eJournals unsere jugend 72/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Fallanalysen und Entscheidungsfindung im Kinderschutz

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2020
Christina S. Plafky
Dieser Artikel schlägt einen Bogen zwischen Erkenntnissen (rekonstruktiver) Fallanalysen und der Forschung zur Entscheidungsfindung im Kinderschutz und schlussfolgert die Relevanz der curricularen Verankerung des Themenkomplexes Kinderschutz in Bachelorstudiengängen der Sozialen Arbeit und der kontinuierlichen Fort- und Weiterbildung der Fachkräfte.
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457 unsere jugend, 72. Jg., S. 457 - 463 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art73d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Christina S. Plafky Jg. 1975; Studiengangsleitung Soziale Arbeit mit Menschen mit Behinderung, DHBW Villingen- Schwenningen Fallanalysen und Entscheidungsfindung im Kinderschutz Dieser Artikel schlägt einen Bogen zwischen Erkenntnissen (rekonstruktiver) Fallanalysen und der Forschung zur Entscheidungsfindung im Kinderschutz und schlussfolgert die Relevanz der curricularen Verankerung des Themenkomplexes Kinderschutz in Bachelorstudiengängen der Sozialen Arbeit und der kontinuierlichen Fort- und Weiterbildung der Fachkräfte. Fallanalysen im Kinderschutz dienen der Qualitätsentwicklung und -sicherung sowie dem vertieften retrospektiven Fallverstehen. Die möglichen Vorgehensweisen sind sehr unterschiedlich, beantworten unterschiedliche Fragen und dienen unterschiedlichen Stakeholdern. Im Mittelpunkt sollte immer das Wohl des Kindes bzw. der Kinder stehen, sodass Fallanalysen immer mindestens das Ziel haben sollten, die Praxis für (potenziell) gefährdete Kinder im Kinderschutz zu verbessern. Im Folgenden werden zuerst Fallanalysen im Kinderschutz als rekonstruktive Betrachtung im Kontext von Vorteilen und Potenzialen kritisch diskutiert, um danach die unterschiedlichsten Methoden sowie relevante Erkenntnisse bereits durchgeführter Analysen besonders auf Fachkraft- und Organisationsebene aufzuzeigen. Im Anschluss daran werden Forschungsergebnisse zu Entscheidungsfindung im Kinderschutz vorgestellt. Hierbei wird herausgearbeitet, wie dies eine ergänzende Perspektive für Fallanalysen darstellen kann. Daraus wird die Bedeutung der Aus-, Fort- und Weiterbildung als Konsequenz des immer komplexeren und umfangreicheren notwendigen Wissens zur praktischen Arbeit im Kinderschutz abgeleitet. Erkenntnisse aus veröffentlichten Fallanalysen Der Umfang der gewonnenen Erkenntnisse aus bereits veröffentlichten Fallanalysen ist bemerkenswert. Nicht nur auf Fallebene, sondern auch auf Organisationsebene gibt es viele relevante Ergebnisse, die sich, zumindest in Bezug auf Fachkräfte und Organisationsfragen, zum Teil mit den Ergebnissen der Forschung zu Entscheidungen im Kinderschutz decken, obwohl die Herangehensweisen und das Erkenntnisinteresse von unterschiedlichen Perspektiven geprägt sind. Gerber und Lillig (2018) schlagen beispielsweise Empfehlungen zur Qualitätsentwicklung auf Ebene der institutionellen Zusammenarbeit und des Umfelds vor, die eine spezifische Fehlerkultur, die Wahrnehmung von Fachkräften 458 uj 11+12 | 2020 Entscheidungsfindung und Fallanalysen als zentrale Ressource und eine ausgeprägte und sinnvoll angewandte Praxis der reflexiven Handlungskompetenz mit den notwendigen Methoden (Fallsupervision und -besprechungen) beinhalten. Biesel undWolff (2013) beschreiben organisationale Schlüsselereignisse und Fehler wie Personalmangel, Rahmenbedingungen (finanzielle und materiell), fehlende Kooperation mit anderen Institutionen etc. als relevante Faktoren, die bei der Qualitätsentwicklung berücksichtigt werden müssen. Forderungen zur multiprofessionellen Zusammenarbeit, die an vielen unterschiedlichen Stellen bereits geäußert wurden, wie beispielsweise DIJUF (2019), sollten demnach regelmäßig auch in den Fallanalysen eine Rolle zur Qualitätssicherung und -verbesserung spielen. Risikomuster, die sich beim Fallverstehen, der Falldiagnostik und der Reflexion, der Gefährdungseinschätzung in der Kooperation mit den Eltern und betroffenen Kindern, der Kooperation mit beteiligten Fachkräften und Institutionen, der Fallsteuerung sowie in der Kooperation mit dem Familiengericht sowie der Arbeitsorganisation der Jugendämter ergeben, bieten ebenfalls Hinweise zur Qualitätsentwicklung (z. B. Plafky, Pudelko et al. 2017). Fallanalysen als analytische (retrospektive) Betrachtung Die Erkenntnisse, die durch die Fallanalysen entwickelt werden, können im besten Fall die Praxis auf den unterschiedlichsten Ebenen und mit den unterschiedlichsten Akteuren qualitativ weiterentwickeln und verbessern. Dabei gestaltet sich der Transfer dieser Erkenntnis in die Praxis bisher als schwierig, da diese weder ein verpflichtender oder zumindest fester Bestandteil der Kinderschutzpraxis in Deutschland sind noch gibt es eine einheitliche Vorgehensweise oder eine Einigung über die Standards der Darstellung oder der Methoden. (NZFH 2019) Es ist zu betonen, dass ein wichtiger Faktor der Fallanalysen sein muss, strukturelle Mängel, Personalfluktuation und Unterbesetzung in den ASDs, Schwierigkeiten und Lücken in der Zusammenarbeit mit anderen Institutionen etc. im Kontext des gesamten Kinderschutzsystems bei Fallanalysen regelmäßig zu betrachten. Selbst wenn Fallanalysen darauf ausgelegt sind, als Lernquelle für Qualitätssicherung und Weiterentwicklung zu dienen, bleibt die Gefahr, dass dies so nicht verstanden wird und es zu Unsicherheiten, Ängsten und Demotivation bei Fachkräften besonders des ASDs kommt, da Fallanalysen meist die Arbeit des ASDs oder sogar einzelner Fachkräfte in den Mittelpunkt stellen (Murno 2011; Frost 2016). Es gab bereits einige Publikationen, die sich dem Thema Fehlerkonzepte sowie Fehlerverständnis gewidmet haben (z. B. Fegert et al. 2010). Eine offene und konstruktive Fehlerkultur innerhalb der ASDs ist an manchen Stellen nicht ausreichend ausgebildet, und deswegen kann es auch im Kontext von Fallanalysen zu Misstrauen, Zweifeln und Sorgen besonders der Fach- und Leistungskräfte kommen (Biesel/ Messmer 2019). In den Ländern Großbritanniens gibt es abgestimmte Verfahren und Methoden, die bei tragischen Kinderschutzfällen (wie beispielsweise der Tod eines Kindes unter der Aufsicht eines Jugendamts) durchgeführt werden. Auch die anschließende Darstellung der Ergebnisse und die Qualität bzw. Güte der Erkenntnisse sind Teil der Analyse und Darstellung. Auf der Homepage des National Society for the Prevention of Cruelty to Children (NSPCC, www.nspcc.org) werden die einzelnen Fallanalysen anonymisiert präsentiert. Zusätzlich stehen umfassende und unabhängige Analysen der Serious Case Reviews auf Metaebene zur Verfügung, um Erkenntnisse sowohl für die Kinderschutzpraxis wie auch die Fallanalysen und ihre Methodik zu gewinnen (z. B. Brandon et al. 2012). 459 uj 11+12 | 2020 Entscheidungsfindung und Fallanalysen Frost (2016) kam zu dem Ergebnis, dass die strukturierte Bereitstellung der Serious Case Reviews (also bei Todesfällen oder anderen signifikanten Ereignissen im Kontext der Kinderschutzfälle), wie sie beispielsweise in England praktiziert wird, insgesamt einen negativen Einfluss auf das System haben kann. Einer der Hauptgründe scheint zu sein, dass zumindest in Großbritannien immer nur die Fälle analysiert werden, die zu einem tragischen Ende gekommen sind. Dies kann dazu führen, dass entweder einzelnen Jugendämtern oder einzelnen Fallverantwortlichen fehlerhaftes Verhalten im Kontext der Fallanalysen „unterstellt“ wird, dies in Folge aber in einer Demotivierung aller Fachkräfte resultiert. Frost betont, dass das Kinderschutzsystem insgesamt aber funktioniert und dies auch von vielen Studien und Forschungsergebnissen bestätigt wird, und somit dieses Ergebnis kontraproduktiv ist. Schwierigkeiten, die sich bei einer rekonstruktiven Betrachtung ergeben, sind beispielsweise