eJournals unsere jugend 72/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art09d
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Der Umgang mit delinquenten Jugendlichen in der Kinder- und Jugendhilfe

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Sabrina Hoops
„Kriminelle Kids“ beherrschen immer wieder die Schlagzeilen. Neben der Forderung, das Strafmündigkeitsalter zu senken, sind Rufe nicht überhörbar, die Jugendhilfe möge entschiedener und „härter“ durchgreifen. Lautstark wird auch nach Geschlossenen Heimen verlangt. Dabei hat die Jugendhilfe mit ihrem Leistungsspektrum von ambulanten bis stationären Settings weit mehr zu bieten.
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50 unsere jugend, 72. Jg., S. 50 - 56 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art09d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Der Umgang mit delinquenten Jugendlichen in der Kinder- und Jugendhilfe Weit mehr als Geschlossene Unterbringung! „Kriminelle Kids“ beherrschen immer wieder die Schlagzeilen. Neben der Forderung, das Strafmündigkeitsalter zu senken, sind Rufe nicht überhörbar, die Jugendhilfe möge entschiedener und „härter“ durchgreifen. Lautstark wird auch nach Geschlossenen Heimen verlangt. Dabei hat die Jugendhilfe mit ihrem Leistungsspektrum von ambulanten bis stationären Settings weit mehr zu bieten. von Dr. Sabrina Hoops Jg. 1970; Diplompädagogin, wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI) e.V. in München Es sind in der medialen Berichterstattung immer wieder vor allem schreckliche Einzelfälle, bisweilen auch durch Gruppen von Jugendlichen oder - seltener - Kindern, die die Öffentlichkeit beunruhigen und - leider - auch den Ruf nach Strafverschärfungen oder „Geschlossenen Heimen“ laut werden lassen. Auch in den Fachdebatten erfahren Jugendliche, die häufiger und intensiv mit Straftaten auffällig werden, wiederkehrende Aufmerksamkeit. Zuletzt war dies der Fall im Sommer 2019, als eine Gruppe von zwölf bis 14-jährigen Jungen in Mülheim eine Frau vergewaltigt haben soll. „Kinder-Gang vergewaltigt Frau“ titelte der Focus (focus.de, 9. 7. 2019), die BILD forderte unter Bezugnahme auf CDU-Politiker: „Steckt Brutalo-Kids in Geschlossene Heime! “ (bild.de, 9. 7. 2019) und der MDR fragte: „Wie soll der Staat reagieren? “ (mdr.de, 10. 7. 2019). Die ZEIT schließlich konkretisierte mit der Frage: „Wie gehen Jugendämter mit kriminellen Kindern um? “ (zeit.de, 17. 7. 2019) und lenkte zu Recht den Blick auf den zentralen Akteur im Umgang mit delinquenten Kindern und Jugendlichen. Denn auch wenn der Umgang mit Delinquenz, resp. auch die Prävention von Delinquenz für sich genommen eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung darstellt, an der verschiedene gesellschaftliche Kräfte, Institutionen und Akteursgruppen mitwirken, so handelt es sich dabei im Kindes- und Jugendalter vor allem um eine erzieherische Aufgabe (Holthusen/ Hoops 2015). Damit ist es - nach den Personensorgeberechtigten als erste Erziehungsinstanz - vor allem an der Jugendhilfe zu prüfen, ob und inwieweit sich aus einem Delinquenzverhalten etwa ein Beratungsbedarf, ein erzieherischer Bedarf oder sogar eine Gefährdung ableitet, um dann - gemeinsam mit den Adressatinnen und Adressaten - die Frage zu stellen, welche familienunterstützenden und -ergänzenden Angebote hilfreich 51 uj 2 | 2020 Umgang mit delinquenten Jugendlichen sein könnten. Bei Jugendlichen (14 - 17 Jahre) und Heranwachsenden (18 - 20 Jahre), also jungen Menschen, die nicht mehr strafunmündig sind, übernimmt die Jugendhilfe zudem Aufgaben der Mitwirkung in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz. Als Jugendhilfe im Strafverfahren hat sie den gesetzlichen Auftrag, Jugendliche und Heranwachsende in Strafverfahren zu begleiten und zu unterstützen sowie nach der Verhandlung