eJournals unsere jugend 72/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art06d
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2020
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Von halbherziger Inklusion zu „stiller Exklusion“ oder das stille Leiden der Exklusion

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2020
Martin Stahlmann
Inklusion ist das Reizthema der letzten 10 Jahre. Es scheint mittlerweile ein verbranntes Terrain zu sein. Schon der Begriff lud von Anfang an zu den heißesten Diskursen und Debatten ein: Es ging um nicht weniger als um die Beantwortung der Frage, wer letzten Endes die Deutungshoheit gewinnt. Und um es jetzt schon einmal anzudeuten: die Pädagogik war es nicht.
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35 unsere jugend, 72. Jg., S. 35 - 41 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art06d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Martin Stahlmann Jg. 1959, Diplom-Pädagoge, Studiendirektor und Leiter der Fachschulen für Heilpädagogik und Heilerziehungspflege an dem Regionalen Berufsbildungszentrum Elly-Heuss-Knapp-Schule Neumünster Von halbherziger Inklusion zu „stiller Exklusion“ oder das stille Leiden der Exklusion Inklusion ist das Reizthema der letzten 10 Jahre. Es scheint mittlerweile ein verbranntes Terrain zu sein. Schon der Begriff lud von Anfang an zu den heißesten Diskursen und Debatten ein: Es ging um nicht weniger als um die Beantwortung der Frage, wer letzten Endes die Deutungshoheit gewinnt. Und um es jetzt schon einmal anzudeuten: die Pädagogik war es nicht. Kommunen gehen (vgl. z. B. Montag Stiftung 2018; Schwalb/ Theunissen 2018). Hier leisten die Pädagogen und Pädagoginnen Großartiges. Es soll auch nicht um die ebenfalls zweifellos vielen Beispiele misslungener Inklusion gehen. Mediatheken, Blogs, Zeitungen und Zeitschriften sind voll von entsprechenden Schicksalen. Im Folgenden soll ein kritischer Blick quasi von der Seitenlinie aus gewagt und versucht werden, den Subtext der Inklusionsdebatte deutlich werden zu lassen. Die These, die hinter dieser Betrachtung steht, ist, dass es von Beginn an nicht um die Sache ging, sondern dass Wirkmächte mit anderen Interessen frühzeitig das Ruder übernommen haben. Der zweite Schritt vor dem ersten Die meisten verwechseln Dabeisein mit Erleben. “ Max Frisch Nachdem die UN-Behindertenrechtskonvention am 26. März 2009 in Kraft getreten war und nachdem klar wurde, dass das Institut für Menschrechte seine Monitoring Aufgabe sehr ernst nimmt, sowie nach den ersten Länderberichten, die - um es gelinde auszudrücken - für Deutschland nicht sehr gut ausfielen, kam in Bund und Land etwas Wo das Bewusstsein schwindet, dass jeder Mensch uns als Mensch etwas angeht, kommen Kultur und Ethik ins Wanken. Das Fortschreiten zur entwickelten Inhumanität ist dann nur noch eine Frage der Zeit. “ Albert Schweitzer 10 Jahre Behindertenrechtskonvention - der 26. 3. 2019 markiert den Beginn der Debatte - sind Grund genug, noch einmal kritisch hinzuschauen, auch wenn man meinen möchte, dass mittlerweile alles gesagt ist und sich die Diskussion im Kreise dreht. Dabei wird es hier nicht um die zweifellos gelingenden Projekte in der Umsetzung inklusiver Pädagogik in Kindertageseinrichtungen, Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Schulen oder „ „ 36 uj 1 | 2020 Von halbherziger Inklusion zu „stiller Exklusion“ mehr Fahrt bei der Umsetzung von „Inklusion“ auf. Jedoch, wie sich zeigen sollte, etwas sehr hastig und sogleich fokussiert a) auf Kinder mit Behinderungen und b) die sogenannte Inklusionsquote, also die Anzahl an Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, die in Regeleinrichtungen unterbracht wurden. Schnell war c) fast ausschließlich die Schule - Gymnasien im Wesentlichen ausgenommen - im Kreuzfeuer. Ein