Bestätigungsfehler oder auch kontrafaktisches Denken. Beide kognitiven Vorgänge können bei der kritischen Analyse zu falschen Schlussfolgerungen führen. Auch dies muss bei der Gestaltung, Auswahl der Methodik sowie der Analyse mitgedacht werden (Gerber/ Kindler 2019). Es ist von daher wichtig, sich im Vorfeld darüber klar zu werden, was die jeweilige Analyse für ein Ziel haben soll, welcher Fall hierfür ausgewählt wird, wer beteiligt ist und welche Methodik die sinnvollste ist. Unterschiedliche Methoden zur Fallanalyse Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichen Methoden zur Fallanalyse. Die gewählte Methode sollte sich im besten Fall nach der Fragestellung richten, die durch die Analyse beantwortet werden soll. Ähnlich wie bei den unterschiedlichen Forschungsmethoden sollte also hier im Vordergrund stehen, was eigentlich das Ziel der Analyse sein soll. Fragestellungen wie beispielsweise die Auseinandersetzung mit Fällen, bei denen über längere Zeit das Thema „liegt eine Kindeswohlgefährdung vor oder nicht“ im Raum steht, erfordert womöglich eine andere Methodik im Vergleich mit Fällen, bei denen bereits die Presse involviert ist und es um die potenzielle Aufdeckung von strukturellen Fehlern im System geht. Von daher sind hier die Analysten und Analystinnen gefragt, die bestmögliche und passende Methode vorzuschlagen und anzuwenden. Empfehlungen des NZFH (2018) beinhalten die Beauftragung von externen Moderatoren und Moderatorinnen, die nicht nur bei der Methodenwahl eine unabhängige Perspektive beitragen, sondern auch bei den komplexen Betrachtungen sowie potenziellen Teamkonflikten neutraler agieren können. Zu den verwendeten Methoden gehört das Aktenstudium, Interviews und Gespräche mit unterschiedlichen Stakeholdern und Experten und Expertinnen in- und außerhalb des Jugendamtes, Fallwerkstätten und Gruppengesprächen, Aufarbeitung der Fallchronologie, Genogramme etc. Diese Auswahl zeigt die vielfältigen und in der Kombination durchaus komplexen Möglichkeiten, Fallanalysen durchzuführen. Einen einführenden Überblick, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, über unterschiedliche Modelle bietet beispielsweise die Studie des Deutschen Kinderschutzbundes e.V. (2015). Forderungen zur multiprofessionellen Zusammenarbeit, die an vielen unterschiedlichen Stellen bereits geäußert wurden, wie beispielsweise DIJUF (2019), sollten demnach regelmäßig auch in den Fallanalysen eine Rolle zur Qualitätssicherung und -verbesserung spielen. Entscheidungsfindung im Kinderschutz Das Thema Entscheidungsfindung spielt auch bei Fallanalysen eine zentrale Rolle. Bei der Entscheidungsfindung im Kinderschutz sind meh- 460 uj 11+12 | 2020 Entscheidungsfindung und Fallanalysen rere Faktoren relevant, die durch zahlreiche qualitative und quantitative Forschungen herausgearbeitet worden sind. Beispielsweise kommt eine Studie von Drury-Hudson (1999) zu dem Schluss, dass besonders Berufserfahrung mit Kinderschutzfällen ein wichtiger Faktor bei der Bewertung und Gewichtung von Schutz- und Risikofaktoren ist. Mosteiro et al. (2018) betonen in ihrer Studie, dass die Bedeutung der Gewichtung der einzelnen Risiko- und Schutzfaktoren in der Beurteilung und Entscheidung größere Variabilität zeigt, als die Einschätzung der Kriterien an sich. Eine Studie von Benbenishty et al. (2015) hebt die Bedeutung der persönlichen Einstellungen, Haltungen und dem Kontext, in dem Fachkräfte arbeiten (also das Kinderschutzsystem) hervor und beschreibt, dass diese einen signifikanten Einfluss auf Entscheidungen bezüglich der Risikoeinschätzung, Empfehlungen und Schlussfolgerungen haben. O’Connor und Leanard (2014) dagegen heben in ihrer Studie hervor, dass sowohl die Organisationskultur wie auch die Fachkraft als Person mit ihren Einstellungen, schwierigen Emotionen bei der Fallarbeit, die Arbeitserfahrung und die sich daraus entwickelnde Souveränität bedeutend für die Entscheidungsfindung sind. Nyati (2018) betont die Komplexität, die