die angewiesenen Auflagen und Weisungen zu überwachen oder, wenn sie nicht an freie Träger der Jugendhilfe delegiert sind, diese selbst durchzuführen. Jugenddelinquenz - singuläres Ereignis, Episode oder Einstieg in eine kriminelle Karriere? Zur besseren Einschätzung und Bewertung von Jugenddelinquenz ist - jenseits des zusätzlichen Blicks auf den Einzelfall - ein sortierender Blick auf das Phänomen notwendig (Hoops/ Holthusen 2011; Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention/ Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz 2018): Denn Jugenddelinquenz ist nicht gleich Jugenddelinquenz. Aus zahlreichen Studien ist bekannt: Wenn Minderjährige durch Delinquenzhandeln auffällig werden, so handelt es sich vor allem im Bagatellbereich in den überwiegenden Fällen um ein ubiquitäres und episodenhaftes Phänomen (z. B. Hoops 2009). Speziell unter Personen männlichen Geschlechts ist Delinquenz sogar so weit verbreitet, dass sie als statistisch normal angesehen werden kann (Kerner 2004, 8). Das Überschreiten von Regeln und das Austesten von Grenzen ist also ein altersspezifischer - wenn auch mit Risiken behafteter - Bestandteil der Entwicklung junger Menschen. Neben einer solchen passageren, eher von leichteren Straftaten geprägten Delinquenz, die in der Regel keinen institutionellen Handlungsbedarf mit sich bringt, kann es allerdings auch zu Verfestigungen delinquenter Verhaltensweisen kommen, die häufig verbunden sind mit komplexen „Problemverflechtungen“ im Kontext des Aufwachsens (Hoops/ Holthusen 2011, 37). Wichtig ist demnach, zwischen der ubiquitären und episodenhaften Jugenddelinquenz einerseits und problematischen Konstellationen andererseits zu unterscheiden. Letztere, auf die der Großteil wiederholter und schwerwiegender Straftaten entfällt, wird durch eine kleine, überwiegend männliche Personengruppe vertreten, die häufig komplexe Problemlagen auf sich vereinigt: von sozialer Randständigkeit über Gewalterfahrungen in der Familie und Schulproblemen bis hin zu Alkohol- und Drogenmissbrauch und devianten Cliquenbezügen (ebenda). Bei diesen „Mehrfachauffälligen“ findet sich also in der Regel eine Reihe von Belastungsfaktoren. Dennoch muss es offenbleiben, wie ein „normales“ und passageres Delinquenzverhalten möglichst früh von denjenigen Fällen unterschieden werden kann, in denen kritische Verläufe zu erwarten sind. Denn auch wenn verfestigte Kriminalität oft auf soziale Probleme verweist - der Umkehrschluss, versimpelt ausgedrückt: die Behauptung, soziale Probleme führen zu Delinquenz, ist empirisch nicht zutreffend und damit unhaltbar (zur Logik des Verdachts sozialer Ungleichheit und der selektiven Kriminalisierung von Benachteiligten vgl. Scherr 2010). Sog. kriminalprognostische Risikobewertungen in der Jugendhilfe sind mit Blick auf ihre spezifischen Ziele, Chancen und Gefahren stets auch kritisch zu reflektieren (Spehr/ Haedge/ Bange 2019, 263). Auch wenn manche dies gerne hätten: Eine verlässliche empirisch begründete Prognosesicherheit gibt es nicht (Hußmann 2010, 346). „Die retrospektiv erlangte Erkenntnis, dass (frühe) Mehrfachauffälligkeit bei nahezu allen späteren „Delinquenzkarrieren“ sichtbar wird, verleitet (…) schnell zu unzulässigen Rückschlüssen und falschen Prognosen.