unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art02d
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2020
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Heimerziehung im Fokus
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2020
Sandra Fendrich
Jens Pothmann
Wenn in jüngerer Zeit über die Heimerziehung in der Öffentlichkeit und im Fachdiskurs gesprochen worden ist, dann stand die stationäre Unterbringung hauptsächlich im Fokus eines kurzfristigen massiven Ausbaus als Reaktion des steigenden Bedarfs der Unterbringung von jungen Menschen mit Fluchterfahrungen, insbesondere mit Blick auf die unbegleiteten ausländischen Minderjährigen.
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2 unsere jugend, 72. Jg., S. 2 - 11 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art02d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Heimerziehung im Fokus Aktuelle Entwicklungen in stationären Hilfen zur Erziehung auf der Grundlage der amtlichen Statistik Wenn in jüngerer Zeit über die Heimerziehung in der Öffentlichkeit und im Fachdiskurs gesprochen worden ist, dann stand die stationäre Unterbringung hauptsächlich im Fokus eines kurzfristigen massiven Ausbaus als Reaktion des steigenden Bedarfs der Unterbringung von jungen Menschen mit Fluchterfahrungen, insbesondere mit Blick auf die unbegleiteten ausländischen Minderjährigen. von Sandra Fendrich Jg. 1974; Diplom-Pädagogin, seit August 2001 wissenschaftliche Angestellte in der Dortmunder Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) Der folgende Beitrag fokussiert auf Basis der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik zu den Hilfen zur Erziehung und den Hilfen für junge Volljährige - im Folgenden auch kurz „HzE-Statistik“ - die Entwicklungen seit 2010 in der „Heimerziehung und den sonstigen betreuten Wohnformen“ gem. § 34 SGB VIII (einschl. der stationären Hilfen für junge Volljährige gem. § 41 SGB VIII) unter der besonderen Perspektive der AdressatInnen. In den Blick genommen werden jedoch nicht nur die mit dem großen Bedeutungsgewinn der jungen Menschen mit Fluchterfahrungen in der Heimerziehung einhergehenden Herausforderungen der letzten Jahre. Auch sollen Aspekte (wieder) in den Fokus treten, die jenseits der jüngsten Entwicklung eine Rolle in der stationären Unterbringungsform spielen und womöglich der (erneuten) Diskussion bedürfen - beispielsweise die Lebenslagen der jungen Menschen in der Heimerziehung, die Situation bei Beendigung einer stationären Hilfe und die Phase des „Leaving Care“ oder auch die nur teilweise nachvollziehbaren regionalen Unterschiede. Jens Pothmann Jg. 1971; Dr. phil., Diplom- Pädagoge, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund DJI/ TU-Dortmund in der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) Agathe Tabel Jg. 1981; Diplom-Pädagogin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsverbund DJI/ TU-Dortmund in der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) 3 uj 1 | 2020 Heimerziehung im Fokus Überblick über die Fallzahlenentwicklung Im Jahr 2017 wurden in Deutschland bundesweit 148.143 Kinder, Jugendliche und junge Volljährige in der Heimerziehung im Sinne des § 34 SGB VIII gezählt. Umgerechnet auf die altersentsprechende Bevölkerung bedeutet das, dass bis zu 92 junge Menschen pro 10.000 der unter 21-Jährigen in einer solchen Maßnahme untergebracht waren. Damit ist sowohl bei der Inanspruchnahme als auch bei den absoluten Fallzahlen seit Jahren der Höchststand erreicht worden (zur Entwicklung seit Anfang der 1990er-Jahre vgl. Fendrich/ Wilk 