bei Entscheidungen im Kinderschutz beachtet werden muss und dass die existierende Handlungsleitlinie diese bisher nur inadäquat erfasst. Die Studie konstatiert, dass Fachkräfte Entscheidungen mit Intuition, analytischen Urteilen, Konsens mit den Familien, dem eigenen psychischen Zustand und unter Berücksichtigung äußerer Umstände anderer Institutionen und Prioritäten sowie zur Verfügung stehenden Ressourcen treffen. Einige dieser Ergebnisse werden auch in der Studie von Font und Maguire-Jack (2015) akzentuiert, wobei hier besonders die Merkmale der Institutionen (wie beispielsweise Ressourcen) als Einflussfaktor bei der Entscheidungsfindung herausgestellt werden. Lauritzen et al. (2018) identifizieren in ihrer Literaturreview vier Faktoren, die für die Entscheidungsfindung relevant sind: die Fallspezifika, Fachkraftspezifika, Merkmale der Institution und äußere Faktoren; nur in der Kombination sind Entscheidungen im Kinderschutz zu erfassen. Die Review kommt zu dem Schluss, dass Organisationsfaktoren einen größeren Einfluss auf die Entscheidungsfindung zu haben scheinen als der oder die einzelne Fachkraft. Dieser kurze Überblick über einige der Studien im Kontext der Entscheidungsfindung im Kinderschutz lässt erkennen, dass diese Arbeit für Fachkräfte nicht nur komplex ist, sondern viel Wissen, Erfahrung und besonders reflexive Handlungskompetenz erfordert und von inneren wie äußeren Bedingungen beeinflusst wird. Hierbei können Fallanalysen und -rückschauen einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung und -entwicklung leisten. Dies gilt besonders, wenn die unterschiedlichen relevanten Faktoren wie die kritische Auseinandersetzung mit Organisationsstrukturen und -kulturen, die Besonderheiten des jeweiligen Falls, aber auch die Fachkraft als Person im Kontext des Teams und des Jugendamts betrachtet wird, zusätzlich ist die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und Organisationen von Relevanz. Umgekehrt können Studien zur Entscheidungsfindung wichtige zusätzliche theoretische Perspektiven zur Zielentwicklung, Frageentwicklung und wissenschaftlichen Analyse der Erkenntnisse und Ergebnisse bieten und vor allem herausstellen, wie wichtig es auch ist, in der Fallanalyse Entscheidungsfindung als eine zentrale Komponente der Analysen zu sehen. Die Vorgehensweise bei Entscheidungen sowie die jeweiligen Einflussfaktoren, die bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen, bieten bei Fallanalysen eine weitere Perspektive auf die Zusammenhänge zu den jeweiligen Praxiserkenntnissen. Dabei können die Ergebnisse ebenfalls getrennt in Fall- oder Organisationsebene oder fachkraft- und teamspezifisch analysiert und betrachtet werden. 461 uj 11+12 | 2020 Entscheidungsfindung und Fallanalysen Lehre im Bachelorstudium und Weiterbildung Um einen Beitrag sowohl für die Qualitätssicherung wie auch zur Professionalisierung zu leisten, können Fallanalysen für die praktische Entwicklung ein wichtiger Baustein sein. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass es eine Vielfalt an Beispielen mit unterschiedlichen Methoden und daraus folgenden unterschiedlichen Erkenntnissen gibt. Die Aufbereitung dieser Beispiele an einer zentralen und zugänglichen Stelle, wie z. B. die Seite des NSPCC, wäre ein weiterer wichtiger Schritt in der Fort- und Weiterbildung (NZFH 2019). Das erforderliche Wissen für eine gute Kinderschutzpraxis wird immer komplexer und umfangreicher. Deswegen sollte das Thema Kinderschutz grundsätzlich zu einem verpflichtenden Teil der Ausbildung aller Bachelorstudiengänge der Sozialen Arbeit werden. Kinderschutz ist nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe wichtig, sondern der Themenkomplex betrifft viele andere Handlungsfelder der Sozialen Arbeit. Damit zukünftig Fallanalysen in der Praxis vermehrt zur Qualitätssicherung und Professionalisierung beitragen und das vielschichtige Thema Entscheidungsfindung dabei die notwendige Beachtung erfährt, sollte dieses