Hauptfehler in der überhasteten Umsetzung des Inklusionsgedankens bestand - einmal von den semantischen und Übersetzungsproblemen des Begriffs im Kontext der UN-BRK abgesehen - darin, sich im Vorfeld nicht klar gemacht zu haben, welche konzeptionellen, strukturellen, materiellen, finanziellen und personellen Voraussetzungen ein solches Projekt erfordert, bevor man zur Tat schreitet. Man hat schlicht übersehen, dass der Kern der Inklusion darin besteht, dass sich zunächst die Einrichtungen (Kita/ Schule, Jugendhilfe etc.) entsprechend aufstellen müssen, um überhaupt in der Lage zu sein, der Vielfalt von Kindern und Jugendlichen und ihren unterschiedlichsten Bedarfen gerecht zu werden. Stattdessen wurden schwerpunktmäßig Kinder mit Behinderungen oder Förderbedarf in bestehende institutionelle Strukturen eingefädelt (vor allem Kindertageseinrichtungen und Schulen), mit der Folge, dass die Pädagogen und Pädagoginnen vor Ort komplett überlastetet waren und sind. Aus purer Not heraus explodierte, trotz Intervention von Gerichten und lautstarkem Grummeln der Jugendämter, die Anzahl der „Schulbegleitungen“; Schulassistenzen wurden eingeführt (z. B. in Schleswig-Holstein) und die Schulsozialarbeit ausgeweitet. Anders war den neuen Herausforderungen schlicht nicht beizukommen. Parallel hierzu wurden bestehende Förderzentren und heilpädagogische Kleingruppen schrittweise aufgelöst, bundeslandspezifisch mit sicher unterschiedlichem Verve. Reisende SonderpädagogInnen und fahrende HeilpädagogInnen waren die Folge, um den individuellen Rechtsanspruch auf sonderpädagogische Förderung oder Eingliederungshilfe gewährleisten zu können. Von Klienten zu Klienten, von Schule zu Schule, von Kita zu Kita vagabundierend sind die KollegInnen stets mit neuen Bedingungen und Teams konfrontiert, haben jedoch nur extrem wenig Zeit zur Verfügung. Von Inklusion kann im Kontext dieser Versorgungsform kaum gesprochen werden - es scheint sich nicht einmal mehr um Integration zu handeln. Im Gegenteil: Auf diese Weise findet eine neue Art der Ausgrenzung statt, denn jedes Kind mit einer extra Betreuung an der Seite und ggf. in besonderen Fördersettings hatte von vornherein einen Sonderstatus. Außerdem wird berichtet, dass Kinder mit Beeinträchtigungen in „Regelklassen/ -gruppen“ nicht unbedingt auf wohlwollende Kinder oder PädagogInnen hoffen durften. Oft wird stattdessen nach wie vor von Diskriminierung, Ausgrenzung und Mobbing berichtet, möglicherweise Folge eines weiteren verbreiteten Irrtums. So wird mitunter unterstellt, dass Kinder und Jugendliche mit Handicaps in inklusiven Einrichtungen und Diensten keine individuelle Unterstützung und Assistenz mehr benötigen. Ein fataler Fehler, denn jenseits guter Einrichtungen haben Kinder und Jugendliche unter bestimmten Bedingungen durchaus einen entsprechenden Rechtsanspruch auf individuelle Eingliederungshilfe nach Sozialrecht oder Förderung nach Schulrecht. Inklusion bedeutet eben nicht „dabei sein sei alles“ oder „bloße Teilnahme sei schon Teilhabe“ (vgl. z. B. Schwalb/ Theunissen 2018). Naiver Zugang? Schule - als Institution - erzieht. “ Siegfried Bernfeld Es zeigte sich ziemlich schnell, dass „Inklusion“ scharf kollidierte mit einem sehr ausdifferenzierten schulischen und außerschulischen Angebotssystem, fatalerweise gekoppelt mit unterschiedlichsten rechtlichen, berufsständischen und verwaltungstechnischen Zuständigkeiten. „ 37 uj 1 | 2020 Von halbherziger Inklusion zu „stiller Exklusion“ Seien es die vielen (sonder-, sozial-, heil-) pädagogischen Fachdisziplinen, die ebenfalls involvierten therapeutischen Berufe oder die ausgefeilten differenzierten Leistungen im Rahmen des SGB VIII und der Eingliederungshilfe nach SGB IX: Solch ein komplexes System erfordert zumindest eine Zuweisung (medizinische Diagnostik entsprechend der ICD 