eJournals unsere jugend 72/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Konzept der Childhood-Häuser in Deutschland

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2020
Astrid Helling-Bakki
Das Childhood-Haus nimmt die Idee des international bekannten „Barnahus“ (wörtlich: „Kinderhaus“) auf und setzt es modifiziert in Deutschland um. Es ist ein kinderfreundliches, interdisziplinäres und behördenübergreifendes Zentrum für Kinder, die Opfer oder Zeugen von Gewalt wurden.
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487 unsere jugend, 72. Jg., S. 487 - 491 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art78d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Astrid Helling-Bakki Jg. 1982; Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin; Geschäftsführerin der World Childhood Foundation Konzept der Childhood-Häuser in Deutschland Multiprofessionelle Kooperation im Interesse von sexuell missbrauchten Kindern Das Childhood-Haus nimmt die Idee des international bekannten „Barnahus“ (wörtlich: „Kinderhaus“) auf und setzt es modifiziert in Deutschland um. Es ist ein kinderfreundliches, interdisziplinäres und behördenübergreifendes Zentrum für Kinder, die Opfer oder Zeugen von Gewalt wurden. Was ist ein Childhood-Haus? In ein Childhood-Haus können Kinder, die Opfer oder Zeugen von Gewalt wurden, zu explorativen und forensischen Befragungen kommen. Sie werden hier medizinisch und psychologisch untersucht und erhalten alle notwendigen therapeutischen Hilfestellungen durch ausgebildetes Fachpersonal bzw. werden gezielt weitervermittelt. All dies geschieht in einer kinderfreundlichen Umgebung aus einer Hand, sodass Kind und Familie umfassend betreut sind. Der Kern des Barnahus-Modells ist die Annahme, dass die Aussage des Kindes sowohl zur Identifizierung und Untersuchung von Kindesmissbrauch zwecks strafrechtlicher Verfolgung als auch für therapeutische und Schutzzwecke wesentlich ist und möglichst für alle Akteure gebündelt und für das Kind schonend zugänglich sein sollte. Das Barnahus entstand aus dem Child Advocacy Modell, das in den 1980er Jahren in den USA entwickelt wurde. Das erste Barnahus auf europäischem Boden wurde 1998 in Reykjavik errichtet, dann folgten andere skandinavische Länder (Schweden 2005; Norwegen 2007; Grönland 2011; Dänemark 2013). Aktuell wird das Konzept angepasst an die jeweiligen Landesbedingungen in mehr als 20 europäischen Ländern im Sinne eines Best-Practice-Modells verfolgt (vgl. Haldorsson, o. J.). Grundlage des Barnahus ist die UN-Konvention über die Rechte des Kindes, durch deren Anerkennung und Ratifizierung es in der Kinderfürsorgepolitik in Europa zu einer Angleichung gekommen ist - unterstützt durch die Kooperation verschiedener Akteure (aus Regierungssowie Nicht-Regierungsstellen, Berufsvereinigungen und Universitäten). Auch die Praxis des Europäischen Gerichtshofes, in der Rechtsprechung häufiger auf die Kinderrechtskonvention Bezug zu nehmen, förderte den Rahmen, die Grundsätze und Praktiken des Barnahus-Modells zu fördern und weiter zu verbreiten. Das Barnahus kann als Versuch betrachtet werden, die Rechte von Kindern zu „operationalisieren”, um eine Unterstützung sowie einen 488 uj 11+12 | 2020 Childhood-Häuser in Deutschland angemessenen Schutz zu erhalten und Zugang zu einer kinderfreundlichen Justiz zu haben. Die Europäischen Barnahus-Standards verkörpern diese operativen Praktiken und sollten daher als Leitlinie auf einem Weg zur Verbesserung der Rechte minderjähriger Opfer und Zeugen gesehen werden (Haldorsson, o. J.). Die ersten Childhood-Häuser in Deutschland eröffneten im September 2018 in Leipzig und September 2019 in Heidelberg. 