2011). Hier und im Folgenden nicht weiter berücksichtigt werden - sofern nicht anders benannt - stationäre Hilfen, die sich rechtssystematisch ausschließlich auf § 27 SGB VIII und hier insbesondere auf die rechtliche Öffnungsklausel des Absatz 2 beziehen. Diese Fälle werden zwar in der Kinder- und Jugendhilfestatistik auch erfasst. Für das Jahr 2017 entfallen auf diese Leistungen 5.348 andauernde und beendete Hilfen. Betrachtet man die Entwicklung der Heimerziehung seit 2010, ist diese von einer zunehmenden Wachstumsdynamik bis zum Jahr 2016 geprägt. So bewegen sich die jährlichen Steigerungsquoten ab 2010 bis 2014 zwischen 3 % und 4 %, bevor die Fallzahlen 2014/ 2015 (+ 13 %) und 2015/ 2016 (+ 16 %) deutlich steigen. Diese überproportionale Zunahme steht im Zusammenhang mit steigenden Fallzahlen bei den Hilfen für unbegleitete ausländische Minderjährige. Zwischen 2016 und 2017 hat die Wachstumsdynamik deutlich nachgelassen (+ 5 %); die Steigerungsrate ist somit wieder eher mit den Entwicklungen zwischen 2010 und 2014 vergleichbar. Der Blick auf die Veränderungen in der Gewährungspraxis, also auf Entwicklungen bei begonnenen Hilfen innerhalb eines Jahres, macht die Trendwende für Fallzahlenentwicklungen in der Heimerziehung noch deutlicher: Während die neu begonnenen Hilfen in der Entwicklung 2014/ 2015 und 2015/ 2016 um jeweils 25 % deutlich gestiegen sind, haben sich die Fallzahlen im Jahr 2017 gegenüber dem Vorjahr um 17 % reduziert. Entsprechend der in jüngster Zeit beispiellosen Fallzahlenentwicklung hat sich der Anteil der Heimerziehung an allen von den Hilfen zur Erziehung (einschließlich Erziehungsberatung) erreichten jungen Menschen (N = 1.118.347) erhöht und liegt im Jahr 2017 bei 13 %. Zwischen 2010 und 2014 lag dieser noch bei 10 %. Erst im Zuge der steigenden Fallzahlen zwischen 2015 und 2017 ist die Quote gestiegen. Altersgruppen 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Junge Menschen in der Heimerziehung pro 10.000 der altersentsprechenden Bevölkerung Unter 18 Jahre 18 Jahre u. älter 1 56,5 72,7 59,3 75,3 61,2 78,2 63,3 82,9 65,8 88,8 72,1 99,4 79,5 130,9 73,8 183,1 Tab. 1: Minderjährige und junge Volljährige in der Heimerziehung (Deutschland; 2010 bis 2017; Aufsummierung der zum 31. 12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben pro 10.000 der altersgleichen Bevölkerung) Anmerkungen: Die Fallzahlen bei den jungen Volljährigen im Alter von 18 bis unter 27 Jahren beziehen sich auf die Altersgruppe der 18bis unter 21-Jährigen in der Bevölkerung. Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; versch. Jahrgänge; eigene Berechnungen 4 uj 1 | 2020 Heimerziehung im Fokus Bei einer differenzierten Betrachtung der Unterbringungen für Minderjährige und junge Volljährige wird ferner sichtbar, dass aktuell (2016/ 2017) die Inanspruchnahme bei den Minderjährigen sogar rückläufig ist, während die der jungen Volljährigen den höchsten Anstieg seit Jahren zu verzeichnen hat (vgl. Tab. 1). Diese Entwicklung legt die Vermutung nahe, dass die ehemals unbegleiteten ausländischen Minderjährigen mit Erreichen der Volljährigkeit zu einem großen Anteil weiterhin im Hilfesystem verblieben sind, auch wenn man die Gruppe der jungen Menschen mit Fluchterfahrungen über die Statistik nicht genau identifizieren kann (vgl. hierzu den nachfolgenden Abschnitt). Unbegleitete ausländische Minderjährige in der Heimerziehung Bislang ist es über die HzE-Statistik nicht möglich, die Gruppe der unbegleiteten ausländischen Minderjährigen zu identifizieren (vgl. auch Fendrich/ Tabel 2018, 18). Dennoch haben