10) nach bestimmten medizinisch und rechtlich definierten „Merkmalen“ (behindert - nicht behindert, Teilhabebeeinträchtigung oder nicht, Förderbedarf kein Förderbedarf, hilfebedürftig oder nicht…). Dieses Vorgehen und die sich daran anschließenden komplexen Verwaltungsverfahren sind unvereinbar mit dem Inklusionsgedanken: „Inklusionsorientierung entzieht einer solchen Praxis die Legitimationsgrundlage“ (Dannenbeck 2013, 461). An diesem Befund hat sich wenig geändert! Weder das Sozialrecht noch die 16 verschiedenen Kita- und Schulgesetze inklusive der dazugehörigen Verordnungen sind bislang angemessen angepasst worden. So findet sich der sogenannte Ressourcenvorbehalt nach wie vor in vielen Vorschriften und ob das neue Bundesteilhaberecht den Anforderungen genügt, wird mit Recht und vehement infrage gestellt. Kurz: Wir haben im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte ein fest betoniertes, versäultes System an pädagogischen Institutionen, Berufen und sozial-/ schulrechtlichen Vorschriften aufgebaut, das ohne Selektion und damit einhergehende Ausgrenzung gar nicht existieren kann. Obendrein wurde schlicht die Rechnung ohne den Wirt gemacht und völlig ignoriert, dass Schulen, Kitas, Eingliederungshilfe und Jugendhilfe eine gesellschaftliche Funktion erfüllen. Weder Jugendhilfe (doppeltes Mandat), noch Schule oder Kita sind„pädagogische Provinzen“ (Goethe), sondern Funktionen einer kapitalistisch ausgerichteten Gesellschaft - staatlich alimentiert und organisiert. Und schon die Art und Weise, wie die Systeme organisiert sind, „erzieht“ und „sozialisiert“. So stehen z. B. das gegliederte Bildungswesen, Bildungsstandards und schultypische Bewertungsmechanismen einer inklusiver Herangehensweise entsprechenden individuellen Bezugsnorm unversöhnlich gegenüber: „Sie (die Schulen, M. S.) gehorchen vielmehr Anforderungen, die - erklärtermaßen - den Ansprüchen einer Arbeitswelt genügen, sie betreiben Selektion, Allokation […]“ (Winkler 2018, 49 - 50) und zwar nicht nur nach Begabungs- oder Leistungskriterien, sondern - oft belegt - nach Merkmalen wie sozialer und ethnischer Herkunft. Schon mit diesem ersten grandiosen Fehlstart wurde verhindert, dass sich der Inklusionsgedanke überhaupt hat entfalten können. Versäumt wurde schlicht eine breite gesellschaftliche, pädagogische und politische Debatte über das Thema: „Es geht (…) um nicht weniger als die Befähigung aller junger Menschen zur Teilhabe in einer auf Befähigungsgerechtigkeit ausgerichteten Gesellschaft. Dazu ist zunächst die Befähigung der Gesellschaft und aller Hilfesysteme zur Inklusion notwendig“ (Permin 2013, 470). Stattdessen wurde fälschlicherweise Inklusion sofort und ohne Umschweife in ein pädagogisches Thema verwandelt: „Inklusion ist aber kein pädagogischer Begriff […]. Es gibt keine inklusive Pädagogik […].“ (Winkler 2018, 42). Kurz: Der Pädagogik wurde ein gesellschaftliches Problem zur Lösung aufs Auge gedrückt, das sie gar nicht lösen kann (sich dafür aber intensiv damit zu beschäftigen weiß). Einfalt statt Vielfalt Wir sehen die Dinge nicht so wie sie sind. Wir sehen sie so, wie wir sind. “ Talmud Inklusion wurde zudem ziemlich schnell auf Menschen mit Behinderungen reduziert, nicht erkennend, dass es erstens um Vielfalt und Heterogenität geht, worauf u. a. Loeken schon 2013 hinwies, und zweitens, dass der Hauptfokus zunächst eigentlich auf der Mehrheitsgesellschaft bzw. den Regeleinrichtungen hätte „ 38 uj 1 | 2020 Von halbherziger Inklusion zu „stiller Exklusion“ liegen müssen: „Nicht mehr der Mensch mit Behinderungen muss sich anpassen, wie dies bei der Integration der Fall ist, damit er in der Gesellschaft dabei sein kann. Vielmehr muss sich die Gesellschaft mit ihren Strukturen den individuellen Bedürfnissen aller Menschen anpassen. Eine inklusive Gesellschaft bezieht Menschen mit Behinderungen mit ihren Bedürfnissen von Anfang an ein und grenzt gar nicht erst aus“, so die Kinderkommission des Deutschen Bundestages bereits am 26. 