2020 folgen Berlin (Charité) sowie Düsseldorf (Universitätsklinik) und weitere Häuser sind bereits in Planung. Im Zentrum des gesamten Vorgehens steht das Kind. Die Kernzielgruppe sind Kinder mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch oder Verdacht auf Gewalttaten, die Leben/ Gesundheit bedrohen. Als erweiterte Zielgruppe können auch Kinder, die Zeugen von häuslicher Gewalt wurden, gefasst werden. Ein Childhood-Haus dient dazu, diesen Kindern eine Anlaufstelle zu geben unabhängig davon, wo der Verdacht entstand bzw. an welcher Stelle dieser zuerst gemeldet wurde. Eine zentrale Rolle zur Klärung der weiteren Schritte und deren Koordination nimmt der/ die „Case Manager*in“ im Childhood-Haus ein. Anfragen werden inhaltlich erfasst, in ihrer Dringlichkeit priorisiert und der Einbezug der weiteren Akteure geplant immer mit dem Fokus darauf, den Prozess möglichst schonend und kindgerecht zu gestalten. Jeder Fall wird individuell betrachtet, im Team rückgesprochen und die jeweiligen Institutionen bedarfsgerecht hinzugezogen. Nicht jeder Fall benötigt alle Ressourcen bzw. Institutionen, die im Childhood-Haus tätig werden können. Dem/ der Case Manager*in kommt hierbei die Aufgabe des Lotsen- und Schnittstellenkoordinators zu. Auch kann sich während einer Fallbetreuung im Childhood- Haus oder in den jeweiligen Institutionen herausstellen, dass weitere Schritte notwendig sind, die dann wiederum in den Prozess integriert werden können. Es wird dabei versucht, die notwendigen Kontakte bzw. Befragungen für das Kind auf ein Minimum zu begrenzen. Sollten mehrere Kontakte notwendig sein, ist ein Vorteil, dass Informationen im Childhood-Haus schnell zusammenfließen und die Reibungsverluste an den Schnittstellen minimiert werden. Das für das Kind dann bereits vertraute Umfeld und vertraute Personen sind angstnehmend und beruhigend. Alle agierenden Personen und Abläufe werden altersgerecht erklärt und zeitlich auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmt. Offenheit und Transparenz tragen dazu bei, dass das Kind und das betreuende Umfeld Ängste und Unsicherheiten in Bezug auf das notwendige Vorgehen abbauen können. Im Zuge strafrechtlicher Ermittlungsverfahren liegt der Schwerpunkt auf einer kinderfreundlichen zeitnahen audiovisuellen Vernehmung im Childhood-Haus, welche als Teil der Hauptverhandlung zugelassen wird. Ideales Ziel ist es, nur eine einzige, allen Anforderungen gerecht werdende kindgerechte Vernehmung zu haben. Es hat sich allerdings gezeigt, dass bei der Vermeidung von Retraumatisierungen nicht nur die alleinige Reduktion der Häufigkeit der Befragungen wichtig ist, sondern dass die Bedingungen dieser Gespräche ebenfalls einen maßgeblichen Faktor darstellen. Dieser Aspekt wird im Gesamtkonzept vor allem durch die professionelle Umgangsweise der speziell geschulten Personen und der kindgerechten Umgebung adressiert. Die Aussagequalität kann so deutlich verbessert werden. Der Angeklagte/ die Angeklagte und deren Verteidiger werden im Childhood-Haus nicht befragt, können aber an der Befragung des Zeugen im Ermittlungsverfahren räumlich getrennt per Videoübertragung teilnehmen. Ein direkter Kontakt zwischen vermutetem/ r Täter/ Täterin und Opfer wird somit vermieden. Dies alles dient dazu, Retraumatisierung zu vermeiden und gesunde Verarbeitungsprozesse zu stärken, Strafermittlungsprozesse qualitativ und quantitativ im Sinne einer kinder- 489 uj 11+12 | 2020 Childhood-Häuser in Deutschland freundlichen Justiz zu fördern und die Opferrechte zu stärken. Der Schutz und die Sicherheit des Kindes, die Stärkung der zukünftigen Entwicklungschancen sowie die Vermeidung von Folgeschäden aufgrund der Tat selbst oder deren Aufarbeitung sind in der Arbeit der Childhood-Häuser oberste Prämisse. Wie funktioniert die Arbeit im Childhood-Haus? Aufgaben der jeweiligen Akteure In einem Childhood-Haus gibt es vier verschiedene Kernbereiche, die auch durch entsprechende Räumlichkeiten abgedeckt sind. Der Case-Manager/ die Case-Managerin stimmt die Personen und Arbeitsabläufe aufeinander ab unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des Kindes. Die Räume ➤ Gericht und Polizei haben ein