Thema (wie auch das Thema Soziale Diagnostik im Kinderschutz) im Curriculum der Hochschulen sowie der Fort- und Weiterbildung der Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe flächendeckend mit aufgenommen werden. Nur so kann dies auch in der Praxis im Berufsalltag eingefordert und angewandt werden. Zusammenfassung Dieser Artikel stellt einen kurzen Überblick über die Forschung in Entscheidungsfindung als ergänzende Perspektive zu den Methoden zur Fallanalyse dar, betrachtet kritisch Vor- und auch die potenziellen Nachteile von Fallanalysen und schlussgefolgert, dass der Themenbereich Kinderschutz ein essenzieller Bestandteil von Aus-, Fort- und Weiterbildungsprogrammen der Sozialen Arbeit sein sollte. Die Auseinandersetzung mit Fallverläufen, also die Rekonstruktion von entscheidenden Momenten im Verlauf und das Hinterfragen der Wirksamkeit von Interventionen, ist die eine Seite. Auf der anderen Seite kann die Auseinandersetzung mit den eigenen Motiven, Gefühlen und Handlungszwängen in der retrospektiven Betrachtung wichtige Hinweise über die eigene Arbeitsweise und auch über die Arbeitsweise des Teams oder sogar Amtes geben und den Zusammenhang zu Entscheidungsfindungen herstellen. Das Ausdiskutieren solcher Zusammenhänge mit Kollegen und Kolleginnen und die Reflexion darüber sollte ein fester Bestandteil des professionellen Arbeitsalltags sein. Hierbei können Fallanalysen einen wichtigen Beitrag leisten. Bei der Methoden- und Fallauswahl sollte neben der Beteiligung der Adressaten und Adressatinnen in dem jeweiligen Fall (zumindest, wenn möglich und machbar) die Beteiligung von Vertretern und Vertreterinnen anderer beteiligten Institutionen (wie die Polizei, das Gesundheitswesen, das Bildungswesen etc.) beachtet werden, damit dem gesamten System Rechnung getragen wird und Kinderschutz als interdisziplinäre Aufgabe aller relevanten Institutionen verstanden wird. Zusätzlich sollten regelmäßig auch Fälle zur Analyse gewählt werden, bei denen Erfolge zu verzeichnen sind - dies kann durchaus zur Motivationsförderung, Vorbildfunktion, Lernbeispiel und Inspiration auch für andere Fachkräfte dienen. Denn was nicht vergessen werden sollte, ist die Tatsache, dass Fachkräfte im Kinderschutz nicht nur einen sehr verantwortungsvollen, sondern auch einen sehr anspruchsvollen und schwierigen Auftrag haben. D. h. es ist wichtig, Erfolge und den positiven Beitrag, den Fachkräfte zur Sicherheit der Kinder beitragen, zu würdigen und sie darin zu unterstützen, in dieser komple- 462 uj 11+12 | 2020 Entscheidungsfindung und Fallanalysen xen Aufgabe die Motivation für ihre Arbeit nicht zu verlieren. Dies kann gelingen, in dem Fallanalysen von positiven Fallverläufen als Lernbeispiele und Inspiration dienen und mindestens die gleiche Aufmerksamkeit erhalten wie die Fallanalysen von problematischen oder tragischen Fällen. Prof. Dr. Christina S. Plafky DHBW Villingen-Schwenningen Schramberger Str. 26 78054 Villingen-Schwenningen Tel.: +49 (0) 77 20 39 06-2 41 E-Mail: plafky@dhbw-vs.de Literatur Benbenishty, R., Osmo, R., Gold, N. 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Münster Wolff, R., Flick, U., Ackermann, T., Biesel, K., Brandhorst, F., Heinitz, S., Röhnsch, G. (2013): Aus Fehlern lernen - Qualitätsmanagement im Kinderschutz. Barbara Budrich, Leverkusen 8., aktualisierte Auflage 2020. 261 Seiten. 40 Abb. 5 Tab. utb-L (978-3-8252-8782-5) kt Das Standardwerk in 8. Auflage! Dieses Standardwerk führt grundlegend in die Didaktik und Methodik Sozialer Arbeit ein. Es hilft Studierenden dabei Konzepte für die praktische Arbeit zu entwickeln, Lösungen praktischer Aufgaben strukturiert und zielorientiert zu erarbeiten, Arbeitsschritte theoretisch begründen zu können und die Wirksamkeit der eigenen Arbeit zu überprüfen. LeserInnen finden Verständnisfragen zum Text, Lernfragen zur Prüfungsvorbereitung, Zusammenfassungen und zahlreiche Infokästen, die die Ausführungen auf den Punkt bringen. a www.reinhardt-verlag.de