1. 2011. Diese Verengung des Blickwinkels findet sich fatalerweise auch in der Mehrzahl der (kritischen) Beiträge der letzten Jahre, die oft systemimmanent argumentieren. Das Ganze zu denken ist naturgemäß ebenso schwer wie eine grundsätzliche Umkehrung der Perspektive, aber genau das verlangt Inklusion: „Inklusion ist kein Spezialthema für Menschen mit Behinderung, sondern ein Strukturprinzip moderner, differenzierter und sich als demokratisch verstehender Gesellschaften“ (Kastl 2019, 675). Das Aufbrechen bekannter (Denk- und Handlungs-) Strukturen ist jedoch bislang nicht gelungen. Wir fallen immer wieder zurück in vertraute Label, bekannte Institutions- und Argumentationsstrukturen und damit in die Gefahr erneuter Diskriminierung und Exklusion. Angesichts dieses Durcheinanders scheint es für Politik und Verwaltung ein Leichtes zu sein, die Deutungshoheit und die Regie über die Inklusion zu übernehmen. Still und heimlich werden Schlüsselbegriffe der Debatte transformiert und umgedeutet - gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wie Georg Feuser am Beispiel „Inklusion“ verdeutlicht: „Als Antwort ohne Frage ist Inklusion schon heute weitgehend Erfüllungsgehilfe einer neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die einer alle Gesellschaftsbereiche dominierenden Finanzialisierung und der Monetarisierung des menschlichen Lebens unterliegt“ (Feuser in Feuser 2017, 187; vgl. a. Honneth 2011). Eine ähnliche Beschreibung dieser Transformationsmuster finden wir bei Fritz Oser (2016 kritisch zu: Kompetenz) oder Ulrich Bröckling (2017 zu Resilienz, Prävention, Mediation, Feedback, Kontraktpädagogik), zu Ganzheitlichkeit (Stahlmann 2000, 2001), Qualität (Speck 1999), Inklusion (Feuser 2017; Becker 2016; Schiedeck/ Stahlmann 2010; Wittig-Koppe/ Bremer/ Hansen 2010). Auch der alltägliche Sprachgebrauch ist verräterisch: wer von inkludieren spricht, hat schlicht nicht verstanden, um was es geht. Inklusion gibt es nur als Nomen, nicht als Verb, dann wäre es ja wieder Integration! Der Begriff „Integration“ jedoch - eine weitere aufschlussreiche, ebenfalls selektierende Bedeutungsverschiebung - ist in der öffentlichen Debatte mittlerweile für Fragen der Migration reserviert, „Inklusion“ dagegen für Fragen der Behinderung - andere Varianten sind nunmehr kaum denkbar (Kastl 2019). In beiden Fällen jedoch geht es bestenfalls - mehr oder weniger heimlich - um strukturelle Integration im klassischen Sinne: das sich Einfügen in eine bestehende Mehrheitsgruppe/ -gesellschaft - „Inklusion“ wurde auf diese Art und Weise geschickt ihres potenziellen Bedeutungsinhaltes beraubt. Stille Exklusion […] das alles zeigt an, dass jene Inklusionsdebatte auf fatale Weise eingegrenzt wird von der eigentlichen Inklusionsmacht des ökonomischen Regelwerks. “ Becker 2016, 183 Oft wird in diesem Zusammenhang vermutet, dass der Fehler im System liegt. Ich fürchte, dass diese Vermutung zu kurz greift und viel weiter gesprungen werden muss: Der Fehler liegt nicht im System, er hat System. Die Debatte hat sich von Beginn an auf (Ab)Wege begeben, die möglichst wenig weh tun und schon gar nicht kostenwirksam erscheinen. Um es brutal zu formulieren: Es soll so sein, dass Kinder und Jugendliche „ 39 uj 1 | 2020 Von halbherziger Inklusion zu „stiller Exklusion“ ausländischer Herkunft nicht so schnell im Bildungssystem aufsteigen; es soll so sein, dass Krippe, Kita und Grundschule nicht zu den am besten versorgten pädagogischen Einrichtungen gehören; es soll so sein, dass die Versorgung psychisch Erkrankter erhebliche Lücken aufweist. Inklusion in dem viel beschriebenen umfassenden Sinne scheint nicht gewollt zu