eJournals unsere jugend 72/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art04d
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2020
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Vorstellungen von einem guten Leben

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2020
Eva Marr
Welche Vorstellungen von einem guten Leben entwickeln benachteiligte Heranwachsende in unserer Gesellschaft, die aufgrund ihrer komplex belasteten Lebenskonstellationen durch drei institutionelle Versorgungssysteme (Kinder- und Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie/Kinder- und Jugendpsychotherapie und Schulen) sektorübergreifend versorgt werden?
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19 unsere jugend, 72. Jg., S. 19 - 26 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art04d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Eva Marr Jg. 1965, M. Sc. Public Health, Dipl.-Soz.-Päd., Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Kassel, Institut für Sozialwesen und Erziehungsleitung bei einem freien Träger der Jugendhilfe Vorstellungen von einem guten Leben Ausgewählte Ergebnisse einer empirischen Fallstudie Welche Vorstellungen von einem guten Leben entwickeln benachteiligte Heranwachsende in unserer Gesellschaft, die aufgrund ihrer komplex belasteten Lebenskonstellationen durch drei institutionelle Versorgungssysteme (Kinder- und Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Kinder- und Jugendpsychotherapie und Schulen) sektorübergreifend versorgt werden? Zur Zielgruppe des in diesem Beitrag in Auszügen dargestellten Forschungsprojektes gehören Mädchen und Jungen, die Hilfen zur Erziehung (§§ 27 - 35 SGB VIII) erhalten, von seelischer Behinderung bedroht oder betroffen (§ 35 a SGB VIII) sind sowie kinder- und jugendpsychiatrischen bzw. -therapeutischen Behandlungsbedarf (SGB V) zeigen. Die Kinder pendeln zwischen den Institutionen der Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Kinder- und Jugendpsychotherapie (KJP/ KJPP), der Schule und den Hilfen zur Erziehung, wodurch komplexe, ganz eigene kindliche Lebenswelten entstehen. Die Studie stellt Teilergebnisse der 2019 an der Universität Kassel vorgelegten Dissertation „Vorstellungen von einem guten Leben bei Heranwachsenden in mehrfach belasteten Lebenszusammenhängen - zwischen familialen Lebenswelten und institutionellen Versorgungssystemen“ der Autorin vor und untersucht in einem dem Prinzip der Offenheit folgenden Forschungsprozess Vorstellungen von einem guten Leben bei mehrfach belasteten Kindern. Hierbei wird explizit die Perspektive der Kinder und Jugendlichen berücksichtigt und somit nicht im Vorfeld bereits von als verbindlich geltenden normativen Mustern guter Kindheit ausgegangen (Bühler-Niederberger/ Mierendorff 2009). Gutes Leben und Anlage des Forschungsprojektes Die Frage nach dem guten Leben wurde bereits in der antiken Philosophie gestellt. Der Begriff eudaimonia (griech.: Glück, Glückseligkeit) spielt beispielsweise in der Nikomachischen Ethik Aristoteles’ eine prominente Rolle. Seither ist das gute Leben Gegenstand vieler philosophischer Abhandlungen (Nussbaum 1999). Normative Aussagen über das gute bzw. gerechte Leben werden in der philosophischen Ethik durch das Hinterfragen und Bewerten allgemeiner Grundlagen, Beurteilungskriterien und Prinzipien des menschlichen Handelns getroffen. 