detailliertere Auswertungen für die letzten Berichtsjahre der amtlichen Statistik gezeigt, dass über die Kombination von bestimmten Merkmalsausprägungen bei Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund sowie den Gründen für eine Hilfegewährung („Unversorgtheit des jungen Menschen“) zumindest indirekt diese Gruppe bzw. die in diesem Sinne „mutmaßlichen“ Fälle für unbegleitete ausländische Minderjäh- 40.000 35.000 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 2010 2014 2015 2016 2017 12.637 13.624 15.798 17.601 14.445 982 2.812 9.433 15.840 6.954 215 336 553 807 710 „Mutmaßliche“ Heimerziehung für männliche UMA (15- und 18 J.) „Mutmaßliche“ Heimerziehung für weibliche UMA (15- und 18 J.) Heimerziehung ohne „mutmaßliche“ Fälle für UMA (15- und 18 J.) Abb. 1: Junge Menschen im Alter von 15 bis unter 18 Jahren in der Heimerziehung (Deutschland; 2010 bis 2017; begonnene Hilfen; Angaben absolut) Anmerkungen: Differenziert wird hier nach „mutmaßlichen“ Fällen von unbegleiteten ausländischen Minderjährigen (UMA) und solchen, auf die die oben genannten Kriterien eines im Sinne der Statistik„mutmaßlichen“ UMA nicht zutreffen. Die stationären„27,2er-Hilfen“ werden bei dieser Auswertung auf der Basis der Einzeldaten oder auch Mikrodaten mitberücksichtigt. Quelle: Forschungsdatenzentrum der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe; versch. Jahrgänge; eigene Berechnungen 5 uj 1 | 2020 Heimerziehung im Fokus rige in den Hilfen zur Erziehung im Allgemeinen und für die Heimerziehung im Besonderen etwas besser sichtbar gemacht werden kann (vgl. ausführlich Fendrich/ Pothmann/ Tabel 2018, 58ff ). Entsprechenden Berechnungen zufolge ist die Anzahl dieser „mutmaßlichen“ neu gewährten Fälle für unbegleitete ausländische Minderjährige in der Heimerziehung, insbesondere die der männlichen, bis 2016 stark angestiegen (vgl. Abb. 1). In diesem Zeitraum haben sich die Fälle von geschätzt insgesamt 1.197 auf 16.647 um den Faktor 14 erhöht. Davon waren im Jahr 2016 95 % männlich. Wie schon die rückläufigen Inobhutnahmezahlen es vermuten ließen, sind die stationären Unterbringungen gem. § 34 SGB VIII für diese Gruppe im Jahr 2017 rückläufig. Insgesamt sind sie um knapp 9.000 Fälle bzw. 54 % zurückgegangen. Alter, Geschlecht, Lebenslagen: Aktuelle Entwicklungen bei jungen Menschen in der Heimerziehung Die Analysen zu den Entwicklungen bei den Hilfen für Minderjährige und junge Volljährige haben nicht nur Unterschiede offenbart. Sie verweisen auf die Notwendigkeit eines differenzierten Blicks auf die AdressatInnen, insbesondere auf die Altersstruktur, Geschlecht, aber auch die Lebenslagen, in denen die jungen Menschen aufwachsen. Die Erkenntnisse zu diesen Merkmalen in der Gewährungspraxis können möglicherweise zu einer genaueren fachlichen Planung und Steuerung der Hilfesysteme bei Problemlagen von jungen Menschen und deren Familien beitragen. Alter und Geschlecht Mit Blick auf das Alter der jungen Menschen in der Heimerziehung zeigt sich, dass nach wie vor die Altersgruppe der 14bis unter 18-jährigen jungen Menschen die Hauptklientel der Hilfen gem. §34 SGB VIII darstellt. Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Entwicklungen bei den unbegleiteten ausländischen Minderjährigen, die zu dieser Altersgruppe gezählt werden können, hat sich die Gewährungsquote dieser Altersgruppe zwischen 2014 und 2016 besonders erhöht. Allerdings gilt dies insbesondere für die männlichen Adressaten (vgl. Abbildung 2). In dem Zeitraum ist die Quote von 69 auf 176 Hilfen pro 10.000 der alters- und geschlechtsspezifischen Bevölkerung gestiegen. Damit fällt die Quote nicht nur im Vergleich zu den Vorjahren deutlich höher aus, sondern sie liegt - anders als in den Jahren zuvor - auch weit über der für die Mädchen bzw. jungen Frauen (60 Hilfen). Seit 2015 gewinnen die männlichen jungen Volljährigen besonders an Bedeutung. Ähnlich wie bei der Hauptklientel der 14bis unter 18-Jährigen lagen die Gewährungsquoten bei jungen Frauen und Männern zuvor noch auf einem ähnlichen Niveau bzw. unterschieden sich nicht so deutlich voneinander. Die Steigerungen beruhen vor allem auf dem Anteil männlicher junger Menschen, die zu Hause hauptsächlich nicht Deutsch sprechen: Zwischen 2010 und 2017 hat sich deren Anteil in der Gruppe der neu begonnenen Heimerziehung von knapp 15 % auf 54 % mehr als verdreifacht. Bei den Mädchen bzw. jungen Frauen ist die Quote von 12 % (2010) auf 22 % (2017) ebenfalls gestiegen, wenn auch nicht so stark wie bei den männlichen Adressaten. Besonders heben sich die Altersgruppen der 15bis unter 18-Jährigen und die der jungen Volljährigen hervor. Hier liegen die Anteile im Jahr 2017 bei den männlichen Jugendlichen bei 67 % und bei den jungen Volljährigen bei 79 %. Auch bei den weiblichen Jugendlichen (25 %) und den jungen Frauen (30 %) sind die Anteile überproportional hoch, auch wenn diese Quoten bei Weitem nicht mit denen der männlichen Altersgenossen zu vergleichen sind. 6 uj 1 | 2020 Heimerziehung im Fokus Lebenslagen Familiäre Lebensbedingungen haben einen Einfluss auf das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen, wie verschiedene empirische Studien herausgestellt haben (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, 35ff; Rauschenbach/ Bien 2012). Familienformen, die sozioökonomische Lage sowie der Migrationsstatus (s. o.) stehen hier in einem besonderen Fokus, weil spezielle familiäre Bedingungen nicht nur die Lebenslagen junger Menschen in sozialen Disparitäten fördern, sondern auch Risikolagen darstellen können. Alle drei Aspekte werden über die amtliche Statistik zumindest ansatzweise in den Blick genommen. Bezogen auf den Familienstatus können über die derzeit vorliegenden Daten vor allem Aussagen über die Situation in der Herkunftsfamilie gemacht werden. Im Jahr 2017 lebte rund ein Drittel der jungen Menschen mit einer neu gewährten Heimerziehung zu Beginn der Hilfe in einer Alleinerziehendenfamilie, im Vergleich zur Vollzeitpflege (2017: 53 %) ist der Anteil damit geringer. Zwischen 2013 und 2016 sank der Anteil dieser Familienform in der Heimerziehung von 46 % auf 28 %. Es ist davon auszugehen, dass die damaligen Veränderungen auf die in diesem Zeitraum größer gewordene Adressatengruppe der unbegleiteten ausländischen Minderjährigen und deren Lebensumstände zurückzuführen sind, da Fälle, bei denen die Eltern junger Menschen Abb. 2: Junge Menschen in der Heimerziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Alter und Geschlecht (Deutschland; 2010 bis 2017; begonnene Hilfen; Gewährung pro 10.000 der unter 21-Jährigen) Anmerkungen: Die Fallzahlen bei den jungen Volljährigen im Alter von 18 bis unter 27 Jahren beziehen sich auf die Altersgruppe der 18bis unter 21-Jährigen in der Bevölkerung. Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Erzieherische Hilfen, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; versch. Jahrgänge; eigene Berechnungen 2017 2016 2015 2014 2013 2012 2011 2010 18 J. und älter 1 14 bis unter 18 J. 10 bis unter 14 J. 6 bis unter 10 J. Unter 6 J. 18 J. und älter 1 14 bis unter 18 J. 10 bis unter 14 J. 6 bis unter 10 J. Unter 6 J. 0,0 50,0 100,0 150,0 200,0 weiblich männlich 7 uj 1 | 2020 Heimerziehung im Fokus verstorben oder unbekannt waren, in den Fokus rückten. Eine ähnliche Tendenz dieser Auswirkungen zeigt sich bei der wirtschaftlichen Situation der Familien. Unter den jungen Menschen mit einer neu gewährten Hilfe in einer Heimeinrichtung waren 2017 46 % der Familien bei Hilfebeginn auf Transferleistungen angewiesen. In der amtlichen Statistik werden hierbei das Arbeitslosengeld II auch in Verbindung mit dem Sozialgeld (für Kinder), die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Rahmen der Sozialhilfe oder auch der Kinderzuschlag berücksichtigt. Diese Angaben liefern Hinweise zur Inanspruchnahme von erzieherischen Hilfen durch Familien, die zumindest von Armut bedroht sind. Handelte es sich um eine Alleinerziehendenfamilie, lag der Anteil mit 69 % deutlich höher, allerdings noch deutlich unter dem entsprechenden Wert Unterbringungen in einer Pflegefamilie (2017: 79 %). Der Anteil der Familien, die Transferleistungen beziehen, ist bei neu gewährten stationären Hilfen gem. § 34 SGB VIII zwischen 2016 und 2017 wieder angestiegen, und zwar um 7 Prozentpunkte. Ähnlich wie bei der Familienform ist hier zu vermuten, dass sich hinter dieser Entwicklung der aktuelle Rückgang der unbegleiteten ausländischen Minderjährigen in den Hilfen gem. §§ 33 und 34 SGB VIII verbirgt, zumal zu dieser Gruppe von jungen Menschen eine eindeutige Auskunft zu der sozioökonomischen Situation der Herkunftsfamilie unter Umständen nicht möglich ist. Nach der Heimerziehung: Care Leaver im Fokus der Kinder- und Jugendhilfe 2017 wurden so viele junge Volljährige in den Einzelfallhilfen der Kinder- und Jugendhilfe gezählt wie nie zuvor. Im besagten Jahr ist deren Inanspruchnahmewert bei den über die ASD organisierten erzieherischen Hilfen ähnlich hoch wie bei der Gruppe der unter 18-Jährigen. Bei der Verteilung dieser Hilfen ist die quantitative Bedeutung der stationären Hilfen im Heim auffällig. Die Sachverständigenkommission zum 15. Kinder- und Jugendbericht hat auf die Bedeutung, aber auch auf Herausforderungen und Schwierigkeiten der Statuspassage des „Leaving Care“, also die Phase des Übergangs nach der Betreuung im Rahmen einer institutionalisierten Hilfe - beispielsweise einer stationären Unterbringung - hingewiesen. Diese Phase gestaltet sich für die jungen Menschen nicht selten prekär, zumal Care Leaver in diesem Lebensabschnitt oftmals auf sich allein gestellt sind (vgl. Deutscher Bundestag 2017, 438f ). Bei der Erhebung der jährlich beendeten Hilfen für junge Volljährige in der Statistik liegt der Fokus auf einem „Schlüsselmoment“ der eben beschriebenen Statuspassage des „Leaving Care“. Über die amtliche Statistik ergeben sich immerhin Hinweise auf Gründe für die Beendigung von Leistungen. Dabei wird unterschieden, ob die Beendigung gemäß Hilfeplan, abweichend vom Hilfeplan oder aus sonstigen, nicht näher definierten Gründen erfolgte. Zwar können anhand dieser Kategorien nicht direkt Wirkungen einer Hilfe erfasst werden, möglich sind aber immerhin empirische Hinweise mit Blick auf das Erreichen bzw. Nichterreichen einer Zielsetzung für eine erzieherische Hilfe. Darüber hinaus wird der sich direkt an die Hilfe anschließende Aufenthaltsort der jungen Menschen in der Statistik angegeben, und es wird erfasst, ob sich eine weitere Hilfe ohne Unterbrechung anschließt. 