insbesondere als Unterstützungsmöglichkeit in unterschiedlichen Lebensbereichen zu sehen. Für sie bieten die Angebote der Jugendarbeit neben Spaß auch Raum für Spracherwerb, Möglichkeiten, Freundschaften zu schließen und Netzwerke aufzubauen. Sie können aber auch das Einfallstor zu (ehrenamtlicher) Verantwortungsübernahme sein. Anschließend an diese wissenschaftlichen Erkenntnisse führte das Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz gGmbH (ism) ein Praxis(weiter)entwicklungsprojekt durch, gefördert durch die Stiftung Ravensburger Verlag. In Kooperation mit der (ebenfalls beim ism angesiedelten) aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) geförderten ‚Servicestelle junge Geflüchtete - Förderung von Integration und Teilhabe‘ konnten gemeinsam mit Praktiker*innen zentrale Hinweise für eine flucht- und migrationssensible Jugendarbeit herausgearbeitet werden, die aufzeigen, welch wichtige Funktion der Jugendarbeit für junge Menschen mit Fluchtgeschichte zukommt bzw. zukommen kann. Nachfolgend werden die zentralen praxisrelevanten Erkenntnisse aus diesem Prozess vorgestellt (vgl. ausführlich Metzdorf/ Schmolke 2020). Jugendarbeit flucht- und migrationssensibel gestalten Zugänge eröffnen und ausgestalten Um Angebote der offenen Jugendarbeit als Orte kennen sowie schätzen zu lernen, an denen junge Menschen zusammentreffen, um in einem zweckungebundenen Raum‚einfach nur jugendlich‘ sein zu können, müssen deren Zugangsmöglichkeiten entsprechend ausgestaltet sein: es braucht Wissen über diese Angebote, deren Ausrichtung und die Möglichkeiten der Teilhabe. Hier sind es insbesondere aufsuchende Zugänge, die eine wichtige und wesentliche Ressource darstellen. Oftmals können mit einer nicht rein über Komm-Strukturen organisierten Arbeit junge Menschen mit Fluchtgeschichte niedrigschwellig(er) erreicht werden. Wie junge Menschen und Familien mit Fluchtgeschichte zukünftig besser erreicht werden können, die nicht in Erstaufnahmeeinrichtungen oder Angeboten der Jugendhilfe untergebracht sind, sprich keinem Unterstützungssystem angeschlossen sind und daher nicht über diesen institutionellen Zugang adressiert werden können, gilt es, in den Mittelpunkt zu rücken. Niedrigschwellige Angebotsausgestaltung Durch die ihr eigenen Arbeitsprinzipien hat die Jugendarbeit eine offene Ausrichtung und bietet jungen Menschen niedrigschwellige Zugänge zu ihren Angeboten. Diese offene Haltung ermöglicht es allen Jugendlichen, den Zugang zur Jugendarbeit zu suchen und die Angebote schon kurz nach der Ankunft in Deutschland zu nutzen. Für junge Menschen mit Fluchtgeschichte, denen die Angebote der Jugendarbeit eventuell noch nicht hinreichend bekannt sind, kann gerade diese Offenheit aber auch eine Zugangsbarriere darstellen: Offene, wenig zweckgebundene oder zielgerichtete Angebote, die zudem ggf. von bereits beste- 436 uj 10 | 2020 Integrationspotenziale der Jugendarbeit henden Cliquenstrukturen dominiert werden, können eher hochstatt niedrigschwellig wirken. Spezielle Angebote können hingegen häufig eher als ‚Einfallstor‘ genutzt werden, sie können den Zugang zu Jugendarbeit oftmals eröffnen und Angebotsstrukturen bekannt machen. Sind Jugendarbeit und ihre Fachkräfte erstmal vertraut, fällt es jungen Menschen eventuell leichter, auch weitere Angebote in Anspruch zu nehmen. Offenheit und Wertschätzung, Neugier und Interesse Die Angebote der Jugendarbeit stehen grundsätzlich allen interessierten jungen Menschen, unabhängig des Alters, Geschlechts, soziökonomischer Voraussetzungen, Weltanschauung, Religion sowie Herkunft, zur Verfügung. Entsprechend diesem Prinzip der Offenheit arbeitet die Jugendarbeit seit jeher mit jungen Menschen, die aus unterschiedlichen Lebenszusammenhängen stammen und je eigene Sichtweisen sowie biografische Erfahrungen mitbringen. Die Arbeit mit unterschiedlichen Zielgruppen ist daher für Fachkräfte der Jugendarbeit kein neues Metier. Dabei orientiert sie sich an