20 uj 1 | 2020 Vorstellungen von einem guten Leben Wie bereits in der Antike angenommen, entwickeln alle Menschen Vorstellungen von einem guten Leben. Dabei differiert der sozial entwickelte Orientierungsrahmen zu ihrer Herausbildung jedoch erheblich. In diesem Zusammenhang können Erkenntnisse zu den individuellen Herausbildungsprozessen der Vorstellungen von einem guten Leben Heranwachsender in prekären Lebenszusammenhängen für eine professionelle Reflexion zur Förderung der Identitätsentwicklung und produktiven Lebensbewältigung (Keupp et al. 1999) bei Heranwachsenden fruchtbar gemacht werden. Dass auch von sozialer Ungleichheit betroffene Kinder und Jugendliche zu Wort kommen, dass ihre Stimmen für die Gesellschaft hörbar gemacht werden, findet noch viel zu selten statt (Ben-Arieh 2005). Demzufolge wurde in dieser Studie ein Forschungsansatz gewählt, der ihre Stimmen unter Berücksichtigung forschungsethischer Fragen und dem Einsatz sensitiv-partizipativer Forschungsmethoden vernehmbar werden ließ. Das wissenschaftliche Verstehen von Kindern in der neueren Kindheitsforschung setzt dabei nicht nur bei dem Verstehen dessen, was Kinder erzählen, an, sondern berücksichtigt in relationaler Perspektive auch die situierte Eingebundenheit der Kinder sowie die in den manifesten Äußerungen nicht selten enthaltenen latenten sinngebundenen Aspekte ihrer Lebenswelt (Hülst 2012). In drei multiperspektivisch angelegten Fallstudien - in Fallkonstellationen zu einzelnen Mädchen und Jungen, ihren Familienangehörigen und Freunden sowie ExpertInnen aus dem institutionellen Handlungsdreieck - wurde der Frage nach den Vorstellungen von einem guten Leben in qualitativen, erzählgenerierenden Interviews (n = 36) nachgegangen und die erhobenen Daten mithilfe einer rekonstruktiven Forschungsstrategie, die Biografie- und Situationsanalyse verbindet (Rosenthal 2009; Clarke 2012), ausgewertet. Projekthintergrund, Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen In Deutschland wachsen - von der Mehrheitsgesellschaft bisher kaum wahrgenommen - Mädchen und Jungen auf, deren Lebenszusammenhänge in komplexer Weise belastet sind. Öffentliche, mediale Aufmerksamkeit erlangen diese Heranwachsenden dann leider häufig nur anhand schockierender Einzelfalldarstellungen von Kindeswohlgefährdung. Mit Blick auf die hier interessierende Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und psychischer Gesundheit von Heranwachsenden in Deutschland lässt sich unter Rückgriff auf aktuelle Erhebungen feststellen: ➤ Eine ambulante, teilstationäre oder stationäre Hilfe zur Erziehung haben im Jahr 2016 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes knapp 1,1 Millionen junge Menschen in Anspruch genommen. Damit wurde seit 2000 ein Höchststand erreicht. In Deutschland leben derzeit rund 140.000 Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (Fendrich et al. 2018, 76). ➤ Die Zahlen zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, die in diesen Zusammenhängen wichtig erscheinen, hier der BELLA-Studie (BEfragung zum seeLischen WohLbefinden und VerhAlten) entnommen, zeigen, dass bei rund 22 % der befragten Kinder und Jugendlichen in Deutschland zumindest Hinweise auf psychische Auffälligkeiten zu verzeichnen sind. Hierunter sind zu nennen: Ängste bei 10 %, Störung des Sozialverhaltens bei 8 %, Depressivität bei 5 % und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei 5 % der untersuchten Kinder und Jugendlichen. Von rund 600.000 diagnostizierten Kindern und Jugendlichen der zuletzt genannten Gruppe nehmen 250.000 Kinder Methylphenidat-haltige Medikamente ein (Liebsch et al. 2013). 