2017 wurden immerhin 63 % der beendeten Hilfen für junge Volljährige in Verbindung mit einer Heimerziehung oder betreuten Wohnform gem. § 34 SGB VIII plangemäß beendet. Zum Vergleich: Für die Altersgruppe der 15bis unter 18-Jährigen liegt diese Quote mit gerade einmal rund 36 % deutlich darun- 8 uj 1 | 2020 Heimerziehung im Fokus ter. Damit bestätigen sich Ergebnisse früherer Analysen, nach denen stationäre Hilfen zumindest in der Logik der amtlichen Statistik häufiger gemäß Hilfeplan abgeschlossen werden, wenn sie über die Volljährigkeit hinaus andauern (vgl. Mühlmann/ Fendrich 2017, S. 25f ). Eine planmäßige oder unplanmäßige Beendigung scheint zumindest teilweise mit unmittelbar nachfolgenden Aufenthaltsorten einherzugehen. Endete im Jahr 2017 eine Heimerziehung für junge Volljährige gemäß Hilfeplan, lebten die jungen Menschen im Anschluss hauptsächlich in einer eigenen Wohnung (51 %). Dies könnte darauf hinweisen, dass ein erheblicher Anteil der Hilfen in eine Verselbstständigung mündet, wenngleich über die HzE-Statistik keine weiteren Daten zum Gelingen oder Misslingen dieses Biografieabschnitts vorliegen. Für 25 % schloss sich der Aufenthalt in einem (anderen) Heim oder einer betreuten Wohnform an. Die Tatsache, dass für immerhin fast 13 % der nachfolgende Aufenthaltsort nicht bekannt bzw. nicht näher bestimmbar ist, wenn die Hilfe als planmäßig beendet eingeordnet wird, verweist allerdings darauf, dass die Kategorien der HzE-Statistik an dieser Stelle auch nur erste Hinweise über den Verlauf oder auch die Beendigung der Betreuung und Unterstützung durch die Kinder- und Jugendhilfe geben können (vgl. Fendrich/ Pothmann 2019). In den Fällen, in denen die Hilfe abweichend vom Hilfeplan beendet wurde, ist allerdings der Anteil der Gruppe junger Menschen mit einem unbekannten bzw. nicht näher bestimmbaren anschließenden Aufenthaltsort erheblich größer: Bei immerhin 46 % und damit fast der Hälfte dieser Fälle konnte der anschließende Aufenthaltsort keiner der genannten Kategorien zugeordnet werden bzw. gab es keinen festen Aufenthaltsort oder zumindest war dieser dem Jugendamt nicht bekannt. Dieses Ergebnis bestätigt vorangegangene Analysen, beispielsweise auf Basis der Angaben für 2014 im Rahmen des bundesweiten Monitorings zu den Hilfen zur Erziehung (vgl. Fendrich/ Pothmann/ Tabel 2016, 60). Darüber hinaus lebten rund 23 % der jungen Volljährigen nach der Hilfe in einer eigenen Wohnung und immerhin 17 % kehrten, zumindest übergangsweise, in den Haushalt der Eltern zurück. Weitere Unterschiede zwischen planmäßig und unplanmäßig beendeten Hilfen im Rahmen von Heimerziehung und betreuten Wohnformen zeigen sich bei unmittelbar nachfolgenden Hilfen. Für die Heimerziehung gilt, dass über die Hälfte (56 %) der jungen Volljährigen eine Anschlusshilfe (erzieherische Hilfe oder Eingliederungshilfe) erhielten, wenn die Hilfe als planmäßig beendet angegeben wurde. Für 43 % schloss sich zumindest keine weitere formalisierte Hilfe an. Endete die Heimerziehung hingegen abweichend vom Hilfeplan, erhielten 80 % der jungen Volljährigen keine nachfolgende erzieherische Hilfe oder Eingliederungshilfe; hier scheint die Kinder- und Jugendhilfe nach der unplanmäßigen Beendigung die jungen Menschen in ihrer vermutlich größtenteils prekären Lebenssituation gewissermaßen aus den Augen zu verlieren. Die gestiegene Inanspruchnahme bei den stationären Hilfen für junge Volljährige macht auf die Notwendigkeit aufmerksam, einerseits die Zugänge sowie andererseits die Übergänge aus den Hilfen für junge Volljährige in den Blick zu nehmen (vgl. Specht 2019). Dazu gehört auch die Übergangsgestaltung in andere Unterstützungssysteme für die jungen Erwachsenen, zumal die sogenannten „Care Leaver“ nach dem Ausscheiden aus der Kinder- und Jugendhilfe oftmals auf sich alleine gestellt sind und damit verbunden sogenannte „Drop-outs“ und prekäre Übergänge drohen (vgl. AGJ 2014). Nicht zuletzt stehen zur Zeit hierzu auch die rechtlichen Grundlagen im SGB VIII im Rahmen eines bundesweiten Dialogprozesses zur Modernisierung der Kinder- und Jugendhilfe auf dem Prüfstand (vgl. z. B. Nüsken 2019). 