unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art64d
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2020
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Pädagogische Professionalität, Profession, professionelles und professionales Handeln
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2020
Jan Braun
Innerhalb der Diskussion um die Qualität und die Spezifika des beruflichen Handelns von Fachkräften in pädagogischen Handlungsfeldern wird regelmäßig auf Begriffe wie ‚Profession‘ oder ‚professionelles Handeln‘ Bezug genommen. Der Beitrag möchte im Modus einer Begriffsklärung auf deren Differenzen, Verbindungen und Implikationen hinweisen.
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402 unsere jugend, 72. Jg., S. 402 - 409 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art64d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Pädagogische Professionalität, Profession, professionelles und professionales Handeln Eine Begriffsklärung Innerhalb der Diskussion um die Qualität und die Spezifika des beruflichen Handelns von Fachkräften in pädagogischen Handlungsfeldern wird regelmäßig auf Begriffe wie ‚Profession‘ oder ‚professionelles Handeln‘ Bezug genommen. Der Beitrag möchte im Modus einer Begriffsklärung auf deren Differenzen, Verbindungen und Implikationen hinweisen. von PD Dr. Jan Braun Jg. 1981; Dipl.-Soz. Päd./ Soz. Arb. (FH), MA, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Pädagogik, C. v. O. Universität Oldenburg; Lehrbeauftragter im Studiengang Soziale Arbeit, Hochschule Emden/ Leer Untersuchungen zum Themenkomplex „Professionalität“, „professionelles“ und „professionales“ Handeln finden in „Disziplin“ und „Profession“ (Keiner 2011, 199) in Erziehungswissenschaft und Pädagogik seit geraumer Zeit und in beinahe jedem Praxisbereich von Pädagogik statt (Combe/ Helsper 1996; Tippelt 2018; Speck 2014; Braun 2014; Braun 2020). Genannt seien hier z. B. die Schulpädagogik, die Weiterbildung und auch die Sozialpädagogik und Soziale Arbeit insgesamt (Ackermann/ Seek 1999; Heiner 2010; Becker-Lenz/ Busse/ Ehlert/ Müller 2011). In jüngerer Vergangenheit und in der Gegenwart sind auch innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe (Spies/ Stecklina 2015, 22; Struck/ Schröer 2018) vermehrt Diskurse zur Bestimmung und zu den Merkmalen von „Pädagogischer Professionalität“ sowie „professionellem“ und „professionalem Handeln“ zu finden. Ausgehend von dem Leitbild eines „professionellen Selbstverständnisses“ (Struck/ Schröer 2018, 758), das sich „an einer beteiligungsfördernden Grundhaltung“ (Struck/ Schröer 2018, 758) festmacht, ist zu klären, was unter „Pädagogischer Professionalität“ zu verstehen ist und welche Implikationen dieser, durchaus schillernde und diverse Transformationen durchlaufene, Begriff hat. Im Folgenden sollen deshalb die Begriffe: (1) ‚Profession‘ und (2) ‚professionelles und professionales Handeln‘ systematisch, analytisch differenziert und voneinander abgegrenzt erläutert werden. Abschließend werden, auf Basis der vorausgegangenen Aufarbeitung, einige Annahmen zur (empirischen) (3) ‚Erfassung Pädagogischer Professionalität‘ formuliert sowie sich daraus ergebende Desiderata für die Kinder- und Jugendhilfe benannt. 403 uj 10 | 2020 Begriffe der Professionalität Zum Begriff ‚Profession‘ und ‚Professionen‘ „Als Professionen gelten Berufe, die sich durch besondere Erwerbs-, Qualifikations- und Kontrollchancen auszeichnen und deshalb oft ein ausgeprägtes Sozialprestige genießen. Markante und oft untersuchte Beispiele sind die sog. ‚alten‘ Professionen der Ärzte, Juristen und Theologen. Meist werden jedoch auch andere Berufsgruppen in das Feld einbezogen, etwa die sog. ‚Freien Berufe‘.