“ (Hoops/ Holthusen 2011, 38) Es bleibt damit festzuhalten: Bei Jugenddelinquenz handelt es sich um ein vielschichtiges Phänomen mit unterschiedlichen Facetten - 52 uj 2 | 2020 Umgang mit delinquenten Jugendlichen zwischen entwicklungsbedingter „Normalität“ und Risiko. M. a. W.: Auf den Einzelfall bezogen kann Delinquenz ein lebensphasentypischer Aspekt im Rahmen von Entwicklungsanforderungen sein, Delinquenz kann aber auch ein Indikator für einen (näher zu bestimmenden) Bedarf oder eine Gefährdung darstellen. Eine solche Signalwirkung ist aber nicht zwangsläufig mit Delinquenz verknüpft. Überwiegend bleibt es bei einzelnen, eher wenig gravierenden Auffälligkeiten wie z. B. einfachen Ladendiebstählen, die nach der polizeilichen Strafanzeige lediglich auf informeller Ebene im Rahmen der Familie oder vom sozialen Umfeld aufgegriffen werden, und aus denen heraus sich - auch ohne weitergehende institutionelle Mitwirkung - keine Delinquenzkarriere entwickelt (Hoops 2009; Wahl 2009). Der Erziehungsratgeber des Bayerischen Landesjugendamts „Eltern im Netz“ stellt etwa klar: „Selten stehlen Jugendliche (…) aus echter Bedürftigkeit. Viel häufiger spielen weitere andere Gründe eine Rolle, wenn sie der Versuchung nicht widerstehen, etwas „mitgehen“ zu lassen“ (elternimnetz.de). Als beispielhafte Motive werden etwa Einfluss durch Gleichaltrige (Mutproben), Lust auf Abenteuer, Nervenkitzel oder auch Aufbesserung des Taschengeldes genannt (ebenda). Auch hier wird zunächst die „Normalität“ von veränderten Verhaltensweisen betont („Grenzüberschreitungen sind jetzt an der Tagesordnung“), zugleich verweist der Erziehungsratgeber auf die Unsicherheit vieler Eltern, die Handlungen ihrer Kinder einzuordnen und zu bewerten, und beschreibt dieses als anspruchsvolle Herausforderung. Ob ein Tätigwerden, gar ein „Eingreifen“ der Jugendhilfe notwendig ist, kann immer nur mit Blick auf den Einzelfall beantwortet werden - weshalb die Rolle der Jugendhilfe, die gemäß Polizeidienstvorschrift (PDV) 382 über die Ereignismeldungen der Polizei von Strafanzeigen, in denen Minderjährige involviert sind, gesichert und zeitnah Kenntnis erlangen soll, auch an dieser Stelle sehr zentral ist (hierzu bereits 2004: Bindel-Kögel/ Heßler/ Münder 2004). Die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe im Kontext von Delinquenz Die Jugendhilfe ist prinzipiell für alle junge Menschen zuständig - sie wendet sich also nicht lediglich an mit Delinquenz auffällig gewordene Kinder und Jugendliche und deren Familien. Primäre Aufgabe der Jugendhilfe ist es, junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden bzw. abzubauen, Eltern oder andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung zu beraten und zu unterstützen, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen sowie dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien zu erhalten bzw. zu schaffen (vgl. § 1 SGB VIII). Da Delinquenz ein Aspekt sein kann, der die Entwicklung und das Aufwachsen junger Menschen massiv beeinflusst, gehören Minderjährige, denen rechtswidrige Taten vorgeworfen werden, und ihre Familien grundsätzlich - wenn man das so ausdrücken will - in besonderem Maße zum möglichen Adressatenkreis der Jugendhilfe. Jenseits von universellen, auch konkreten Präventionsangeboten z. B. im Rahmen der Jugendarbeit, wird sie jedoch nur tätig, wenn tatsächlich ein erzieherischer Bedarf vorliegt, ein Beratungswunsch vorgetragen wird oder - im Fall der Jugendhilfe im Strafverfahren - durch ihre Mitwirkung in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG). Für das Handeln der Jugendhilfe im Kontext von Delinquenz ist kennzeichnend, dass sie den Fokus nicht auf delinquente Verhaltensweisen von Jugendlichen beschränkt, sondern ihre Adressatinnen und Adressaten in ihren Lebenssituationen wahrnimmt oder mit anderen, bereits viel zitierten bekannten Worten: nicht nur Probleme, die die Jugendlichen machen, sondern auch welche Probleme sie haben, als Ausgangspunkt fachlichen Handelns nutzt (Hecker/ Kremers 2012). Das SGB VIII hält für das Jugendalter dementsprechend ein breitgefächertes Angebot an Leistungen und Maßnahmen vor, die sich mit 53 uj 2 | 2020 Umgang mit delinquenten Jugendlichen Ausnahme der Jugendhilfe im Strafverfahren (§ 52 SGB VIII) im Blick auf ihr Zustandekommen zunächst nicht vorrangig am Kriterium der Delinquenz ausrichten. Nimmt man nur die auf