unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Wenn sich Jungs selbst verletzen
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2020
Harry Friebel
In der traditionellen Lesart der Geschlechterrollen darf der Junge aggressiver Täter sein – autoaggressives Opfer aber nicht. Dennoch: Viele Jungs und junge Männer „ritzen“ sich. Sie haben seelisches Leid, aber sie spüren auch die Erwartung, dass sie „coole“ Jungs sein sollen, um „harte“ Männer zu werden.
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498 unsere jugend, 72. Jg., S. 498 - 504 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art80d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Wenn sich Jungs selbst verletzen In der traditionellen Lesart der Geschlechterrollen darf der Junge aggressiver Täter sein - autoaggressives Opfer aber nicht. Dennoch: Viele Jungs und junge Männer „ritzen“ sich. Sie haben seelisches Leid, aber sie spüren auch die Erwartung, dass sie „coole“ Jungs sein sollen, um „harte“ Männer zu werden. von Prof. Dr. Harry Friebel Jg. 1943; Studium der Soziologie und Psychologie. Hochschullehrer für Soziologie an der Universität Hamburg und der FHS Rauhes Haus, Hamburg. Lehr- und Forschungsschwerpunkt: Gender-, Männer- und Jungenforschung Es ist ausgesprochen sinnvoll, den Wandel in der sozialen Konstruktion von Männlichkeit (und Weiblichkeit) zu reflektieren, dass nämlich männliche Verletzungsmächtigkeit, Verletzungsoffenheit und Selbstverletzung (Friebel 2014) nicht widersprüchlich sein müssen. Bis vor etwa zehn Jahren galt allgemein im deutschsprachigen Raum die psychisch gestörte junge Frau als der „Prototyp“ des selbstverletzenden bzw. selbstschädigenden Verhaltens: „Vor allem Frauen richten bestehende Aggressionen in zerstörerischer Weise gegen sich selbst“ (Plener et al. 2010, 85). Doch wir erfahren insbesondere in einschlägigen Fachartikeln aus den USA und UK, dass die früheren Etikettierungen des selbstverletzenden Verhaltens als typisch weiblich einen erheblichen „gender bias“ (Andover et al. 2010, 85; Taylor 2003, 90) haben. Die bis vor wenigen Jahren in Deutschland als „sicher“ geglaubte Geschlechtertypik verflüssigt sich mit dem Wandel der Geschlechterrollen. Notwendig ist, Verstehens- und Erklärungszusammenhänge für dieses auch männliche selbstdestruktive Verhalten zu erschließen und bestehende - bisher insbesondere auf Mädchen und Frauen bezogene Hilfs- und Therapiemethoden zum Umgang mit dem selbstverletzenden Verhalten (SVV) zu erörtern. Ich beginne mit einer deskriptiven Perspektive zum SVV, einschließlich einer kurzen Darstellung der Geschlechtstypik. Ich entwerfe dann eine noch vorläufige Diskussion über mögliche Auslöser und Ursachen des SVVs aus einer männlichkeitstheoretischen Perspektive und münde schließlich ein in erste Überlegungen für geschlechterreflektierte Bewältigungskonzepte. Zum Schluss folgt ein Ausblick. Deskriptive Einführung Das SVV Jugendlicher ist ein immer häufiger auftretendes psychisch-soziales Problem. Laut einer repräsentativen empirischen Studie hat sich in Deutschland etwa ein Drittel der Jugendlichen mindestens schon einmal selbst verletzt - etwa ein Zehntel mehrmals (Kaess et al. 2011). Je nach Definition und variierend mit den verwendeten Mess-Kriterien in den empirischen Untersuchungen wird über einen unterschiedlichen Verbreitungsgrad der Selbstverletzung berichtet (Friebel 2017). SVV ist ein Symptom für vielfältige biografische Grenz-, Krisen- und Leiderfahrungen - häufig im Rah- 499 uj 11+12 | 2020 Selbstverletzendes Verhalten bei Jungen men rigider Normierungen von der Pubertät bis zur Adoleszenz (Friebel 2012). Whitlok beschreibt den Zusammenhang des „Warum? “ in einem spannungsreichen Bogen ➤ vom Hilferuf („To get attention from adults or peers“), ➤ über den Versuch einer Emotionsregulierung („to regulate intensive emotions“), ➤ bis hin zur Selbsthilfe („a