9 uj 1 | 2020 Heimerziehung im Fokus Regionale Unterschiede: Zusammenhänge zwischen Kinderarmut und Bedarf an stationärer Unterbringung Die Inanspruchnahme von Leistungen der Heimerziehung variiert regional außerordentlich stark. Dies galt bereits in der ersten Dekade nach Inkrafttreten des SGB VIII (vgl. z. B. Bürger 1999) und lässt sich auch in der dritten Dekade beobachten (vgl. Fendrich/ Pothmann/ Tabel 2018, S. 27ff ). Diese regionalen Unterschiede können nicht vollständig erklärt werden. Aber immerhin stellen die sozioökonomischen Lebenslagen der jungen Menschen und ihrer Familien eine Teilerklärung dar. Das heißt beispielsweise: Kommunen, in denen viele von Armut betroffene Kinder leben, geben mehr Geld für Heimerziehung und damit im Übrigen auch für die Hilfen zur Erziehung insgesamt aus. Diesen statistischen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der „Kinderarmut“ in einer Region und dem finanziellen Aufwand für Hilfen zur Erziehung im entsprechenden Gebiet weist beispielsweise Mühlmann (2017) im Rahmen seiner Analysen auf Basis von Daten des Jahres 2014 nach. Die in diesem Zusammenhang gebildete „Kinderarmutsquote“ bezieht sich auf den Anteil der in einem Gebiet lebenden Kinder, die Leistungen nach dem SGB II beziehen. Diese korreliert wiederum deutlich mit den Auszahlungen für Hilfen zur Erziehung für die Jugendamtsbezirke. Das Muster ist eindeutig, auch wenn es nicht für jede Kommune zutrifft: In Jugendamtsbezirken mit einer höheren Kinderarmutsquote sind die bevölkerungsrelativierten Aufwendungen für Hilfen zur Erziehung deutlich höher. Ausgaben für die Heimerziehung pro unter 18-Jährigen in € 800 600 400 200 0 10 20 30 40 50 Anteil von unter 15-Jährigen im SGB-II-Bezug an allen unter 15-Jährigen in % Abb. 3: Unter 15-Jährige mit Bezug von Leistungen nach dem SGB II im Verhältnis zur Bevölkerung im Alter von unter 15 Jahren (in %) und Auszahlungen (in €) für Heimerziehung auf kommunaler Ebene pro Minderjährigen in der Bevölkerung (Jugendamtsbezirke in Nordrhein-Westfalen; 2017) Methodische Hinweise: Für die jeweils intervallskalierten Merkmale ergibt sich ein Korrelationskoeffizient von r = 0,499. Man kann in diesem Zusammenhang auch von einer mittelstarken Pearson-Korrelation sprechen. Quelle: Bundesagentur für Arbeit: Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II, nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte (NEF), nicht erwerbsfähige sonstige Leistungsberechtigte (NESLB) und Kinder ohne individuellen Leistungsanspruch (KOL), Jahresdurchschnitt 2017 (Sonderauswertung) sowie Forschungsdatenzentrum der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Ausgaben und Einnahmen 2017; eigene Berechnungen 10 uj 1 | 2020 Heimerziehung im Fokus Auch Analysen für die 186 Jugendämter in Nordrhein-Westfalen auf der Basis von Daten des Jahres 2017 bestätigen diesen Zusammenhang - in diesem Fall speziell für die Heimerziehung. Die Höhe der Ausgaben der Jugendämter für Leistungen nach § 34 SGB VIII pro unter 18-jähriger Person in der Kommune korreliert mit dem Anteil von unter 15-jährigen im SGB II-Bezug. Ein Streudiagramm der beiden Messgrößen, in dem jeder Punkt einem Jugendamtsbezirk entspricht, verdeutlicht einerseits den