“ (Demszky von der Hagen/ Voß, 2010, 762) ‚Was‘ eine Profession ist, und wer sich als Teil einer solchen „Profession“, also einer besonderen Form von „Beruflichkeit“, begreifen kann und entsprechend legitimiert und adressiert wird (Ricken/ Kuhlmann 2019), wird an dem Zitat von Demszky von der Hagen/ Voß bereits deutlich. Warum jedoch gerade diese besonderen Berufsgruppen, die als „Professionen“ definiert werden können, über die oben genannten Attribute, das Prestige, spezielle Privilegien, aber auch Pflichten verfügen und wie sie in diese gesellschaftliche Position kommen konnten, wird im Folgenden geklärt. Dazu lohnt zum Einstieg eine genauere Betrachtung des Begriffes und dessen Etymologie: Das Wort ‚Profession‘ ist auf das lateinische Verb ‚profiteri‘ (‚bekennen‘ oder auch ‚offen bekennen‘) zurückzuführen (Pfadenhauer 2003, 31; Pfadenhauer/ Sander 2010, 361). Der Begriff enthält damit ein „subjektive[s] Moment des Bekenntnisses im Sinne eines (Ordens-) Gelübdes“ (Pfadenhauer 2003, 31; Pfadenhauer/ Sander 2010, 361; Anp.: J. B.). Folge dieses Bekenntnisses (und einer damit i. d. R. einhergehenden, verbrieflichten Verpflichtung) auf das Allgemeinwohl seitens der Professionsangehörigen soll ein Sonderstatus sein, der bestimmten Berufen bis in die Gegenwart eingeräumt wurde bzw. wird und bspw. auch zu einem hohen gesellschaftlichen Ansehen führt (Kurtz 2002, 49). Schmidt (2008) fasst ‚Professionen‘ aus historischer Perspektive als gesellschaftliche Institutionen auf, die sich während des Übergangs von der Vormoderne zur Moderne als Reaktion auf die „Anfälligkeiten der modernen Gesellschaft (etwa Anonymisierung, Wissensdifferenzierung, Komplexitätssteigerung etc.)“ (Schmidt 2008, 838) entwickelt haben. Aufgrund ihres Problemlösepotenzials wurden sie zu „herausgehobenen, berufsförmig organisierten und für die moderne Gesellschaft besonders relevanten Tätigkeitskomplexen verdichtet“ (Schmidt 2008, 838; Herv. i. Orig.) - welche sich mit zentralen gesellschaftlichen Werten beschäftigen (z. B. „Erziehung, Gerechtigkeit, Gesundheit, Seelenheil etc.“ Kurtz (2002, 49)). Der bereits erwähnte Sonderstatus wird dadurch weiter untermauert. Als ‚klassische‘ (oder ‚alte‘) Professionen wird zumeist die Trias der Berufe der ÄrztInnen, der JuristInnen und des Klerus bezeichnet. Die Möglichkeit der Bezeichnung anderer Berufe (z. B. LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, IngenieurInnen usw.) als Profession ist unter ProfessionsforscherInnen umstritten, wird „anhaltend wie kontrovers debattiert“ (Pfadenhauer 2003, 31) und hat zu „Professionskonstrukten“ wie bspw. dem der ‚bescheidenen Profession‘ von Schütze (1992, 132f; 1996) etwa in Bezug auf die Soziale Arbeit geführt. Im professionstheoretischen Diskurs scheint zwischen den verschiedenen Positionen jedoch unstrittig zu sein, dass es sich bei Professionen um Berufe handelt, welche bestimmte Merkmale vereinen, die sie unterscheidbar von anderen Berufen machen (Pfadenhauer 2003, 32). Als professionstypische Merkmale gelten nach Schmidt (2008) u. a. der Rekurs auf wissenschaftliches Wissen, spezifische Handlungskompetenz, Spezialisierung und eine eigenständige Fachlichkeit, Zentralwertbezug (die Erbringung gesellschaftlich unverzichtbarer Leistungen), Kollektivorientierung, Leistungsmonopol und 404 uj 10 | 2020 Begriffe der Professionalität berufliche Autonomie (vgl. Schmidt 2008, 839f; Kurtz 2002, 49). Pfadenhauer/ Sander geben nach der Auseinandersetzung mit diversen professionssoziologischen Modellen folgende Merkmale als die modellübergreifend übereinstimmenden für Profession an: „Als ‚Schnittmenge‘ hat sich dabei der