Jugendliche fokussierten Angebote in den Blick, so reicht das Spektrum von der Jugendarbeit (§ 11 SGB VIII), der Jugendsozialarbeit (§ 12 SGB VIII) über den erzieherischen Jugendschutz (§ 14 SGB VIII) bis hin zu den Hilfen zur Erziehung mit seinen verschiedenen ambulanten und (teil-)stationären Settings (§§ 27 - 34 SGB VIII), der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Jugendliche (§ 35 a SGB VIII) und Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) sowie dem Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung/ Wächteramt des Jugendamts (§ 8 a SGB VIII) und der Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) als eine weitere Aufgabe. In den verschiedenen Settings der Angebote der Jugendhilfe finden z. B. Prozesse informeller Bildung und Entwicklungsförderung sowie Aktivitäten der Vermittlung sozialer Kompetenzen statt, die auch einen Beitrag dazu leisten können, Delinquenz zu begegnen (Holthusen/ Hoops 2015, 496). Der Tatsache entsprechend, dass das institutionelle Handeln aber nicht zwangsläufig oder ausschließlich durch Delinquenzhandeln ausgelöst werden muss, sondern der Hilfeanlass durchaus auch durch andere Bedarfe begründet werden kann, steht der Umgang mit Delinquenz nicht immer auch notwendig im Mittelpunkt eines Angebots. Eine stationäre Unterbringung wird etwa immer auch auf andere Bereiche (z. B. Stärkung sozialer Kompetenzen) abzielen. Zugleich gibt es Settings, z. B. im Rahmen eines Deeskalationstrainings in einem Jugendzentrum, in denen gezielt Gewaltprävention für junge Menschen angeboten wird. Ist das institutionelle Handeln hingegen explizit im Delinquenzhandeln begründet, so steht im Grundsatz ebenfalls ein breites Spektrum von Angeboten zur Verfügung. Diese richten sich mit unterschiedlichen Methoden, Formen und Themen sowie ggf. mit unterschiedlichen Kooperationspartnern (z. B. Schule, Polizei) an spezifische Zielgruppen (ebenda). Die Zielgruppenbezogenheit der Maßnahmen mit einem breiten Spektrum von flexiblen ambulanten bis stationären Settings und eine an den Ressourcen der Jugendlichen orientierte Ausrichtung nehmen einen besonderen Stellenwert ein (Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention / Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz 2018). Nach § 52 SGB VIII und § 38 JGG wirkt die Jugendhilfe im Strafverfahren mit und bringt dort die pädagogische Perspektive ein (Holthusen/ Hoops 2015, 498): Indem sie das Jugendgericht über die Persönlichkeit des Jugendlichen informiert und Vorschläge für Maßnahmen unterbreitet, trägt sie mit dazu bei, dass vom Jugendgericht ausgesprochene Auflagen und Weisungen so auf den Jugendlichen zugeschnitten sind, dass ein schädlicher Freiheitsentzug durch Jugendarrest oder Jugendstrafe vermieden werden kann und weitere Straftaten unwahrscheinlicher werden. Die Jugendhilfe ist hier zugleich auch Anbieter für ein Spektrum von erzieherisch ausgerichteten ambulanten Settings wie z. B. Soziale Trainingskurse, Betreuungsweisungen oder Täter-Opfer-Ausgleich. Als zwar verhältnismäßig kleine, aber fachlich besonders herausfordernde Zielgruppe sind die mehrfachauffälligen Jugendlichen zu nennen, die - tituliert als „besonders Schwierige“, „Erziehungsresistente“, „Systemsprenger“ oder auch im Polizeijargon als „Intensivtäter“ - die Fachpraxis vor besondere Anforderungen stellen. Diese Jugendlichen sind vielfach dadurch charakterisiert, dass sie oft unter psychosozialen Belastungen aufwachsen: Häufig stammen die Jugendlichen aus problematischen Familienverhältnissen und ihre Schullaufbahnen sind durch Wechsel und Abbrüche geprägt. In vielen Fällen haben die Jugendlichen auch selbst Opfererfahrungen (Holthusen 2016, 457). Hinzu kommt, dass vorherige pädagogische und therapeutische Angebote oft gescheitert sind, abgebrochen wurden oder allenfalls bedingt erfolgreich