vollausgestattetes kinderfreundliches Vernehmungszimmer für die audiovisuelle Befragung mit entsprechendem Übertragungsraum. ➤ Die Medizin hat einen kinderfreundlichen Untersuchungs- und Behandlungsraum, in dem auch rechtsmedizinische Spurensicherung und Dokumentation erfolgen kann. ➤ Die Kinder- und Jugendpsychologie/ -psychiatrie hat Beratungsräume, in denen stabilisierende und diagnostische Gespräche stattfinden können. Optimaler Weise sollen auch bei entsprechenden personellen Ressourcen überbrückende oder längerfristige therapeutische Maßnahmen angeboten werden können. ➤ Jugendamt/ Jugendhilfe können die Räume ebenfalls für Gespräche mit Kindern, deren Familien und Fallkonferenzen nutzen. ➤ Ferner gibt es im Childhood-Haus Räume, in denen sich Fachkräfte aus allen Bereichen zu jeder Zeit abstimmen und austauschen können. Die Befragung Das Kind wird im Rahmen eines explorativen Interviews zur Abklärung des Sachverhalts durch eine geeignete psychologische Fachkraft oder im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens nach § 255 a der StPO in einem speziellen Raum durch eine Polizistin/ einen Polizisten bzw. eine Richterin/ einen Richter befragt. Im skandinavischen Barnahus kann die forensische Befragung für das Ermittlungsverfahren auch durch eine/ n Kinderpsychologen erfolgen bzw. durch speziell geschultes Personal der Ermittlungsbehörden. Die Befragung erfolgt dort nach einem evidenzbasierten Protokoll und wird dem Alter und der Entwicklung des Kindes entsprechend durchgeführt. In den hiesigen Childhood-Häusern sollen ebensolche evidenzbasierten Protokolle etabliert werden. Um es dem Kind zu ersparen, seine Geschichte vielen unterschiedlichen Menschen immer wieder erzählen zu müssen, wird das Interview in einem angrenzenden Raum von weiteren Fachkräften verfolgt (bspw. von der Polizei, der Staatsanwaltschaft, Fachanwälten/ Fachanwältinnen, der Verteidigung und bei Wunsch auch von der/ dem Angeklagten). Wenn im Rahmen des Strafverfahrens möglich und sinnvoll, können auch VertreterInnen des Jugendamts oder der Psychologie/ Medizin hinzugezogen werden. Alle dort anwesenden Personen können über Technik Fragen an den Richter/ die Richterin weitergeben. Die Befragung wird audiovisuell aufgenommen und bei Gericht in der Hauptverhandlung als Beweismittel aufgerufen. Das Kind muss also nicht bei Gericht erscheinen. Medizinische Untersuchung Eine medizinische und forensische Untersuchung bzw. Versorgung des Kindes erfolgen zeitlich koordiniert. Hier ist insbesondere die Abstimmung mit den weiteren Institutionen Jugendamt und Polizei in Bezug auf Dringlichkeit und Schutz des Kindes essenziell. 490 uj 11+12 | 2020 Childhood-Häuser in Deutschland Ziel ist es, die notwendigen Maßnahmen d. h. die Versorgung und Dokumentation von Verletzungen stets auch im Hinblick auf eine mögliche Anzeigeerstattung bzw. spätere Verhandlung bei Gericht entsprechend festzuhalten und bezüglich der Gefährdungseinschätzung einzubeziehen. Beratung Zusätzlich wird in einem Childhood-Haus auch eine Unterstützung/ Beratung für betroffene Kinder und deren Eltern bzw. direkten Bezugspersonen durchgeführt. Hier geht es vor allem um Stabilisierung und Unterstützung in der Bewältigung der bestehenden Anforderungen. Diese Unterstützung erfolgt durch entsprechend ausgebildete Fachkräfte aus dem sozialpädagogischen und psychologischen Bereich. Bei Bedarf erfolgt auch eine Überweisung/ Anbindung an externe Fachberatungsstellen bzw. therapeutische Einrichtungen, die in enger Kooperation mit dem Childhood-Haus stehen. Erfolge und Schwierigkeiten In der Umsetzung des Konzeptes stößt man in Deutschland und auch in anderen Ländern auf unterschiedliche Schwierigkeiten, von denen im Weiteren zwei wesentliche genannt werden sollen. Einerseits besteht bei den Akteuren häufig Unsicherheit hinsichtlich rechtlicher Grundlagen (was kann, darf, muss wie umgesetzt werden): Als eine zentrale Unsicherheit wurde