Rekurs auf folgende Kennzeichen herausgebildet: 1) das berufsbezogene, mithin ‚professionelle‘ - teilweise als ‚theoretisches‘ spezifizierte - Wissen, 2) die eindeutige, meist formalrechtliche Definition des Tätigkeitsfeldes im Verbund mit einer Monopolisierung dieses Tätigkeitsfeldes auf Basis dieses Wissens, oftmals in seiner institutionalisierten Form (Bildungstitel), sowie 3) die Herausbildung von Berufsverbänden zur Selbstverwaltung der Profession, ihrer typischen Wissensbestände und Praktiken der Berufsausübung und/ oder eine (teils altruistisch verstandene) Gemeinwohlorientierung.“ (Pfadenhauer/ Sander 2010, S. 362) Uneinigkeit besteht allerdings darin, welche dieser Kriterien dazu verwendet werden sollten, um den Gegenstand von Professionen explizit und trennscharf auszuweisen (Pfadenhauer 2003, 32) und damit eine klare qualitative Abgrenzung zu anderen Berufen herzustellen. Bezogen auf diese „Uneinigkeit“ ist innerhalb der Professionssoziologie eine andauernde „Auseinandersetzung um die relevanten Merkmale von Professionen“ (Pfadenhauer 2003, 32) festzustellen. Die (relativ einfache) Bestimmung von Professionen bzw. die Zu- oder Aberkennung des Status einer Profession über Merkmale und Merkmalsauflistungen wird seitens der Professionssoziologie als ‚indikatorischer Ansatz‘ bezeichnet und ist innerhalb von professionspolitischen Diskursen von besonderer Relevanz (siehe dazu: Hesse 1968). Solche Diskurse zielen i. d. R. auf eine „Höherbewertung bestimmter Berufsgruppen“ (Pfadenhauer 2003, 36) über die Nachweiserbringung ‚professioneller Merkmale‘ ab. Pfadenhauer bzw. Pfadenhauer/ Sander sehen den indikatorischen Ansatz vor dem Hintergrund inzwischen erarbeiteter - anspruchsvollerer - professionstheoretischer Ansätze als überholt (vgl. Pfadenhauer 2003, 36f; Pfadenhauer/ Sander 2010, 362); Profession muss sich dementsprechend anhand anderer Faktoren erforschen (oder belegen) lassen, welche über den Nachweis formaler Rahmenbedingungen (bspw. zur Regulierung des Tätigkeitsfeldes) und/ oder eines spezifischen Wissens hinausgehen. Damit wird ein seit den 1980er Jahren innerhalb der Professions- und Professionalisierungsforschung vollzogener Perspektivwechsel (vgl. Schmidt 2008, 843) direkt angesprochen: „Aktuelle Professionalisierungstheorien betonen weniger die gesellschaftliche Einbettung bzw. die sich daraus ergebenden (Struktur-) Merkmale […], sondern fokussieren die Praxis der Ausübung der Profession und damit das Handeln des Professionellen bzw. die Interaktion zwischen Professionellem und Klientin. Der Fokus verschiebt sich also von der Profession als statischer, sozialstruktureller und funktionaler Größe hin zum professionellen Handeln als der dynamischen, prozessualen und akteursgebundenen Seite von Professionalität.“ (Schmidt 2008, 843; Ausl.: J. B.) Die Aufmerksamkeit der Forschenden verschiebt sich somit weg von der Prüfung auf bestimmte Merkmale, die hinzugezogen werden können, um den Status einer Profession zuzuerkennen, hin zur Erforschung des konkreten Handelns von AkteurInnen und der Frage, wann dieses als ‚professionell‘ bezeichnet werden kann, und weiter, wie ‚Professionalität‘ hergestellt und aufrechterhalten (vgl. Schmidt 2008, 843; Kraimer/ Altmeyer, 2017) oder „anerkannt“ wird (Ricken/ Kuhlmann 2016). Eine so erweiterte Perspektive kann sich zudem über die Betrachtung des Handelns der AkteurInnen hinaus auch auf deren Biografie beziehen und entsprechende Verschränkungen zwischen dem professionellen Handeln und der individuellen Lebensgeschichte herausarbeiten (dazu: Kraul/ Marotzki/ Schweppe 2002 oder zuletzt: Völter 2018). 