den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen selbst, schafft entsprechend mit ihren Angeboten Bezüge zu deren alltäglichen Lebensrealitäten in deren sozialem Nahraum und bietet so die Möglichkeit, diesen mitzugestalten und zu beeinflussen. Entsprechend der sich stetig ändernden Lebenswelten junger Menschen müssen die Angebote der Jugendarbeit mit viel Flexibilität immer wieder neu ausgerichtet und dahingehend überprüft werden, ob sie sich tatsächlich (noch) an den Lebenswelten der jungen Menschen orientieren. So sind junge Menschen mit Fluchtgeschichte eine unter vielen Zielgruppen, denen sich die Jugendarbeit öffnen und deren (ggf. auch neuen) Themen sie sich stellen muss. In der Praxis bedeutet das für die Fachkräfte beispielsweise die Auseinandersetzung mit spezifischen rechtlichen Zusammenhängen und Grundlagen, Informiertheit über die politische Lage in den Herkunftsländern der jungen Menschen, aber auch Konfrontationen mit fluchtspezifischen psychischen Belastungen, Traumata oder Rassismuserfahrungen. Mit der entsprechenden Qualifikation, Vernetzung und Sicherheit können Fachkräfte der Jugendarbeit diesen wie allen anderen Themen der jungen Menschen adäquat begegnen. Als unterstützend zur Qualifizierung und Kompetenzerweiterung werden von Fachkräften selbst zum einen entsprechende Fortbildungsangebote, Informationsmaterialien sowie Räume für Reflexion und Diskussion mit dem gesamten Team beschrieben. Zum anderen aber auch eine wertschätzende, offene Haltung den jungen Menschen und ihren individuellen Geschichten gegenüber sowie den Mut zu haben, auch selbst ‚nicht alles wissen zu müssen‘. Gemeinsame Gespräche, interessiertes Nachfragen sowie offenes Antworten bieten sowohl für junge Menschen als auch für Fachkräfte die Möglichkeit, die eigenen Hintergründe und Haltungen verständlich zu machen. Hier gilt es sowohl für hauptamtliche als auch für ehrenamtliche Fachkräfte, die entsprechenden Strukturen und Lernräume zu schaffen und zu sichern. Aktiver Einbezug der Eltern Die Jugendarbeit sowie die entsprechenden Einrichtungen sind häufig bei der Zielgruppe der jungen Menschen mit Fluchtgeschichte und ihren Familien gänzlich unbekannt. In vielen Ländern existieren keine vergleichbaren Angebote, daraus resultierende grundlegende Verständnisschwierigkeiten können dazu führen, dass Angebote der Jugendarbeit falsch interpretiert und daher nicht angenommen 437 uj 10 | 2020 Integrationspotenziale der Jugendarbeit werden. Eltern junger Menschen mit Fluchtgeschichte fällt es oftmals schwer, der Jugendarbeit und ihren auch zweckungebundenen Angeboten einen Sinn zuzusprechen und zu vertrauen; wird hier doch kein nach außen eindeutiges und einfach abzubildendes Ziel verfolgt (beispielsweise im Gegensatz zu schulischen, auf Wissenserwerb ausgerichteten Angeboten). Ein aktiver(er) Einbezug von Eltern kann ihnen die Logiken und Zielsetzungen der Jugendarbeit deutlich machen und sie dazu befähigen, die positiven Effekte für ihre Kinder zu erkennen und zu verstehen. Das kann Zugänge für junge Menschen eröffnen bzw. erleichtern. Um Missverständnissen entgegenzuwirken sowie das Potenzial und die Möglichkeiten der Jugendarbeit zu verdeutlichen, gilt es auch für Eltern, Familien und wichtige Bezugspersonen junger Menschen mit Fluchtgeschichte Aufklärungsarbeit zu leisten, Informationen weiterzugeben und niedrigschwellige Wege der Vermittlung zu schaffen. Partizipation als Erfahrungsraum Gerade für junge Menschen mit Fluchtgeschichte bietet die Jugendarbeit Erfahrungsräume, um gesellschaftliches Leben aktiv mitgestalten zu können und sich selbst als wirkmächtig zu erleben. Dies kann insbesondere für diese Zielgruppe einen wichtigen Stellenwert einnehmen, die häufig aufgrund asyl- und aufenthaltsrechtlicher Regelungen Einschränkungen und Restriktionen erfahren. Unterstützt und angeleitet können im Rahmen der Jugendarbeit gemeinsam Handlungsmöglichkeiten und Grenzen ausgelotet und dabei Enttäuschungen und Frustration ebenso Raum gegeben