21 uj 1 | 2020 Vorstellungen von einem guten Leben ➤ Die auf psychische Erkrankungen zurückzuführenden stationären Krankenhausaufenthalte bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren nehmen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zu. Sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die an einer psychiatrischen Störung leiden oder einer hierzu notwendigen Abklärung bedürfen, benötigen einen teilstationären oder stationären Aufenthalt in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. Tagesklinik (Brünger 2004). Die Biografien der Mädchen und Jungen, die an der Schnittstelle dieser wohlfahrtsstaatlichen Systeme versorgt werden, weisen problematische Beziehungserfahrungen, immer wieder krisenhafte Lebensverhältnisse und sozioökonomische Belastungen auf, wie die folgende anonymisierte Fallgeschichte verdeutlichen soll: Sabrina ist 13 Jahre alt und wächst mit ihrer alleinerziehenden Mutter in einer ländlichen Gegend auf. Die Trennung von ihrem leiblichen Vater, zu dem sie keinen Kontakt hat, erfolgt aufgrund von häuslicher Gewalt, als Sabrina ein halbes Jahr alt ist. Eine Ausbildung bricht ihre damals 17-jährige Mutter ab, als sie mit Sabrina schwanger ist. Sie selbst ist in ihrer Jugend nach der konfliktreichen Trennung ihrer Eltern ein paar Jahre in einem Heim aufgewachsen und an einer Angststörung erkrankt. In einer neuen Partnerschaft der Mutter werden in den folgenden Jahren zwei Halbgeschwister Sabrinas geboren. Auch in dieser Beziehung erleben die Kinder häusliche Gewalt durch den Lebensgefährten der Mutter. Nach der Trennung von diesem Partner lebt Sabrinas Mutter zunächst alleine mit ihren Kindern. Aufgrund ihrer eigenen belasteten Vergangenheit beantragt sie Unterstützung, die das Jugendamt zunächst in Form einer Sozialpädagogischen Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) gewährt. Die vierköpfige Familie lebt in dieser Zeit im ALG II-Bezug (Hartz IV). Sabrina, die bereits im Kindergartenalter sexualisierte Verhaltensweisen zeigt, wird früh an eine psychotherapeutische ambulante Therapeutin angebunden und kinderpsychiatrisch versorgt. In den folgenden Jahren soll die Erziehungskompetenz der Mutter durch ambulante Jugendhilfemaßnahmen gestärkt werden, sie selbst nimmt ebenfalls therapeutische Hilfe in Anspruch. Nach der Einschulung Sabrinas schildert die Schule ihr Sozialverhalten immer häufiger als nicht mehr tragbar, sodass ein Wechsel an eine Schule für emotionale Entwicklungsstörung in der dritten Klasse erfolgt. Sabrina entwickelt sich immer mehr zu einem sogenannten „schwierigen“ Fall, der Schule wie Jugendhilfe, aber auch die Kindertherapeutin an ihre Grenzen bringt. Mit neun Jahren wird das Mädchen nach einem längeren stationären Aufenthalt in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in eine stationäre Jugendhilfemaßnahme (§§ 27, 34 SGB VIII; Heimerziehung) mit der Diagnose einer seelischen Behinderung (§ 35 a SGB VIII) aufgenommen. Die festgestellten psychischen Störungen ADHS, reaktive Bindungsstörung und frühkindliche Belastungsstörung vor dem Hintergrund familiärer Gewalterfahrung ergänzen die Diagnosen des Kindes. Zunächst zeigt Sabrinas Aufenthalt im Heim nach einer anfänglich als sehr schwierig beschriebenen Eingewöhnungsphase eine gute Entwicklung, die aber nach etwa drei Jahren stagniert. Sabrina beginnt damit, sich schwer selbst zu verletzen und kann weder in der Schule noch in der Jugendhilfeeinrichtung auch aufgrund ihres weiterhin stark sexualisierten und selbstgefährdenden Verhaltens unbeaufsichtigt bleiben. Begleitet wird sie über diese Jahre durch unterschiedlich ausgerichtete therapeutische Angebote. Immer wieder wird sie in die Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen. Der Wechsel in eine weitere stationäre Jugendhilfemaßnahme ist die Folge dieser Entwicklung. In dieser Einrichtung wird in einem geschützten Rahmen mit heiminterner Schule versucht, Sabrina weiter gut zu begleiten. Doch auch hier häuft sich das selbstverletzende Verhalten und nimmt in seiner Intensität noch zu. Nach einem weiteren KJP-Aufenthalt verweigert die Jugendhilfeeinrichtung die Wiederaufnahme Sabrinas. In der Folge verbringt sie neun Monate in der klinischen Einrichtung, bevor eine dritte stationäre Jugendhilfeeinrichtung das Mädchen aufnimmt. 