form of selfmedication“) (Whitlok 2009, 4). Die bekannteste Form des SVVs ist das „Ritzen“, also das Schneiden mit scharfen Gegenständen in die Haut (In-Albon et al. 2015, 2). Weitere Selbstverletzungen sind z. B. das Aufkratzen der Haut, sich beißen, das Schlagen des Kopfes gegen Wände (Trunk 2012, 31). SVV wird konventionell als „funktionell motivierte, direkte und offene Verletzungen des eigenen Körpers, die nicht sozial akzeptiert sind und ohne Suizidabsicht vorgenommen werden“ (Nitkowski/ Petermann 2009, 227) definiert. Das „Drehbuch“ Männlichkeit (Friebel 2015) wird in der Moderne zunehmend uneindeutiger. Immer mehr Jungs verletzen sich selbst. Das Verhältnis männliche/ weibliche Betroffene wird extrem differierend diskutiert: von 1 : 1 bis 1 : 10. Die absolute Anzahl der betroffenen Jugendlichen in Deutschland wird auf 600.000 bis 1.200.000 Personen beziffert. Diese quantitativen Dimensionen sind allerdings nicht hinreichend empirisch belegt. Es gibt eine hohe Dunkelziffer (Trunk 2012, 31). In der traditionellen Lesart der Geschlechterrollen „Jungen explodieren, Mädchen implodieren“ (Langsdorf 1996) erscheint das Verhalten geschlechtlich determiniert: Jungs wenden Aggression gegen andere, Mädchen gegen sich selbst. Aber es vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel im Geschlechterverhältnis. „Doing gender“ (West/ Zimmermann 1995) - als alltägliche Inszenierung der Geschlechtszugehörigkeit - hat Folgen auch für das SVV: Im Sinne einer geschlechtstypischen „Erwartungserwartung“ - ich erwarte, dass von mir erwartet wird - verhalten sich Jungs und Mädchen unterschiedlich. Barrocas et al. (2012) beschreiben typische Unterschiede der männlichen und weiblichen Selbstbeschädigungen: „Mädchen berichteten am häufigsten, dass sie sich in ihre Haut schnitten, während Jungen sich am häufigsten selbst schlugen“ (Barrocas et al. 2012, 231; Übersetzung v. A.). Und Adler und Adler berichten: „Frauen neigen dazu, kleinere Schnitte an versteckten Stellen mit scharfen Gegenständen zu machen […], Männer sind eher geneigt, größere, tiefere Schnitte und Verbrennungen - an ihren Brustkörben, ihren Oberarmen - auszuführen” (Adler/ Adler 2007, 567; Übers. v. A.). Männlichkeitskonstruktion im gesellschaftlichen Wandel Kampf, Einsatz, Härte, Stress und Risiko sind konventionelle Markenzeichen „ernster Spiele des Wettbewerbs“ (Bourdieu 2005) im Rahmen der Männlichkeitssozialisation. Bourdieu hat diese „Spiele“ als männliche Gewalt- und Machtspiele beschrieben. Bentheim beschreibt die Suggestionskraft des traditionellen Männlichkeitsideals als Komposition von „Allmacht und Unverletzbarkeit“ (Bentheim 2009, 125). Der Zwang zur Stärke und Dominanz - und die Angst vor Schwäche - ist den traditionellen männlichen Rollenmustern noch eingeschrieben, obwohl sich Frauen in mancherlei Hinsicht - z. B. im Rahmen der Bildungsbeteiligung - bereits auf der „Überholspur“ (vgl. Geißler 2005) befinden. So erfahren viele Jungs angesichts der Spannungslage zwischen klassischen männlichen Überlegenheitsbotschaften einerseits und modernen Gleichstellungsnormen für Frau und Mann (vgl. BMFSFJ 2017) andererseits eine Individualisierung mit Risiken (Friebel 2014, 114). Angesichts umfassender „Entsicherungsdynamiken“ (Motakef et al. 2018, 129) in der Arbeitswelt - wie z. B. dem möglichen Verlust der männlichen Ernährerrolle - und neuen gleichstellungspolitischen Regelungen zur Durchsetzung von gleichen biografischen Verwirkli- 500 uj 11+12 | 2020 Selbstverletzendes Verhalten bei Jungen chungschancen von Frauen und Männern erfährt die klassische Männlichkeitskonstruktion Zumutungen von Unsicherheiten. Meine These besagt, dass eine ins Absurde gesteigerte Überlegenheits-Meinung junger Männer von sich selbst zwangsläufig durch die vorgefundene Wirklichkeit enttäuscht wird - eine gravierende Irritation in Bezug auf traditionelle Männlichkeit