werden wie Erfolgserlebnissen. Für die Integration in eine auf Partizipation angelegte Gesellschaft ist das ein zentraler Aspekt. Schlussfolgerungen für eine professionelle und offene Jugendarbeit Die Jugendarbeit kann für junge Menschen mit Fluchtgeschichte in vielerlei Hinsicht zum Unterstützungsanker werden. Sie kann Partizipationsorte bieten, an denen sie Selbstwirksamkeit und Mitbestimmung erleben und sich so nicht mehr ausschließlich in einer passiven, sondern auch in einer aktiven Rolle wahrnehmen können. Sie erleben Angebote, die ihnen nicht aufgrund von rechtlichen Regelungen verwehrt bleiben, sondern von Offenheit geprägt sind und sich an ihren individuellen Lebenswelten orientieren - und dennoch bleibt es ihre freie Entscheidung, ob sie daran teilnehmen möchten oder nicht. Das zweckungebundene Zusammensein mit anderen Jugendlichen ermöglicht es, gemeinsame Interessen zu entdecken und auszuleben oder sich mit unterschiedlichen Werten auseinanderzusetzen und so eine wichtige Grundhaltung demokratischer Gesellschaften kennenzulernen. Junge Menschen mit Fluchtgeschichte finden hier aber auch Orte, in denen sie außerhalb formalisierter Bildungsangebote die deutsche Sprache lernen und Bezugspersonen finden, die ihnen niedrigschwellige Beratungsmöglichkeiten bieten. Dabei wird keine Gegenleistung von ihnen erwartet, Beziehungen werden ohne bestimmte Zielrichtung aufgebaut und junge Menschen werden so angenommen, wie sie sind - unabhängig davon, ob sie Fluchterfahrungen mitbringen oder nicht. So kann gerade für junge Menschen ohne Bezugssystem ein Zugehörigkeitsgefühl entstehen und Teilhabe an Gemeinschaft erfahrbar werden. Um diese Potenziale zu aktivieren und Jugendarbeit auch für junge Menschen mit Fluchtgeschichte zu einem Ort ihrer individuellen Lebenswelten werden zu lassen, bedarf es einer Reflexion der bisherigen Zugangsmöglichkeiten. An die Fachkräfte der Jugendarbeit wird die Anforderung gestellt, durch eine offene Haltung und ein professionelles Selbstverständnis die eigene Praxis 438 uj 10 | 2020 Integrationspotenziale der Jugendarbeit der Jugendarbeit vor Ort weiterzuentwickeln und zu öffnen. So kann Jugendarbeit ein zentrales Instrument für junge Menschen (mit Fluchtgeschichte) am Übergang in ein eigenständiges Leben werden. Es gilt dabei individuell zu hinterfragen: ➤ Bestehen Hürden im Zugang zur Jugendarbeit für diese Zielgruppe? Wie können diese ggf. identifiziert und abgebaut werden? ➤ Gilt es in Zukunft verstärkt auf junge Menschen mit Fluchtgeschichte an für sie relevanten Orten zuzugehen und weniger auf eine reine Komm-Struktur zu setzen? Welche Schritte müssten dafür gegangen werden? ➤ Arbeitet die Jugendarbeit vor Ort ausreichend vernetzt und mit allen relevanten Organisationen sowie Personen zusammen? Wen gilt es zukünftig stärker einzubeziehen und wie können Netzwerkstrukturen erweitert werden? Diese Fragen zu reflektieren und im Team sowie gemeinsam mit relevanten Netzwerkpartner*innen ehrlich zu beantworten, ist hier relevant. Dabei gilt es insbesondere auch einen Blick auf die Angebotsstruktur zu werfen und abzuwägen, ob die Balance zwischen spezifischen und für alle offenen Angeboten gehalten werden kann und tatsächlich den Interessen und Bedarfslagen der jungen Menschen selbst entspricht. Hier kann es zum einen zieldienlich sein, neue Angebote zu schaffen, zum anderen aber auch Zugangshürden bereits bestehender Angebote abzubauen und so Bewährtes für weitere Zielgruppen zu öffnen. Von den Fachkräften erfordert dies ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit. Sich im pädagogischen Arbeitsalltag nicht an Kulturalisierungen als Erklärungsmuster für individuelles Verhalten zu bedienen, ist nicht immer einfach und braucht entsprechende Räume für Diskussion und Austausch im Team, aber auch adäquate Informationssowie Qualifizierungs- und Fortbildungsangebote. Auch eine offene und wertschätzende sowie interessiert-neugierige Haltung bei allen Fachkräften sowie der