22 uj 1 | 2020 Vorstellungen von einem guten Leben An diesem Punkt verlassen wir die Biografie des Mädchens mit der Frage, welche Vorstellungen von einem guten Leben Sabrina zu dem Zeitpunkt der Studienteilnahme mit dreizehn Jahren entwickeln konnte. Die Vorstellungen von einem guten Leben können dabei als handlungswirksame Orientierungsmuster, die sich im Laufe des Lebens entwickeln und kontinuierlich biografisch bearbeitet werden, verstanden werden (Kreher/ Marr 2012). Erkenntnisse aus dem Fallbeispiel/ Perspektive Sabrina Sabrina stellt sich vor, wieder bei ihrer Mutter zu leben, vielleicht später ein eigenes Haus zu besitzen. Auch Konsumgüter gehören zu ihren Vorstellungen von einem guten Leben, sie wünscht sich sehnlichst ein eigenes Handy. Später möchte sie einen guten Beruf ergreifen, der ihr Spaß macht, am liebsten würde sie studieren. Diese auf einer thematischen Ebene gewonnenen Erkenntnisse aus dem Interview mit Sabrina zeigen, dass die von ihr genannten Vorstellungen durchaus mit Ergebnissen aus anderen Studien zu Glück, Wertvorstellungen, Grundbedürfnissen und Verwirklichungschancen von Kindern in unserer Gesellschaft vergleichbar sind (LBS Kinderbarometer 2018). Sabrina wünscht sich in erster Linie Dinge, die sich auch andere Kinder und Jugendliche wünschen, die nicht in prekären Entwicklungskonstellationen heranwachsen. Der Wunsch nach einer harmonischen Familiensituation ist bei allen Heranwachsenden ein ganz wesentlicher (Andresen/ Fegter 2009). Auch die Vorstellung, dass ein gutes Leben durch einen guten Beruf erreicht werden kann, unterscheidet sich nicht von den Vorstellungen Heranwachsender der gleichen Altersgruppe, die in unbelasteten oder weniger belasteten Kinderwelten aufwachsen. Auf die erzählgenerierende Frage nach dem bisher schönsten Erlebnis in ihrem Leben, als Hinweis auf latente Vorstellungen von einem guten Leben, erzählt Sabrina in einer Sequenz von einem Besuch in einem Erlebnispark, von vielen Attraktionen und gemeinsamem Erleben mit der Wohngruppe und den ErzieherInnen, einem Ausflug bis spät in die Nacht, ebenso wie von den Ausflügen mit der Pflegefamilie, in der sie einige Monate lebte. Es dokumentieren sich in diesem Rückblick Dimensionen der Vorstellungen von einem guten Leben, die ein gemeinschaftliches Erleben, insbesondere leibliches, aktivitätsorientiertes, wie freudige Aufregung, gruselige Spannung und Spaß zu erspüren, Glücksmomente in familienähnlichen und/ oder erlebten Gruppensituationen während gemeinsamer Aktivitäten als gemeinsames Aneignen thematisieren (Marr 2015). Hier zeigt sich, dass die Vorstellungen von einem guten Leben mit Wünschen nach Teilhabe und Selbstverwirklichung einhergehen, aber auch den Grundbedürfnissen nach Liebe, Sicherheit und Geborgenheit verbunden sind, die sich als emotionale, kognitive und handlungsbezogene Dimensionen auch in den weiteren Kinderinterviews rekonstruieren ließen (Marr 2020). Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen weiterhin, dass diese Vorstellungen von einem guten Leben neben zeitspezifischen und/ oder kulturellen Mustern auch implizite Versuche der Heranwachsenden darstellen, ihre eigenen Biografien zu normalisieren. Sabrina beispielsweise will keine „Störung“ mehr haben, wodurch sich auch ihr Wunsch, den Normalitätsvorstellungen der Gesellschaft zu entsprechen vermittelt. Diese Normalitätsvorstellungen der Kinder entstehen innerfamilial und in institutionellen Räumen, aber auch in Kontakt zu anderen Kinderwelten, die aus der Sicht der Heranwachsenden mit prekären Entwicklungsvoraussetzungen als nicht belastet wahrgenommen und einer gesellschaftlichen Normalität zugesprochen werden. So wünschen sich die Heranwachsenden, wahrgenommene Positionierungen anderer Kinder zu erreichen, die ihnen Anerkennung, Zuneigung und Wertschätzung und insbesondere Teilhabe in unserer Gesellschaft versprechen. 23 uj 1 | 2020 Vorstellungen von einem guten Leben Erkenntnisse aus dem Fallbeispiel/ Perspektive der professionellen Akteure Nachdem wir einen ersten Eindruck gewonnen haben, was sich exemplarisch Sabrina für ihre Zukunft vorstellen kann, kommen wir jetzt zu der Frage, wie auf der anderen Seite die mit dem Mädchen in professioneller Beziehung stehenden ExpertInnen (aus Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen, Kinder- und Jugendpsychiatrien sowie therapeutischen Praxen) ein gutes Leben für Sabrina aus ihrer Perspektive einschätzen. Die Frage nach dem guten Leben der an der Studie teilnehmenden Kinder in der Zukunft forderte die ExpertInnen im Moment des Interviews dazu auf, ein Bild der Heranwachsenden und ihrem Leben in der Zukunft zu entwerfen. Im Gegensatz zu der ebenfalls gestellten Frage nach deren Entwicklungschancen wird damit nicht nur die fachliche Expertise aufgerufen, sondern zugleich mit der Frage nach einem guten Leben ein größerer Orientierungsrahmen eröffnet, der gleichermaßen für alle Menschen gelten kann und der individuelle wie kollektive Deutungsmuster birgt. Wieder auf Sabrina zurückzukommen, werden exemplarisch vier Eingangssequenzen der Antworten zu der Frage nach dem guten Leben für die Heranwachsende dargestellt. Frau W. (Bezugserzieherin von Sabrina) antwortet auf die Frage nach dem guten Leben für Sabrina in der Zukunft folgendermaßen: „Pahh (3) ahhh ich glaub das wird schwierig sein weil sie, leider eine Mama hat die ihr keine keinen Halt geben kann also die Mutter ist ja selber sehr labil“ (A 8, S. 9/ Z. 393 - 394). Der Sozialpädagoge aus dem Jugendamt Herr K., der Sabrina bereits viele Jahre kennt sagt zu einem guten Leben für das Mädchen: „ja äh ganz hart ausgedrückt äh hab ich die Befürchtung der Zug ist abgefahren“ (A 6, S. 4/ Z. 133 - 134). Ihre Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Frau S. sieht Verwirklichungschancen für ein gutes Leben Sabrinas folgendermaßen: „weiß nicht die Sabrina hat eine seelische Behinderung ich denke dass sie auch ahm ja so ein Störungsbild aufweist ähm das über, ich sag mal so, das eigenständige selbständige Leben zu führen hinaus geht […] ich denke da kommt es bei ihr dann wirklich drauf an wie gut kriegt man sie in einem therapeutischen Kontakt“ (A 5, S. 12/ Z. 490 - 508). Zwei Sonderschullehrerinnen sehen ein gutes Leben für Sabrina in einer: „jahrelange[n] hochtherapeutische Begleitung (1) Aufarbeitung der Geschichte der Mama die dann bereit ist sich ihrer eigenen Geschichte gemeinsam auch mit der Tochter, einfach zu besprechen zu diskutieren und ich glaube das das ist der Knackpunkt […] was anderes fällt mir dazu auch nicht ein […] und ich weiß immer noch nicht ob sie das jemals aufarbeiten kann […] weil ich nicht weiß ob sie emotional und kognitiv dazu überhaupt in der Lage ist“ (A 9, S. 10/ Z. 392 - 405). Diese