405 uj 10 | 2020 Begriffe der Professionalität Zu den Begriffen des ‚professionalen‘ und des ‚professionellen Handelns‘ Was ist gemeint, wenn von „professionellem Handeln“ gesprochen wird? Welche Merkmale kennzeichnen ein solches Handeln? Diese Fragerichtung erscheint aus verschiedenen Gründen von Interesse: Zunächst ist - trotz der professionstheoretischen Wissensbasis - eine Aufarbeitung des Grundverständnisses zum professionellen Handeln relevant, da damit einhergehend die Eckpfeiler eines solchen beruflichen Wirkens erkennbar werden. Zuletzt stellt sich die Frage, ob diese vielfältigen Begrifflichkeiten in Bezug auf professionelles Handeln in Form von Begriffsdifferenzierungen noch deutlicher gefasst werden können. Zur Klärung dieser Fragen sollen in Folge Meusers Kernaussagen zum Verständnis professionellen Handelns punktuell dargestellt werden, welche er mittels einer explorativen Analyse wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Datenbanken erarbeitet hat (siehe dazu: Meuser 2005, 254f ). Meuser ist es dabei gelungen, eine sehr konkrete bzw. praxisnahe Form ebenjenen Handelns zu skizzieren. Wie ist also das allgemeine Grundverständnis professionellen Handelns nach der Erkenntnislage von Meuser (2005) ausgestaltet? Merkmale professionellen Handelns nach Meuser (im positiven Sinne) sind: ➤ „Auf solider, umfassender Informationsbasis rational handeln (Planung und Kontrolle). Eine solide Informationsbasis wird insbesondere dadurch gewährleistet, dass stets der aktuelle Wissenstand rezipiert wird. […] ➤ Expertenwissen nutzen bzw. selbst Experte sein. Einen hohen Stellenwert haben Expertensysteme; sie versprechen mehr Professionalität und weniger Willkür ➤ Systematisch und methodisch handeln. Professionell handeln bedeutet: nach allen Regeln der Kunst vorzugehen. […] ➤ Nutzung von modernen, avancierten Programmen, Methoden und Technologien […]. ➤ Rationalisierung von Handlungsabläufen. […] ➤ Ökonomisch rational handeln.“ (Meuser, 2005, 254f; Herv. i. Orig./ Ausl.: J. B.) Professionelles Handeln (bspw. auf dem ‚freien Markt‘/ innerhalb von nicht als Profession erachteten Berufen) und Handeln von Professionsangehörigen weisen nach Meuser sowohl (wahrscheinlich eher geringfügige) Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede auf. Als die Gemeinsamkeit schlechthin kann die Wissensbasis angesehen werden. Die Wissensbasis professionellen Handelns entspricht der, die auch innerhalb von Professionen genutzt wird. Ansonsten diagnostiziert Meuser eine Vielzahl von Unterschieden: keine (bzw. mindere) Sozial- oder Zentralwertorientierung, keine Eigenkontrolle (mangels berufsständischer Strukturen) und die Dominanz des Gewinnstrebens werden zum Leitmotiv beruflichen Handelns (Meuser 2005, 258). Die Relevanz, die der Wissensbasis professionellen Handelns in diesem Kontext eingeräumt wird, ergibt sich m. E. vorrangig darüber, dass das Wissen als Instrument zur ökonomischen Umsetzung der genannten Leitmotive angesehen wird; die (zumindest mangelnde) Zentralwertorientierung kann hier als Beleg für diese Vermutung gewertet werden. So folgert Meuser auch weiter, dass „[d]er Begriff des professionellen Handelns, der hier zugrunde gelegt ist, […] ganz entschieden und deutlich die Orientierung an ökonomischen Erfolgskriterien […] in den Vordergrund“ (Meuser 2005, 259; Anp./ Ausl.: J. B.) stellt. Mit dieser hier genannten Unterscheidung ‚professionelles/ professionales Handeln‘, so die These, kann in theoretischen wie empirischen Un- 406 uj 10 | 2020 Begriffe der Professionalität tersuchungen zur „Pädagogischen Professionalität“, insbesondere im Kontext der „neuen Entwicklungen zu hybriden und multiprofessionellen Organisationen“ (Tippelt 2018, 660) etwa im Bereich