auslöst und damit eine (Selbst-)Verletzungsoffenheit generieren kann. Eine mögliche Reaktion der Jungen auf diesen Verlust von (Männlichkeits-)„Gewissheiten" ist das SVV - als letzte (Selbst-)Kontrolle über den eigenen Körper. Die Verunsicherung der Jungs durch alltägliche Normen-Widersprüche (Überlegenheit/ Gleichstellung) generiert auch depressionsfördernde Misserfolgserfahrungen und Identitätsdiffusion. Dennoch versagen sich die Jungs häufig der weiblich etikettierten Symptome wie Niedergeschlagenheit, Kummer und Traurigkeit. „Die Jungen„maskieren“ ihre Depression durch Risikoverhalten sowie SVV und die medizinischen und therapeutischen Professionen sind primär geschult für typisch „weibliche“ Depressionssignale“ (Neubauer/ Winter 2013, 117). Weit entfernt, die betroffenen Jungs nur auf eine Dimension der Wahrnehmung - nämlich Geschlecht - zu reduzieren, erscheint es sinnvoll, einen Zusammenhang des SVV mit Schwierigkeiten der Männlichkeitskonstruktion zu sehen (Friebel 2012). Es ist nicht abwegig, die „Stärke“ des männlichen Geschlechts infrage zu stellen und z. B. im Rückgriff auf den klassischen Suizid- Forscher Durkheim anzunehmen, dass im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess ein bedeutsamer Zusammenhang zwischen „männlich“ einerseits und „sozialer Desintegration“ andererseits besteht. Was für unseren Fragenzusammenhang sagen soll, dass die sozio-kulturelle Integration des Jungen in der Moderne zunehmend fragil zu sein scheint. Es besteht eine lange Tradition sozialpsychologisch und soziologisch begründeter Erklärungen für suizidales und SVV (vgl. Atkinson 1978; Durkheim 1897), die bis heute nicht in den medizinischen Professionen zur Analyse, Diagnose und Therapie zur Kenntnis genommen wird (Chandler 2011, 108). Bewältigungskonzepte Die Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit (Friebel 2015) von ➤ traditionellen männlichen Überlegenheitsnarrativen und ➤ neuen Gleichstellungsimperativen für Mann und Frau im Modernisierungsprozess ist geeignet, die Identitätsentwicklung der Jungs (vgl. Erikson 1970) zu verstören. Ich gehe davon aus, dass Soziale Arbeit, Hilfe- und Beratungskonzepte, therapeutische Konzepte und außerschulische Jungenarbeit allesamt in eine subjekt- und lebensweltorientierte Biografie- und Erinnerungsarbeit einmünden können. Dabei müssen wir darauf achten, dass unsere Perspektive nicht auf eine individualistische Betrachtungsweise reduziert wird, dass wir reflektieren, dass das persönliche Verhalten immer auch sozial und kulturell kontextualisiert ist - also im Kontext der beiden Machtdiskurse (Überlegenheitsnarrativ/ Gleichstellungsnormen) gesehen werden muss. Ziele dieses interaktiven Bewältigungsprozesses sind die Stabilisierung der Jungs im Sinne von Selbstachtsamkeit und Handlungsfähigkeit einerseits sowie Gefühlswie Stresstoleranz andererseits - in ihrer Lebenswelt. Es geht um den Erwerb von Kontrollbewusstsein, um die Erweiterung von Handlungsspielräumen. Kontrollbewusstsein und Handlungsfähigkeit als zentrale Ziele der Bewältigung reflektiere ich als Interaktionsergebnis im sozialen Austauschprozess: Individuen und lebensweltliche Kontexte lassen sich nur analytisch voneinander isolieren. Real sind es Subjekt-Lebenswelt-Beziehungen, in denen sowohl das Subjekt als auch die Lebenswelt Veränderliche sind (Eccles/ Wigfield 2002, 128). 