waren (ebenda). Auch diesen jungen Menschen verbindlichen Schutz zu geben 54 uj 2 | 2020 Umgang mit delinquenten Jugendlichen und als Institution nicht daran mitzuwirken, sie vorzeitig in andere Handlungsfelder wie z. B. den Jugendstrafvollzug „zu delegieren“, ist eine wichtige Aufgabe der Jugendhilfe. Dabei ist auch der Bedarf an vor allem intensiv-pädagogischen und engmaschigen Betreuungsformaten angesprochen (Hoops 2018, 246). Die „Ultima ratio“ Freiheitsentziehende Unterbringung in der Jugendhilfe Mit gegenwärtig 325 Plätzen, verteilt auf lediglich 26 Einrichtungen, bildet die Freiheitsentziehende Unterbringung im Gesamtspektrum der Kinder- und Jugendhilfe (s. o.) zahlenmäßig nur eine randständige Größe (Hoops 2018). Dabei ist wichtig zu wissen: Eine Freiheitsentziehende Unterbringung nach § 1631 b Abs. 1 BGB in Verbindung mit §§ 34 oder 35 a SGB VIII begründet sich nicht durch Delinquenz, sondern ihre Legitimität bezieht sie aus der Gefährdung des Kindeswohls, genauer: der Abwendung einer Selbst- und Fremdgefährdung und der Eröffnung von Entwicklungschancen. Die Unterbringung bedarf der familienrichterlichen Genehmigung, die nur erteilt wird, wenn nach sorgfältiger Prüfung des Einzelfalls keine geeigneten offenen Angebote mehr zur Verfügung stehen und die Freiheitsentziehung für das Wohl des Kindes unumgänglich erscheint (ultima ratio): Der genaue Wortlaut des § 1631 b Abs. 1 BGB lautet folgendermaßen: „Eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, bedarf der Genehmigung des Familiengerichts. Die Unterbringung ist zulässig, solange sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.“ Damit steht fest: Delinquenzverhalten kann mit zu den Auslösern einer Freiheitsentziehenden Unterbringung gehören, muss es aber nicht. Charakteristisch sind eher multiple Problemlagen, vor allem auch vorausgegangene „Maßnahmenkarrieren“ (Hoops 2018, 346); die bereits oben unter dem Etikett „systemsprengend“ und „erziehungsverweigernd“ beschriebenen Jugendlichen stellen damit die „typische“ Zielgruppe dar. Entsprechend handelt es sich bei einer Unterbringung in der Jugendhilfe, auch wenn sie mit dem Instrument der Freiheitsentziehung verbunden ist, weder um eine „Strafe“ für Delinquenz- oder anderes Fehlverhalten noch handelt es sich bei den Einrichtungen um „Kinderknäste“. Vielmehr handelt es sich hier um eine sehr hochschwellige und in die Lebenswelt der Jugendlichen intensiv Einfluss nehmende, spezifische Form der Jugendhilfe mit unterschiedlichen intensiv-pädagogischen und therapeutischen Settings. Für die gemäß § 45 SGB VIII speziell betriebserlaubten Heime konzeptionell leitend ist das Prinzip der „sukzessiven Öffnung“ bzw. der „individuellen und temporären Geschlossenheit“, d. h. im pädagogischen Alltag werden die Jugendlichen in Phasenmodellen oder Stufenplänen ihrem Entwicklungsstand entsprechend schrittweise zum eigenverantwortlichen Umgang mit immer größeren Freiräumen geführt. Bilanz und aktuelle Herausforderungen sowie Entwicklungsbedarfe Das Phänomen Jugenddelinquenz ist in erster Linie ein „normaler“, altersangemessener Aspekt im Rahmen von Entwicklungsanforderungen in der Jugend. Wenn Jugendliche mit delinquentem Verhalten auffällig werden, kann dies aber auch auf einen Hilfebedarf hindeuten, der professionelle Reaktionen und Unterstützungsangebote erforderlich macht. Zugleich gilt, dass das institutionelle Vorgehen abgewogen und mit Blick auf seine Effekte sorgsam 55 uj 2 | 2020 Umgang mit delinquenten Jugendlichen reflektiert werden muss, denn Delinquenz ist nicht zwangsläufig ein hinreichendes Anzeichen für eine Gefährdung. Im Gegenteil, würde Delinquenz immer als negatives Signal ausgelegt und würde dann „überinterpretiert“, so entstünde daraus „ein eigenes Gefährdungsrisiko“ (Hoops/ Holthusen 2011, 40). Im Umgang mit Jugenddelinquenz ist