der Sozialen Arbeit, der Sozialpädagogik, und im Speziellen auch in der Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendarbeit, eine präzise und belastbare Begriffsdifferenzierung und eine theoretische Basis für empirische Forschung erreicht werden. Zur Erfassung ‚Pädagogischer Professionalität‘ Wie lässt sich also „Pädagogische Professionalität“ in der Folge angemessen erfassen? Dazu dienen folgende Feststellungen, welche auch im Kontext empirischer Forschung zum Gegenstand herangezogen werden können (siehe dazu auch: Braun/ Ehrenspeck-Kolasa 2018): 1. Wissenschaftliche und praxisbezogene Komponenten werden miteinander verschränkt. Systematisiertes Wissen wird zur Lösung praktischer Probleme genutzt, auch Erfahrungswissen ist wichtig (vgl. Meuser 2005, 260). 2. Profession ist ein Status für eine besondere Form von Beruflichkeit. 3. Profession lässt sich mittels diverser Dimensionen (Befugnisse, Attribute, spezifischer Interaktionstyp, Bearbeitung spezifischer Probleme etc.) ausmachen. 4. Es muss je nach pädagogischem Handlungsfeld hinreichend geklärt werden, inwieweit es sich bei ihr um eine ‚echte‘ Profession handelt (d. h. eine empirische Auseinandersetzung mit den sogenannten ‚Bindestrich-Pädagogiken‘, siehe dazu: Reichenbach 2007). 5. Zur Erkundung professionellen Handelns ist die Auflösung dieser Frage nicht vordergründig. Auch ohne den Status einer Profession ist professionelles Handeln grundsätzlich möglich. 6. Professionelles Handeln und Professionalität sind nicht unauflöslich miteinander verbunden (Nittel 2002, 255). Diese Aussage wird deutlicher, wenn anstelle von professionellem von professionalem Handeln gesprochen wird: Professionales Handeln und Professionalität sind nicht unauflöslich miteinander verbunden, denn: 7. Professionalität beschreibt die besondere Qualität einer personenbezogenen Dienstleistung über den Komplex der anerkannten Professionen hinaus (Nittel 2002, 256). 8. Professionalität wird unweigerlich durch professionelles Handeln produziert; führt aber nicht unweigerlich zu Profession. Der erste Satzteil erscheint in Anbetracht von Ziffer (5) zunächst paradox, lässt sich jedoch logisch ableiten. 9. Professionalität kann kompetenz- und differenztheoretisch definiert werden. Professionalität wird ausgedeutet über notwendige Fähig- und Fertigkeiten: kompetenztheoretisch oder über die Frage, was aus dem professionellen Wissensfundus in konkreten Situationen (fallbezogen) zur Anwendung kommt (differenztheoretisch): Wissen und Können (Nittel 2002, 255). 10. Die allgemeinen Kennzeichen professionellen Handelns hat Meuser (2005) herausgearbeitet. Sie können als Orientierungsrahmen für Theoriebildung wie für empirische Forschung fungieren, welcher zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ‚professionelles Handeln‘ genutzt werden kann. 11. Zur Umsetzung professionellen Handelns sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestimmte Kompetenzen auf Seite des professionell (in diesem Fall ggf. auch: professional) handelnden Subjekts notwendig (siehe dazu auch: Kreft 2017), denn professionelles Handeln gilt zugleich als kompetentes Handeln. Nach Meuser kann „Kompetenz“ als basales Element professionellen Handelns festgestellt werden (Meuser 2005). 407 uj 10 | 2020 Begriffe der Professionalität 12. Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendarbeit kann innerhalb der Pädagogik als Profession, Professionalität, professionales und professionelles Handeln verstanden werden. Dabei ist die pädagogische Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe bis hin zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit (Deinet/ Sturzenhecker 2013) sehr heterogen und komplex und deswegen können auch je unterschiedliche „Bildungsbegriffe“ oder „Kompetenzbegriffe“ (vgl. Ehrenspeck-Kolasa 2018; Grunert 2012) wie auch „Kompetenzen“ (Kreft 2017; Braun 2020) kontextspezifisch und kontextabhängig relevant werden. So weist Tippelt (2018) zu Recht darauf hin, dass nicht das „Festhalten am kritisierten Idealtypus der Profession, sondern die offene, empirische Rekonstruktion pädagogischen Handelns in den verschiedenen institutionellen, interaktiven, aber auch alltäglichen Settings und Situationen […] fruchtbar“ (Tippelt 2018, 660; Ausl.: J. B.) ist. Insbesondere sei den genannten neuen Entwicklungen zu hybriden und multiprofessionellen Organisationen empirisch nachzugehen (Tippelt 2018, 660). Erst dann könne belastbar die Frage beantwortet werden, „welche Gemeinsamkeiten sich in den diversifizierten und hybriden pädagogischen Handlungsfeldern finden und wie professionspolitisch ein grundlegender Typus pädagogisch-professionellen Handelns gefördert wird“ (Tippelt 2018, 660 i. Bez. auf Nittel/ Schütz/ Tippelt 2014). Abschließend soll an dieser Stelle betont werden, dass Professionelles Handeln grundsätzlich „handlungs- und gestaltungsorientiert“ (Tippelt 2018, 661) ist. Das ‚Wie‘ der genannten Vermittlung bzw. die ‚individuelle Ausgestaltung dieser je spezifischen Pädagogischen Professionalität und die Aneignung der Angebote durch die Klientel (etwa innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe) kann dann in der Folge genauer definiert, erforscht und rekonstruiert werden. Etwa indem das aktive und situierte Handeln und die Interaktion zwischen Professionellen und KlientInnen rekonstruiert und ggf. nach Verhaltens- und Handlungsweisen oder Deutungsmustern geforscht wird, „ohne allerdings die gesellschaftliche Rahmung und die Analyse des gesellschaftlichen Sinns von pädagogischem Handeln zu vernachlässigen“ (Tippelt 2018, 661; dazu auch: Bellmann/ Ehrenspeck 2006), und indem danach gefragt wird, wie und in welchen Kontexten die von den Professionellen und der Klientel selbst erhoffte bzw. erwartete Dienstleistung am besten adressiert, umgesetzt und angeeignet werden kann. Angebote im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe können durch dementsprechend orientierte Forschungsansätze so immer weiter verbessert und in Bezug auf fortlaufende Prozesse kollektiver Professionalisierung (siehe dazu: Nittel 2002) gestärkt werden. Es zeigt sich dabei zudem, dass auch innerhalb von Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe das Vorhalten von Ressourcen für die empirische Erforschung des Handelns von professionellen Kräften sowohl ➤ direkt, indem hier Reflexionsmomente in Bezug auf die eigene Beruflichkeit (so bspw. auch in Bezug auf die Verknüpfung von Lebensgeschichte und Berufswahlmotiven (zu Biographie als Forschungsgegenstand siehe: Lutz/ Schiebel/ Tuider 2018)) - als auch ➤ indirekt (indem Forschungsergebnisse zu den unterschiedlichen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe) auch auf einer Metaebene diskutiert werden könnten und sollten, von besonderer Bedeutung ist und dementsprechender Förderung bedarf. Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe verfügen i. d. R. über die entsprechenden bzw. notwendigen (Forschungs-)Kompetenzen (siehe dazu: Nieke 2002), welche sie anwenden können - insofern auf institutioneller Seite entsprechende Freiräume vorgehalten werden. PD Dr. Jan Braun Fakultät I - Bildungs- und Sozialwissenschaften Institut für Pädagogik Carl von Ossietzky Universität Oldenburg D-26111 Oldenburg 408 uj 10 | 2020 Begriffe der Professionalität Literatur Ackermann, F., Seek, D. (1999): Der steinige Weg zur Fachlichkeit. Handlungskompetenz in der Sozialen Arbeit. Georg Olms, Hildesheim Becker-Lenz, R., Busse, S., Ehlert, G., Müller, S. (Hrsg.) (2011): Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit: Materialanalysen und kritische Kommentare. VS, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-92687-2 Bellmann, J., Ehrenspeck, Y. (2006): Historisch/ systematisch - Anmerkungen zur Methodendiskussion in der pädagogischen Historiographie. Zeitschrift für Pädagogik, 52 (2), 245 - 264 Braun, J. (2014): Pädagogik im Museum: Eine Untersuchung zum Professionsverständnis aus der Perspektive museumspädagogischer Fachkräfte in Kunstmuseen, http: / / oops.uni-oldenburg.de/ 2421/ 1/ brapae 14.pdf, 14. 6. 2020 Braun, J. (2020): Soziale Arbeit und Kompetenz: Kompetenz als Kategorie, Grundlage und Ziel professionellen sozialarbeiterischen Handelns. Monografie (im Erscheinen) Braun, J., Ehrenspeck-Kolasa, Y. (2018): Die qualitative Inhaltsanalyse als „Sehangebot“ und als Medium der Rekonstruktion professionellen Handelns und erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung. In: Gottuck, S., Grünheid, I., Mecheril, P., Wolter, J. (Hrsg.): ‚Sehen (ver-)lernen‘: Das Potential qualitativer Forschung für die Entwicklung pädagogischer Professionalität. Springer VS, Wiesbaden, 177 - 195, https: / / doi.org/ 10.10 07/ 978-3-531-92687-2 Combe, A., Helsper, W. (Hrsg.) (1996): Pädagogische Professionalität: Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Deinet, U., Sturzenhecker, B. (Hrsg.) (2013): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit (4. Aufl.). Springer, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-189 21-5 Demszky von der Hagen, A.-M., Voß, G. G. (2010): Beruf und Profession. In: Böhle F., Voß, G., Wachtler, G. (Hrsg.): Handbuch Arbeitssoziologie. VS, Wiesbaden, 751 - 804, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-92247-8_26 Ehrenspeck-Kolasa, Y. (2018): Philosophische Bildungsforschung: Bildungstheorie. In: Tippelt, R., Schmidt-Hertha, B.: (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung (4. Aufl.). Springer, Wiesbaden, 187 - 212, https: / / doi.org/ 10.10 07/ 978-3-531-19981-8_6 Grunert, C. (2012): Bildung und Kompetenz: Theoretische und empirische Perspektiven auf außerschulische Handlungsfelder. Springer VS, Wiesbaden Heiner, M. (2010): Soziale Arbeit als Beruf. Fälle - Felder - Fähigkeiten (2. Aufl.). Reinhardt, München Hesse, H. A. (1968): Berufe im Wandel: Ein Beitrag zum Problem der Professionalisierung. Ferdinand Enke, Stuttgart, https: / / doi.org/ 10.14315/ zee-1970-0146 Keiner, E. (2011): Disziplin und Profession. In: Kade, J., Helsper, W., Lüders, C., Egloff, B., Radtke, F.-O., Thole, W. (Hrsg.): Pädagogisches Wissen: Erziehungswissenschaft in Grundbegriffen. 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Springer VS, Wiesbaden, 473 - 484, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-21831-7_40 Liebe Abonnentinnen und Abonnenten, der Bezugspreis der Zeitschrift unsere jugend wird ab Heft 1 des kommenden Jahres für Nicht-Private/ Institutionen und Buchhandlungen geringfügig angehoben (neuer Preis für das Jahresabonnement € 89,-), der Abonnementpreis für Privatkunden bleibt bei € 62,-, jeweils zzgl. Versandspesen. Studenten erhalten weiterhin 20% Nachlass auf den Privatpreis. Als besonderen Service bieten wir eine kostenlose Online-Recherche in den Volltexten aller Fachbeiträge der unsere jugend an, die seit Heft 6/ 2007 erschienen sind. AbonnentInnen können diese Beiträge darüber hinaus als zitierfähige PDF-Datei kostenlos aufrufen und herunterladen. Nutzen Sie unser Online-Angebot unter www.reinhardt-journals.de. Ihr Ernst Reinhardt Verlag