501 uj 11+12 | 2020 Selbstverletzendes Verhalten bei Jungen Angesichts der Ziele einer geschlechtsreflektierten Praxis, den Jungen Hilfe und Unterstützung zur Erweiterung ihrer Geschlechterbilder und ihrer Handlungsalternativen zu vermitteln, ist eine lebensweltorientierte Biografie- und Erinnerungsarbeit per se Jungenarbeit. Jungenarbeit (Leimkühler 2014) reduziert Jungen nicht auf ihr Geschlecht. Weitere Strukturgeber und Identitätsdimensionen wie Bildung, soziale Herkunft, ethnischer Hintergrund etc. sind gleichfalls bedeutsam. Biografie- und Lebensweltorientierung sind konstitutiv sowohl für eine einzelfallspezifische therapeutische Arbeit als auch für eine geschlechtsreflektierte Jungenarbeit als Gruppenarbeit. Aus der biografischen Perspektive (Lattschar/ Wiemann 2013) stellen wir die Frage nach Blockaden, Problemen und Störungen in der Lebensgeschichte der Betroffenen. Die Lebensweltperspektive richtet unsere Aufmerksamkeit auf die nahe Umwelt des Jungen - als Rahmen für Aneignungs- und Vermittlungsprozesse. Kraus verweist auf den Zusammenhang von individueller Wahrnehmung und sozialem Kontext im Rahmen der Sozialen Arbeit: „Einerseits ist die Lebenswirklichkeit eines jeden Menschen dessen subjektives Konstrukt, andererseits ist dieses Konstrukt nicht beliebig, sondern - bei aller Subjektivität - aufgrund der strukturellen Koppelung des Menschen an seine Umwelt - eben durch die Rahmenbedingungen dieser Umwelt beeinflusst und begrenzt“ (Kraus 2000, 85). Eine lebenswelt- und biografieorientierte Jungenarbeit wendet sich sowohl gegen eine pauschale Pathologisierung des SVVs als auch gegen eine krude Individualisierung sozialer Probleme (Friebel 2012). Denn die Frage, ob das SVV persönlichkeitsexterne oder -interne Ursachen hat, ist von vornherein falsch gestellt. Es geht vielmehr um die Frage nach dem Verhältnis, nach den Relationen zwischen „innen“ und „außen“: es geht nicht nur darum, die Selbstachtsamkeit und das Kontrollbewusstsein des Jungen zu fördern; es geht zugleich darum, die soziale Partizipation des Jungen in seiner Lebenswelt zu fördern. Angesichts der Komplexität der Ursachen und Bedingungen des SVVs ist die Beeinflussbarkeit durch therapeutische Maßnahmen noch ziemlich ungeklärt. Im Rahmen einer Meta-Studie über verschiedene therapeutische Konzepte folgern Linehan et al. (2006), dass die dialektische Verhaltenstherapie (DBT) die wirksamste Maßnahme zu sein scheint: Die dialektische Verhaltenstherapie beinhaltet u. a. folgende Behandlungsmodule: Einzeltherapie, Gruppentherapie, Familiengespräche und kreative bzw. musische Aktivitäten. Doch Margraf und Schneider resümieren kritisch: „Die DBT stellt insofern ein Behandlungsspektrum von Maßnahmen auf der emotionalen, psychologischen, kognitiven und Verhaltensebene zur Verfügung […]. Bisher liegen allerdings keine Hinweise vor, welche der Module als besonders effektiv in dieser Hinsicht anzusehen sind“ (Margraf/ Schneider 2009, 176). Und: inwieweit selbststigmatisierende Überzeugungen (z. B.: Junge: „Ich würde mich schlechter fühlen, wenn andere von meinen Problemen wüssten“) von auf traditionelle Männlichkeit fokussierte Jungs davon abhalten, soziale und/ oder therapeutische Hilfen in Anspruch zu nehmen, ist zudem eine noch ungeklärte Fragestellung (Shechtman 2018). Aspekte der DBT können von Fall zu Fall - als methodisches Instrumentarium - mit Aktivitäten der geschlechtsreflektierten Jungenarbeit verbunden werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die DBT ursprünglich für die Behandlung von Mädchen und Frauen konzipiert wurde - d. h. im Sinne einer therapeutischen Arbeit mit Jungs weiterentwickelt werden muss. Über ein für Jungen angepasstes Behandlungsprogramm der DBT als DBT-A (für Adoleszente) verfügt bereits die Vorwerker Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Lübeck (Station Poseidon 2015). Ohnehin ist auch der Einfluss von gender-normativen Perspektiven in der medizinischen und therapeutischen Praxis (Healy 502 uj 11+12 | 2020 Selbstverletzendes Verhalten bei Jungen et al. 2010, 225) ständig zu reflektieren: ForscherInnen, MedizinerInnen und TherapeutenInnen sind nicht frei davon, Geschlechterstereotype in Konzepten, Diagnosen und Therapien unbewusst zu reproduzieren. Ausblick Die Jugendhilfe und -arbeit muss sensibilisiert werden für das selbstverletzende Verhalten - auch von Jungs. Obwohl das Geschlechterverhältnis in