die Jugendhilfe mit ihren öffentlichen und freien Trägern ein zentraler Akteur und nicht zuletzt auch wichtiger Kooperationspartner für die zudem beteiligten Handlungsfelder wie z. B. Polizei und Justiz. Dabei steht fest: Die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, auch im Kontext von Jugenddelinquenz, hat in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten einen bedeutenden Ausbau erfahren. Dies lässt sich nicht nur anhand von quantitativen Dimensionen (zentrale Kennzahlen zur Kinder- und Jugendhilfe liefert der aktuelle Kinder- und Jugendhilfereport 2018, vgl. Autorengruppe 2019, 24) belegen, sondern ebenso mit vielfältigen, auch konzeptionellen Weiterentwicklungen. Eine wichtige strukturelle Herausforderung besteht gegenwärtig darin, die Angebotsstruktur der Jugendhilfe auch angesichts der angespannten Finanzsituation mancher Kommunen sicherzustellen sowie in der Fläche auszubauen. Ziel sollte sein, dass die je nach örtlichem Bedarf notwendigen Ansätze von ambulanten bis stationären Settings als Regelangebote in ihrer Breite vorhanden sind, sodass jungen Menschen die Unterstützung und Hilfe angeboten wird, die sie benötigen (Holthusen/ Hoops 2015). Im Fokus aller Bestrebungen der Jugendhilfe steht der Blick auf den Einzelfall, für den ein individuelles, flexibles Angebotssetting zeitnah und flächendeckend zur Verfügung stehen soll. Das straffällige Verhalten ist demnach nicht isoliert zu betrachten, sondern das Augenmerk sollte darauf gerichtet sein, dass es vor allem individuelle und soziale Problemverflechtungen sind, die negative Entwicklungsdynamiken befördern und sich zu Institutionen- und Delinquenzkarrieren kumulieren können. Positive Effekte sind vor allem durch eine Bandbreite an pädagogischen Angeboten zu erwarten. Dies bedeutet, mit unterschiedlichen zielgruppenspezifischen Konzepten zwischen jugendtypischer Delinquenz, „normaler“ Grenzüberschreitung und massiven Problemkonstellationen zu unterscheiden. Lernchancen sind vor allem durch eine passgenaue, an den Ressourcen und den Lebenslagen der Adressatinnen und Adressaten orientierte Vorgehensweise zu erwarten. Damit ist impliziert, dass auch intensiv-pädagogische Maßnahmen im Bedarfsfall zeitnah zur Verfügung stehen sollten. Auch eine freiheitsentziehende Unterbringung in geeigneten Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe nach § 34 SGB VIII in Verbindung mit § 1631 b BGB kann in Einzelfällen eine geeignete Hilfe darstellen. Zu berücksichtigen ist hier jedoch, dass Delinquenz nicht per se eine Indikation für eine freiheitsentziehende Unterbringung darstellt, sondern sich die familienrichterliche Genehmigung der Hilfe am Kindeswohl, insbesondere an der Abwendung einer erheblichen Selbst- und Fremdgefährdung orientiert. Lautstarken Forderungen nach „Geschlossenen Heimen“ im Sinne von „Kinderknästen“ ist demnach eine klare Absage zu erteilen. Dr. Sabrina Hoops Deutsches Jugendinstitut (DJI) e.V. München Nockherstr. 2 81541 München Tel. (0 89) 62 30 62 67 E-Mail: hoops@dji.de 56 uj 2 | 2020 Umgang mit delinquenten Jugendlichen Literatur Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention/ Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (2018): Jugendgewalt. Reihe: Durchblick. Informationen zum Jugendschutz. Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz, München/ Berlin Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfereport 2018 (2019): Eine kennzahlenbasierte Analyse. Budrich, Opladen, https: / / doi.org/ 10.3224/ 84742240 Bindel-Kögel, G., Heßler, M., Münder, J. (2004): Kinderdelinquenz zwischen Polizei und Jugendamt. Berliner Kriminologische Studien. Reihe 5. LIT, Münster Hecker, U./ Kremers, H. (2012): Kinder, die Probleme machen, haben welche. Verhalten verstehen - Verhalten ändern. 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