Ausschnitte aus den erhobenen Interviewmaterialien zeigen zum einen, dass die ExpertInnen aus den professionellen Handlungskontexten ein gutes Leben Sabrinas einmal in Abhängigkeit von der Erziehungsfähigkeit der Mutter konstituieren und damit gesellschaftliche diskursive Deutungsmuster zu einer guten Mutterschaft aufrufen. Diese sind gekoppelt an die Normalitätsvorstellungen von Familie in unserer Gesellschaft, die, wenn auch im Wandel begriffen, immer noch ein kulturell-historisches Familienmodell der Kernfamilie aufweisen. Die Normalitätsfolien, die hier zugrunde gelegt werden, thematisieren eine traditionelle Sorgebeziehung der Mutter und daran gebunden ihre Verantwortlichkeit/ Zuständigkeit für ein gutes Leben des Kindes. Auf der anderen Seite werden aber auch Verschiebungen der Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für die Gestaltung von Ermögli- 24 uj 1 | 2020 Vorstellungen von einem guten Leben chungsräumen Sabrinas in der Zukunft in andere professionelle Bereiche der sektorübergreifenden Versorgung deutlich. Während die professionellen pädagogischen Akteure stärker in den therapeutischen Prozessen und der Zuständigkeit der Mutter Ermöglichungschancen für ein gutes Leben sehen, betonen die Akteure der KJP/ KJPP in diesem Zusammenhang immer wieder die Bedeutsamkeit eines konstanten Beziehungsangebots, einer Bezugsperson, die Sabrina über längere Zeit eng begleiten sollte und mit der sie eine sichere Bindungserfahrung erleben kann. Die Verschiebung der professionellen Zuständigkeit von den pädagogischen auf die medizinischen Disziplinen und umgekehrt deutet aber auch auf eine gewisse Resignation und Ohnmacht in der professionellen Begleitung, wie in dem von Herrn K. entworfenen erschütternden Bild von Sabrinas gutem Leben exemplarisch deutlich wird. Das Hilfesystem scheint hier an die Grenzen seiner fachlichen Interventionsmöglichkeiten gekommen zu sein. Die gegenseitigen professionsbezogenen Erwartungen der Akteure der sektoralen Versorgungssysteme stehen in Zusammenhang mit stark abgegrenzten Zuständigkeitsbereichen zwischen den sektoralen Teilwelten der interprofessionellen Kooperationen und weniger mit einer gelingenden Kooperation, die geeignet wäre, diese Hermetik zu überwinden. Die exemplarisch gezeigten defizitären Adressierungen der ExpertInnen finden sich neben den sozialpädagogischen/ erzieherischen auch in den schulischen wie medizinischen Sektoren. Sie sind demnach nicht nur an die Profession der Sozialen Arbeit gebunden. Weitere Ergebnisse verdeutlichen, dass die Mädchen und Jungen diskursiv verhandelt werden, ohne dass die Kinder daran beteiligt wären. Adele Clarke bezeichnet in der von ihr entwickelten Situationsanalyse solche vorgefundenen Positionen als Hinweise auf implicated actors (stumme Akteure) (Clarke 2012). Damit kann in der Erforschung sozialer Phänomene die Situiertheit von weniger mächtigen Akteuren in den Blick genommen werden, verknüpft damit, ob bestimmte Akteure ihre Stimme zu Gehör bringen können und ob es ihnen gelingt, Selbstpräsentationen zu ihren eigenen Bedingungen einzubringen. Die Ergebnisse dieser Analysen zeigen, dass die Kinder ihre Vorstellungen von einem guten Leben zu ihren eigenen Bedingungen nicht bzw. kaum zur Sprache bringen können. Das liegt zum einen daran, dass die in den bisherigen Lebenserfahrungen der Heranwachsenden eingelagerten bewussten und unbewussten Vorstellungen von einem guten Leben von den Professionellen dechiffriert werden müssten, da sie als aufscheinende Dimensionen von einem guten Leben erst kindspezifisch eingebettet in die individuelle Biografie