statistischen Zusammenhang, zeigt aber auch, dass trotz dieser Korrelation große Unterschiede auftreten. Bei gleicher Kinderarmutsquote kann die Höhe der Ausgaben für die Heimerziehung dennoch erheblich zwischen Jugendämtern variieren (vgl. Abbildung 3). Dies verweist darauf, dass Armutslagen ein wichtiger Faktor für die Höhe des Bedarfs stationärer Unterbringungen sein können, aber darüber hinaus auch noch andere Einflussfaktoren, wie z. B. die Arbeitsweisen oder auch Wahrnehmungs-, Definitions- und Handlungsmuster der Fachkräfte und Teams vor Ort in den Jugendämtern, zu berücksichtigen sind (vgl. Pothmann 2016). Resümee Die Heimerziehung hat in den Hilfen zur Erziehung eine hervorgehobene Bedeutung. Dies zeigen die Ergebnisse der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik einmal mehr. Die Fallzahlenentwicklungen der letzten Jahre sowie die vorübergehenden Veränderungen bei der Zusammensetzung der AdressatInnen verweisen auf den beachtlichen Beitrag, den dieses Setting der Kinder- und Jugendhilfe für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung von unbegleiteten ausländischen Minderjährigen leisten konnte und in Form von Hilfen für junge Volljährige auch heute noch leistet. Gleichwohl deuten die aktuellen Ergebnisse darauf hin, dass Ausgaben- und Fallzahlenhöhe in den nächsten Jahren wieder niedriger ausfallen werden als zuletzt. Aktuell wird im Kontext stationärer Jugendhilfe ein besonderes Augenmerk auf die Hilfen für junge Volljährige und in diesem Zusammenhang auf die Care Leaver bzw. die Phase des „Leaving Care“ gerichtet. Der Fokus ist damit auf eine eigentlich schon lange bekannte Schwachstelle der Jugendhilfe gerichtet. Die unbefriedigend hohe Quote von nicht planmäßig beendeten Hilfen bei jungen Volljährigen, aber vor allem auch bei Jugendlichen kurz vor ihrer Volljährigkeit, stimmen nach wie vor nachdenklich, insbesondere vor dem Hintergrund der Verteilung von anschließenden Aufenthaltsorten. Charakteristisch für die Heimerziehung wie auch die Hilfen zur Erziehung bzw. die Kinder- und Jugendhilfe insgesamt sind die regionalen Unterschiede und hier ganz konkret die Differenzen zwischen den Jugendämtern. Die Bedarfslagen nach stationärer Unterbringung sind also in den Kommunen unterschiedlich. Bekannt ist aber auch, dass die Arbeitsweisen der Jugendämter sich mitunter stark unterscheiden und nicht zuletzt werden junge Menschen und ihre Familien je nach Wohnort anders versorgt, gefördert oder auch unterstützt. Für die Heimerziehung lässt sich immerhin ein Teil der unterschiedlichen Ausgabenhöhe der Kommunen mit hiesigen Armutslagen erklären. Das ist sicherlich auch ein Befund mit einem sozialpolitischen Handlungsauftrag in Richtung einer Bekämpfung von Armutslagen bei Kindern und Jugendlichen. Dr. Jens Pothmann Forschungsverbund DJI/ TU Dortmund Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik Vogelpothsweg 78 44227 Dortmund Tel.: (02 31) 7 55-55 57 (Sekretariat) E-Mail: jens.pothmann@tu-dortmund.de 11 uj 1 | 2020 Heimerziehung im Fokus Literatur [AGJ] Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (2014): Junge Volljährige nach der stationären Hilfe zur Erziehung. Leaving Care als eine dringende fach- und sozialpolitische Herausforderung in Deutschland, Berlin Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018): Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Bielefeld Bürger, U. (1999): Die Bedeutung sozialstruktureller Bedingungen für den Bedarf an Jugendhilfeleistungen. In: Institut für soziale Arbeit e.V. 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