sein. Viele gut gemeinte (! ) Ansätze stecken in finanziell unterversorgten und zeitlich befristeten Projekten fest. Genau diese singuläre, temporäre Projektförderung signalisiert im Subtext: vom Grundsatz her wollen „wir“ keine Inklusion, Selbstbestimmung, gleichberechtigte Teilhabe, Partizipation etc. Die Regelversorgung bleibt chronisch unterfinanziert. Die Projektträger müssen sich oft immer neue Begründungen für dasselbe Projekt einfallen lassen - natürlich immer mit den neuesten gehypten Schlüsselbegriffen - gleichgültig, ob sinnvoll oder nicht. Das Argument, dass es an finanziellen Mitteln fehle - immerhin geht es eigentlich um ca. 34 Milliarden Euro - geht ins Leere, bedenkt man die Gewinne großer Unternehmen, deren Steuerflucht aus den Ländern, wo das Geld verdient wird, sowie die strafwürdigen Machenschaften z. B. großer Banken und Verbände, bei denen Milliarden umverteilt und versenkt werden. Kurz: All das, was Kosten verursacht, aber keine Rendite abwirft, wird vernachlässigt. Dieses Gebaren führt letzten Endes zu Diskriminierung und einer „stillen Exklusion“ der Betroffenen. Um es anders zu formulieren: Es geht bei all dem gar nicht um die Verbesserung pädagogisch-pflegerischer Arbeit, sondern um den Zugriff auf das Feld und die Kontrolle von Menschen, Klienten, Professionellen und Ressourceneinsatz - ein Zugriff, der sich als neue Form von Gouvernementalität in einer „Kontrollgesellschaft“ (Gilles Deleuze) erweisen könnte, in der Fremdbestimmung sich als Selbstbestimmung maskiert (vgl. a. Feuser 2017; Becker 2016; Bröckling 2017; Polutta 2015; Winkler 2018; Stahlmann 2019). Man mag das alles einem überbordenden außer Kontrolle geratenen Kapitalismus zuschreiben, was sicher auch etwas für sich hat. Denn bei Licht betrachtet trifft eine moralisch aufgeladene, normativ höchst anspruchsvolle „Inklusion“ auf eine Gesellschaft, deren ökonomisch-politische Verfasstheit geradezu angewiesen ist auf vielfältige Prozesse der Ausgrenzung und Wiedereingliederung. Aber mit ein wenig historischem Verstand könnten sich weitere Perspektiven ergeben. Zwar hat sich in der deutschen Gesellschaft seit 1945 sehr viel verändert. Bevölkerung, Kultur, Literatur, Musik, Lebensstile etc. sind so vielfältig wie nie. Doch es bleibt ein schaler sozialpolitischer Nachgeschmack, wenn wir bedenken, dass in Skandinavien bereits 1959 das Normalisierungsprinzip, in den USA Empowerment ab den 1950er/ 60ern diskutiert wurde, während bei uns Restauration fröhliche Urständ feierte. Strukturell und mental scheint die deutsche Gesellschaft sich nach wie vor sehr schwer zu tun mit liberalen, partizipativen, demokratischen Denkansätzen in Bildung, Sozialpolitik und Behindertenhilfe. Es ist bislang nicht gelungen, eine breite Debatte über Vielfalt und Differenz in der Gesellschaft zu führen: „Man mag es als späte Rache der Geschichte sehen, dass gerade die Deutschen, die unter den Nazis eine menschenverachtende Ausgrenzung und Selektion betrieben haben, es nicht haben lernen können, hier ihre selektiven Meinungen zu ändern“ (Reich 2008, 43, vgl. u. a. Muche 2016). Das Andersartige zu ignorieren, als anormal zu diskreditieren und zu diskriminieren, ist nicht aus der Welt. Typische Anzeichen hierfür sind, dass Vielfalt und Heterogenität in bestimmten Milieus kaum ausgehalten werden. Im Gegenteil: Desintegrationsprozesse nehmen zu, die für die soziapolitische Stabilität so wichtige bürgerliche Mitte kündigt die Solidarität mit den Schwächeren auf und hat mittlerweile selbst massive Angst von dem sozialen Abstieg (Reckwitz 2017; Heitmeyer 2018). Hier mag sich eine Erklärung dafür finden, weshalb sich Vorurteile gegenüber psychisch Kranken, Behinderten oder Ausländern so lange haben halten können. Sie werden als Gefahr und Bedrohung der eige- 40 uj 1 | 2020 Von halbherziger Inklusion zu „stiller Exklusion“ nen labilen Identität erlebt. Der um sich greifende Rechtspopulismus und der nicht verschwinden wollende Antisemitismus mögen Anzeichen hierfür sein. Dabei „handelt es sich nicht um ein Minderheitenphänomen, sondern um Haltungen, die in der Mitte der Gesellschaft zu finden sind“ - mit erheblichem Gefahrenpotenzial für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie (Unzicker zitiert von Doerfler, Frankfurter Rundschau 31. 