hier das Thema „Datenschutz“ identifiziert bzw. die Datenweitergabe zwischen den verschiedenen Institutionen. Sicherlich hat das Bundeskinderschutzgesetz mit dem Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) hier eine erste Grundlage geschaffen, jedoch zeigen sich insbesondere Schwächen in Bezug auf den bi-/ multidirektionalen Datenfluss zwischen den Akteuren. In ihrem Abschlussbericht arbeitet die Kommission Kinderschutz des Landes Baden-Württemberg als Kernproblem im Kinderschutz heraus, dass für den Schutz des Kindes relevante Daten innerhalb einer Institution und zwischen den verschiedenen involvierten Institutionen nicht oder nur verzögert weitergegeben werden (Ministerium für Soziales und Integration, 2020). Hier bietet das Childhood-Haus einen idealen Ansatz, Informationsverluste zu vermeiden. Weiterhin entsteht eine zusätzliche Irritation durch die im deutschen Föderalismus sehr unterschiedlich umgesetzten Herangehensweisen in Bezug auf die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Opfern, die in manchen Bundesländern wie Baden-Württemberg seit vielen Jahren im Alltag etabliert ist, in anderen Bundesländern jedoch bisher kaum praktiziert wird. Ebenso zeigen sich in Abhängigkeit von Träger, Region oder auch Bundesland große Unterschiede in den Organisationsstrukturen und Ressourcen, die für die Umsetzung jedes einzelnen Childhood-Hauses stets von Neuem berücksichtigt werden müssen. Empfehlungen für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe Ein großer Vorteil der interdisziplinären Zusammenarbeit im Childhood-Haus ist der enge persönliche und fachliche Austausch zwischen den verschiedenen Professionen und Institutionen. Unabhängig von der beschriebenen Umsetzung im Childhood-Haus liegt hier ein Ziel für alle Akteure im Kinderschutz. Es ist wichtig, in den Prozessen Schnittstellen zu definieren und vorhandene Lücken sowie Unsicherheiten zu kennen. Ein respekt- und vertrauensvoller Umgang untereinander mit Sicherheit im Umgang bezüglich des Datenschutzes ist essenziell. Umso enger die Zusammenarbeit und das gegenseitige Verständnis für die Aufgaben und Rechtsgrundlagen der 491 uj 11+12 | 2020 Childhood-Häuser in Deutschland anderen Akteure bei Jugendhilfe, Polizei, Justiz, Medizin und Psychologie sind, umso höher ist die Handlungssicherheit und die Kompetenz im Gesamtsystem, in dessen Zentrum das Kind steht, das ein Recht hat, in allem alters- und entwicklungsgerecht zu partizipieren. Dr. Astrid Helling-Bakki World Childhood Foundation Waldburgstraße 15 70563 Stuttgart E-Mail: astrid.helling-bakki@childhood.org Literatur Haldorsson, O. L. (o. J.): Barnahus Qualitätsstandards - Leitfaden für den interdisziplinären und ressortübergreifenden Umgang mit minderjährigen Opfern und Zeugen von Gewalt - Zusammenfassung, https: / / www.childrenatrisk.eu/ promise/ wp-content/ uploads/ sites/ 4/ 2018/ 06/ DE_StandardsSummary_FINAL.pdf, 30. 6. 2020 Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg (2020): Abschlussbericht der Kommission Kinderschutz. Bericht und Empfehlungen. https: / / www.baden-wuerttemberg.de/ fileadmin/ redaktion/ m-sm/ intern/ downloads/ Publikationen/ Abschluss bericht_Kommission-Kinderschutz_Band-I.pdf, 24. 7. 2020 a www.reinhardtverlag.de 2013. 130 Seiten. 8 Abb. 2 Tab. (9783497024056) kt Bewegung als Schlüssel zu traumatisierten Jungen Die Zahl der sexuell missbrauchten und körperlich misshandelten Jun gen ist weit größer als lange vermu tet und stellt TherapeutInnen und PädagogInnen vor große Heraus forderungen. Wie können betroffe ne Jungen so unterstützt werden, dass die Schatten ihrer schlimmen Erfahrungen verblassen und der Entwicklung einer eigenen Gewalt tätigkeit vorgebeugt wird? Vor dem Hintergrund psychotrau matologischer Erkenntnisse zeigt der Autor anschaulich anhand vie ler Fallbeispiele, wie eine psycho motorische Therapie Jungen mit Missbrauchs und Misshandlungs erfahrungen stärken kann.