verstanden werden können (Wolf 2002). Die aus einer professionellen ressourcenorientierten Perspektive so wertvollen individuellen Vorstellungen von einem guten Leben der Heranwachsenden verlieren sich an den disziplinären Schnittstellen und liegen so in einem blinden Fleck interdisziplinärer Kooperation der sektorübergreifenden Versorgung. Gelingt dagegen dieser verstehende Prozess im interdisziplinären Austausch, eröffnen sich durch die Vorstellungen von einem guten Leben der Kinder für die Praxis zusätzliche ressourcenorientierte Ansatzpunkte in der konkreten Arbeit mit den Heranwachsenden, die nicht nur für die Mädchen und Jungen als handlungswirksame Orientierungsmuster bedeutsam sind, sondern auch den Professionellen aus der fachübergreifenden Versorgung Möglichkeiten und Wege aufzeigen können, die Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten und gelingende Kooperationen anzustoßen. 25 uj 1 | 2020 Vorstellungen von einem guten Leben Fazit und Schlussfolgerung Im 14. Kinder- und Jugendbericht wird gefordert, junge Menschen und ihre Familien zu befähigen, eine eigene Idee eines guten Lebens zu entwickeln und dies unter möglichst freien Umständen und unterstützt durch gesellschaftliche und institutionelle Verwirklichungschancen (BMFSFJ 2013). Die bereits von den Heranwachsenden mit fachübergreifendem Hilfebedarf entwickelten Vorstellungen von einem guten Leben - als handlungswirksame Orientierungsmuster und somit wertvolle individuelle Ressourcen - finden in der interdisziplinären Zusammenarbeit sektoraler Versorgung zu wenig Beachtung. Heranwachsende, wie in der Untersuchung an dem Beispiel von Sabrina gezeigt werden konnte, erfahren in wiederkehrenden sozialen Situationen Exklusionsprozesse und Ablehnung. Ihr von den gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen abweichendes Verhalten hat sich im Laufe ihrer Entwicklung durch das Zusammenspiel von krisenhaften Lebensumständen, immer wieder abbrechenden oder widersprüchlichen Bindungsbeziehungen verfestigt und führt so zu entwicklungshemmenden Sozialisationsbedingungen. Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Schule stoßen hier mit Regelmäßigkeit an die Grenzen ihrer Möglichkeiten (Kalter 2004). Mit Methoden der Professionsentwicklung, wie Supervision und Coaching, kollegialer Beratung und interdisziplinären Qualitätszirkeln können die oben aufgezeigten impliziten Prozesse in der Professionsausübung aufgegriffen und stärker ins Bewusstsein professioneller Praxis gebracht werden, mit dem Ziel, eine reflexive Professionsentwicklung zu befördern. Hierzu sind aber auch finanzielle und zeitliche Ressourcen notwendig. Die als Versäulung thematisierten Zuständigkeiten in unterschiedlichen Systemen und differenten Professionen erschweren eine gelingende Kooperation in sektorübergreifenden Aufgabenfeldern. Die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse erfordern eine Anpassung des wohlfahrtsstaatlichen Leistungsspektrums und in der Folge die Anpassung der strukturellen Möglichkeiten für gelingende interdisziplinäre Kooperationen, da immer mehr Kinder und Jugendliche nicht nur aus einem Hilfesystem Unterstützung benötigen. Anhand eines Blicks auf die Vorstellungen von einem guten Leben der einzelnen Kinder könnte es gelingen, einen ganzheitlichen, die sektorale Versorgung stärker verbindenden Ansatz zu entwickeln, der an die lebensweltliche, sozialraumgebundene Situation der Kinder anknüpft. Die Vorstellungen von einem guten Leben könnten so stärker als verbindendes Element zwischen dem sozialpolitischen Auftrag, der professionellen Praxis und den