1. 2018; Heitmeyer 2017). Politik und Gesellschaft stehen recht ratlos dieser Entwicklung gegenüber und immer wieder gelingt es, die Diskussion zurückzustutzen auf wohl bekannte Positionen: „Wir sind nicht veränderungsbereit. Wir sind Reaktionsweltmeister, aber wir sind völlig leidenschaftslos, wenn es um Prävention geht, um Antizipation, um Vorwegnahme kommender Herausforderungen“ so der Soziologe Thomas Druyen 2018 in einem Interview von ZEITOnline. Vergesst Inklusion Man muss befürchten, dass es dem Kapitalismus gelingt, noch jede gute Idee zur Gestaltung der sozialen Welt sich zu eigen zu machen und zu pervertieren. “ Michael Winkler 2018, 79 Wir müssen aktuell ein vorläufiges Scheitern der Inklusion vermerken (vgl. Wittig-Koppe/ Bremer/ Hansen 2010; Schiedeck/ Stahlmann 2010; Ahrbeck 2014; Feuser 2017; Becker 2016; Felten 2017; Winkler 2018). Aber, um es am Ende noch einmal deutlich zu sagen: An der Auseinandersetzung kommen wir nicht vorbei. Immerhin geht es hier um Menschen- und Bürgerrechte, um Selbstbestimmung, gleichberechtigte Teilhabe und Partizipation, Rechte, die nicht substanziell neu sind (sic! ), und nicht um eine gnädige Gefälligkeit. Gleichwohl ist der Begriff Inklusion wohl vorerst verbrannt, der „moralischen Versickerung“ (Becker 2015, 172) unterworfen, zu einem „Kampfbegriff“ mutiert. Daher gilt es jetzt, ohne Verweis auf Inklusion, für die Interessen und Bedarfe der Kinder und Jugendlichen zu streiten, um vor allem materielle, strukturelle und rechtliche Verbesserungen zu erreichen. Dabei lohnt es sich - um mit Sartre zu sprechen - die Welt aus den Augen der am meisten Benachteiligten zu sehen, deren Sicht „den Menschen und die Gesellschaft in ihrer Wahrheit“ zeige (aus: J. P. Sartre: „Die Kommunisten und der Frieden“, zit. n. Bakewell 2018, 307). Es geht darum, Diskriminierung und Ausgrenzung zu vermeiden und gleichzeitig Entwicklungsmöglichkeiten sowie gleichberechtigte Teilhabe zu schaffen, mithin um Respekt und Anerkennung. Zugegebenermaßen haben wir es hier mit einer Vision zu tun, deren Realisierung irreal erscheinen mag. Solange wir jedoch an dieser Stelle nicht substanziell weiterkommen, haben wir es mit einer Welle „stiller Exklusion“ zu tun, deren Folgen - besonders subjektbezogen - nicht absehbar sind. Dr. Martin Stahlmann Eichenallee 23 b 24784 Westerrönfeld „ 41 uj 1 | 2020 Von halbherziger Inklusion zu „stiller Exklusion“ Literatur Ahrbeck, B. (2014): Inklusion. Eine Kritik. Kohlhammer, Stuttgart. Bakewell, S. (2018): Das Café der Existentialisten. Beck, München Becker, U. (2016): Die Inklusionslüge. Transcript, Bielefeld Bernfeld, S. (1925/ 1973): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Suhrkamp, Frankfurt/ M., https: / / doi. org/ 10.30820/ 9783837972689-9 Bröckling, U. (2017): Gute Hirten führen sanft. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Dannenbeck, C. (2013): Inklusionsorientierung als pädagogische Herausforderung. In: Unsere Jugend 65, 460 - 466, https: / / doi.org/ 10.2378/ uj2013.art43d Doerfler, K. (2018): Das wachsende Unbehagen mit an der Moderne. In: Frankfurter Rundschau 31. 1. 2018 Druyen, T. (2018): „Die Deutschen sind Reaktionsweltmeister.“ In: Die Zeit Nr. 15, 5. 4. 2018 Felten, M. (2017): Die Inklusionsfalle. Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert. 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