verschiedenen deutschen Prävalenzstudien bei zwei bis drei zu eins - weibliche zu männliche Jugendliche - liegt (Brunner et al., 2007), fabulieren aktuelle Hilfe- und Beratungsdienste immer noch ausgesprochen traditionell, z. B.: ➤ Caritas-Beratung im Bistum Aachen: „In der Regel sind es Mädchen im Alter zwischen 12 und 18 Jahre“ (vgl. Caritas 2019). ➤ Beratungsdienst für Eltern, Kreis Wesel: „Mädchen und junge Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Jungen und junge Männer. Das Verhältnis liegt bei etwa 10 : 1“ (vgl. Beratungsdienst 2019). Die Anzahl der sich selbstverletzenden Jugendlichen nimmt in einem enormen Ausmaß zu (vgl. Brunner/ Resch 2016; Humphreys et al. 2015) - bei Mädchen wie bei Jungen. Mehr interdisziplinäre Forschung ist notwendig, auch um die Geschlechterdifferenzen besser verstehen zu können. Dazu kommentiert Brunner, Leiter einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie: „Man ist noch ganz weit davon entfernt, dafür gute Erklärungsmodelle zu haben“ (Brunner/ Resch 2016, 157). Brunner vermutet, dass die Genderdifferenz im Zusammenhang mit Depressionen zu verstehen ist: „…vergleicht man Mädchen und Jungen mit einer ähnlich hohen Belastung durch depressive Symptome, dann gibt es keinen Geschlechterunterschied“ (ebd., 161). Wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaften erstellen „Leitlinien“ (auch zum Thema SVV) für Ärzte - zur Entscheidungshilfe in relevanten Behandlungssituationen. Diese Leitlinien sollen für mehr Behandlungssicherheit sorgen. In der letzten überarbeiteten Leitlinie (2015) zum SVV wurde eine psychiatrisch-therapeutische Blickerweiterung empfohlen: „Es konnte in der Vergangenheit gezeigt werden, dass die Unterscheidung in gelegentliche und repetitive Selbstverletzung […] eine wichtige Differenzierung darstellt. Repetitive Selbstverletzungen […] sind häufiger mit Suizidalität und einem höheren Grad an Psychopathologie assoziiert“ (AWMF 2015, 5). Mit dieser Unterscheidung zwischen „gelegentlich“ (= psychisch-soziales Problem) und „repetitiv“ (= pathologische Störung) öffneten die Leitlinien-ExpertInnen vorsichtig den Weg für eine auch nicht-klinische, nicht-pathologische Sicht- und Therapierweise. Zudem wurde in der neuen Leitlinie hinsichtlich der Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen erstmals ein besonderer Wert auf die Beschreibung genderspezifischer Methodenwahlen („Ritzen“ = eher Mädchen/ „Sich selbst schlagen“ = eher Jungen) in der Selbstverletzung gelegt. Gleichfalls erstmals hervorgehoben wurden unterschiedliche Motivationen der Selbstverletzung bei Jungen und Mädchen: „Männliche Jugendliche nennen als Motivation für selbstverletzendes Verhalten signifikant häufiger Gründe wie Langeweile, einer Gruppe zugehören, Gedanken, dass es Spaß mache und sie damit unliebsame Dinge vermeiden. Im Gegensatz dazu nannten weibliche Jugendliche häufiger als männliche Jugendliche Gefühle wie Depressivität oder Unglücklichsein“ (ebd. 9). Das deutet auf einen möglicherweise radikalen Eingriff in den bisher herrschenden Fachdiskurs. Prof. Dr. Harry Friebel E-Mail: Harry.Friebel@wiso.uni-hamburg.de 503 uj 11+12 | 2020 Selbstverletzendes Verhalten bei Jungen Literatur Adler, P. A., Adler, P. (2007): The Demedicalization of Self-Injury From Psychopathology to Sociological Deviance. Journal of Contemporary Ethnography 36 (5), 537 - 570, https: / / doi.org/ 10.1177/ 0891241607301 968 AWMF (2015): Leitlinie Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) im Kindes- und Jugendalter. Köln, https: / / doi.org/ 10.1055/ b-0039-173644 Andover M. S., Primack, J. M., Gibb, B. E. (2010): An Examination of non-Suicidal Self-Injury in Men: Do men differ in Basic NSSI Characteristics? Archives of Suicide research 14, 79 - 88, https: / / doi.org/ 10.1080/ 138111 10903479086 Atkinson, J. M. 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