Mut, sich den eigenen Vorurteilen zu stellen und diese immer wieder zu reflektieren, sind hierbei zentral. Und nicht zuletzt gilt es, Eltern sowie andere Bezugspersonen miteinzubeziehen und auch ihnen die Angebote und Möglichkeiten der Jugendarbeit so zu erklären, damit sie junge Menschen dabei unterstützen können, sich für eine Teilnahme zu entscheiden. So ausgestaltet kann die Jugendarbeit für junge Menschen mit Fluchtgeschichte die Möglichkeit bieten, sich primär als Jugendliche zu erleben, Freundschaften zu schließen und Zugehörigkeit zu erleben. Sie finden hier Schutzräume und müssen keinen Erwartungen nachkommen, Leistung erbringen oder gesellschaftlichen Normen entsprechen. Sie erleben und erlernen aber auch Demokratie und Partizipation, gesellschaftliche Teilhabe und die Möglichkeit, das eigene Leben aktiv zu gestalten. Erkennt die Jugendarbeit ihre Aufgabe an, kann sie - mit entsprechend ausgestalteten Zugängen und Angebotslandschaften - quasi zu einem Integrationsmotor für junge Menschen mit Fluchtgeschichte werden und gerade am Übergang zum Erwachsenwerden sowie in ein eigenständiges Leben ihre Potenziale entsprechend entfalten. Die daraus resultierenden Diskussionen bieten der Jugendarbeit und ihren Fachkräften darüber hinaus aber auch die Möglichkeit, sich als professionelles System zu reflektieren, weiterzuqualifizieren und sich selbst und die eigenen Angebote auf ihre Aktualität und Zielgruppenausrichtung zu überprüfen. Anika Metzdorf Dr. Rebecca Schmolke Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz gGmbH Flachsmarktstr. 9 D-55116 Mainz E-Mail: anika.metzdorf@ism-mz.de rebecca.schmolke@ism-mz.de 439 uj 10 | 2020 Integrationspotenziale der Jugendarbeit Literatur Deinet, U., Nörber, M., Sturzenhecker, B. (2002): Kinder- und Jugendarbeit. In: Schröer, W., Struck, N., Wolff, M. (Hrsg.): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe. Springer VS, Weinheim und München, S. 693 - 713 Karpenstein, J., Klaus, T. (2019): Die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland. Auswertung der Online-Umfrage 2018. Berlin Maykus, S. (2017): Non-formale und informelle Bildung. Jugend im Kontext von Fluchterfahrungen ermöglichen. In: Brinks, S., Dittmann, E., Müller, H. (Hrsg.) (2017): Handbuch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. IGFH, Frankfurt am Main, S. 206 - 215 Metzdorf, A., Schmolke, R. (2020) (Hrsg.): Wir geht nur gemeinsam. Junge Geflüchtete in den Angeboten der Jugendarbeit - eine Arbeitshilfe für die Praxis. Stiftung Ravensburger Verlag, Mainz Weiterführende Informationen zur Servicestelle junge Geflüchtete - Förderung von Integration und Teilhabe können der folgenden Homepage entnommen werden: https: / / www.servicestelle-junge-gefluechtete.de/ Ausführliche Informationen zum Thema „Junge Geflüchtete in Angeboten der Jugendarbeit“ können der gleichnamigen Arbeitshilfe entnommen werden. Abrufbar unter folgendem Link: https: / / www.servicestellejunge -gefluechtete.de/ fileadmin/ upLoads/ Ver% C3%B6ffentlichungen/ ism_gGmbH_Wir_geht_nur_ gemeinsam_2020.pdf Die Arbeitshilfe kann als Druckversion kostenfrei bestellt werden. Bei Interesse können die Mitarbeitenden der Servicestelle unter info@servicestelle-junge-gefluech tete.de kontaktiert werden. 2020. 331 Seiten. 21 Abb. 17 Tab. utb-L (978-3-8252-5354-7) kt Professionell arbeiten Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe müssen in komplexen Situationen zu fachlichen Einschätzungen kommen und schwierige Entscheidungen treffen. Es geht um Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik in emotional meist hoch belasteten Zusammenhängen, die nur schwer zu durchblicken sind. Wie kommt die Profession Soziale Arbeit zu ihren fachlichen Bewertungen? Was sind angemessene Konzepte, auf deren Grundlage diese zustandekommen? Diese und weitere Fragen beantworten die AutorInnen in diesem Buch. Sie liefern Grundlagenwissen und methodische Zugänge für die praktische Umsetzung. a www.reinhardt-verlag.de