Heranwachsenden und ihren Familien in prekären Lebenszusammenhängen wirksam werden. Eva Marr Universität Kassel FB Humanwissenschaften/ Institut für Sozialwesen Arnold-Bode-Str. 10 34127 Kassel E-Mail: eva.marr@uni-kassel.de Literatur Andresen, S., Fegter, S. (2009): Spielräume sozial benachteiligter Kinder. Bepanthen Kinderarmutsstudie. Bayer Vital GmbH Unternehmenskommunikation, Leverkusen Ben-Arieh, A. (2005): Where are the Children? Children’s Role in Measuring and Monitoring Their Well- Being. Social Indicators Research, 74 (3), 573 - 596, https: / / doi.org/ 10.1007/ s11205-004-4645-6 26 uj 1 | 2020 Vorstellungen von einem guten Leben BMFSFJ - Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2013): 14. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Drucksache 17/ 12200, Berlin Brünger, M. (2004): Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. In: Fegert, J. M., Schrapper, C. (Hrsg.): Handbuch Jugendhilfe - Jugendpsychiatrie. Interdisziplinäre Kooperation. Juventa, Weinheim und München, 355 - 359 Bühler-Niederberger, D., Mierendorff, J. (2009): Ungleiche Kindheiten - eine kindheitssoziologische Annäherung. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 4 (4), 449 - 456 Clarke, A. E. (2012): Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Reiner Keller. VS, Wiesbaden Fendrich, S., Pothmann, J., Tabel, A. (2018): Monitor Hilfen zur Erziehung 2018. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat). Eigenverlag Forschungsverbund DJI/ TU Dortmund, Dortmund Hülst, D. (2012): Das wissenschaftliche Verstehen von Kindern. In: Heinzel, F. (Hrsg.): Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Beltz, Weinheim/ Basel, 52 - 77 Kalter, B. (2004): „Besonders schwierig“, „psychisch krank“ oder„seelisch behindert“ - Um welche Kinder und Jugendlichen geht es? In: Fegert, J. M., Schrapper, C. (Hrsg.): Handbuch Jugendhilfe - Jugendpsychiatrie. Interdisziplinäre Kooperation. Juventa, Weinheim/ München, 449 - 457 Keupp, H., Ahbe, T., Gmür, W., Höfer, R., Mitzscherlich, B., Strauss, F. (1999): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Kreher, S., Marr, E. (2012): Vorstellungen von einem „guten Leben“ in sozial ungleichen Lebenswelten - Impressionen des lebensweltanalytischen Arbeitens mit Kindern. In: Schröer, N., Hinnenkamp, V., Kreher, S., Poferl, A. (Hrsg.): Lebenswelt und Ethnographie. Beiträge der 3. Fuldaer Feldarbeitstage 2./ 3. Juni 2011. Oldib, Essen, 149 - 165 Liebsch, K., Haubl, R., Brade, J., Jentsch, S. (2013): Normalität und Normalisierung von AD(H)S. Prozesse und Mechanismen der Entgrenzung von Erziehung und Medizin. In: Kelle, H., Mierendorff, J. (Hrsg.): Normierung und Normalisierung der Kindheit. Beltz, Weinheim/ Basel, 158 - 175 Marr, E. (2015): Heranwachsende in deprivierten Lebenswelten - Zugangswege finden und erhalten. In: Poferl, A., Reichertz, J. (Hrsg.): Wege ins Feld. Methodologische Aspekte des Feldzugangs. Beiträge der 4. Fuldaer Feldarbeitstage 5./ 6. Juli 2013. Oldib, Essen, 202 - 215 LBS-Gruppe (2018): LBS-Kinderbarometer Deutschland 2018. Stimmungen, Trends und Meinungen von Kindern aus Deutschland. In: https: / / www.lbs.de/ unternehmen/ u/ kinderbarometer/ index.jsp, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-322-92258-8, 15. 8. 2019 Nussbaum, M. C. (1999): Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Wolf, K. (2002): Der Versuch, glücklich zu leben: Lebensgemeinschaften als pädagogische Orte. In: Sozialpädagogisches Institut des SOS-Kinderdorf e.V. (Hrsg.): Glücklich an einem fremden Ort? Familienähnliche Betreuung in der Diskussion. Eigenverlag, München, 108 - 124