unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art12d
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Elternarbeit bei Jugendlichen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen in stationären Einrichtungen
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Melanie Schneider
Anne van Rießen
Die Symptome einer Borderline-Persönlichkeitsstörung fordern betroffene Jugendliche selbst, die Eltern sowie Fachkräfte besonders heraus. Professionell durchgeführte Elternarbeit als Methode der Sozialen Arbeit kann eine Chance sein, die Gesundheit der Jugendlichen zu fördern und alle Beteiligten zu entlasten.
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71 unsere jugend, 72. Jg., S. 71 - 78 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art12d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Melanie Schneider B. A. Jg. 1994; Studium der Sozialen Arbeit und der psychosozialen Beratung an der Hochschule Düsseldorf, Tätigkeit als Sozialarbeiterin in der Fachberatung für wohnungslose Menschen Elternarbeit bei Jugendlichen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen in stationären Einrichtungen Handlungsstrategien, Chancen und Herausforderungen Die Symptome einer Borderline-Persönlichkeitsstörung fordern betroffene Jugendliche selbst, die Eltern sowie Fachkräfte besonders heraus. Professionell durchgeführte Elternarbeit als Methode der Sozialen Arbeit kann eine Chance sein, die Gesundheit der Jugendlichen zu fördern und alle Beteiligten zu entlasten. Bei der Heimerziehung handelt es sich um den statistisch bedeutsamsten Teil der Hilfen zur Erziehung (Statistisches Bundesamt 2018). Mehr als die Hälfte der dort lebenden Kinder und Jugendlichen haben laut einer empirischen Studie eine psychische Störung (Schmid 2007, 129). Da die Behandlung von Jugendlichen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) einen strukturierten Rahmen bedarf, ist diese häufig in (teil-)stationären psychiatrischen Settings oder Einrichtungen der Jugendhilfe verortet (Steinhausen 2016, 387). Gleichzeitig ist in Institutionen der Jugendhilfe eine Überforderung des Systems mit den Anforderungen des Störungsbildes der BPS zu verzeichnen (Merod 2011, 78). In der Praxis heißt es, dass die Symptome der Jugendlichen „den Alltag der Gruppen [belasten und beherrschen] (…) [und] ganze Einrichtungen der stationären Jugendhilfe in Atem halten“ (Kellerhaus/ Ruck-Salbeck 2008, 47). Die Belastung der Angehörigen, die in der Forschung bislang nahezu unberücksichtigt ist, ist ebenso naheliegend wie die Schlussfolgerung, dass viele Eltern mit den Symptomen ihrer Kinder überfordert sind und entsprechend auch Unterstützung benötigen. Borderline-Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter Dazu, wie viele Jugendliche von der BPS betroffen sind, können - aufgrund wenig vorhandener Untersuchungen - nur eingeschränkt Aussa- Prof. Dr. Anne van Rießen Jg. 1972; Professorin für Methoden Sozialer Arbeit am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf, Sprecherin der DGSA- Fachgruppe „Nutzer*innen Sozialer Arbeit“ 72 uj 2 | 2020 Elternarbeit bei Borderline-Störungen gen gemacht werden (Steinhausen 2016, 386). Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Diagnose im Jugendalter lange umstritten war; mittlerweile gilt sie jedoch als gesichert (Kaess/ Brunner/ Chanen 2014, 783; Kaess/ Brunner 2016, 10). Daten einer Studie zufolge wird die Störung im Jugendalter bei ungefähr einem Prozent der Jugendlichen diagnostiziert (Johnson u. a. 2008, 412). Laut DSM-5 „treten [die Merkmale] gewöhnlich in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter auf“ (Falkai/ Wittchen 2018, 886). Die Schwere der Symptomatik und die damit verbundenen vielfachen Krisen führen zu einem hohen Versorgungsbedarf, vor allem in stationären, psychiatrischen Settings (Fonagy u. a. 2015, 1308). Entsprechend ist die Phase der Adoleszenz bei diesem Störungsbild als besonders vulnerabel anzusehen (Kaess/ Brunner 2016, 14f ). Eine möglichst frühzeitige, spezifische Intervention ist notwendig, um langfristige Einschränkungen zu vermeiden (Fonagy u. a. 2015, 1312; Kaess/ Brunner 2016, 14f ). Kaess und Brunner (2016, 15) verweisen jedoch darauf, dass nur wenige Strategien zur Frühintervention bei der BPS vorliegen. Studien, die sich mit den elterlichen Einflüssen bei der Entwicklung einer BPS befassen, kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Eltern in Interventionen miteinbezogen werden sollten (z. B. Infurna u. a. 2016, 188f ). Auch evaluierte Behandlungsmethoden wie die dialektisch-behaviorale Therapie legen in der Adoleszenz einen besonderen Schwerpunkt auf die Einbeziehung der Eltern in den Therapieprozess (Fleischhaker/ Sixt/ Schulz 2010). Dem aktuellen Forschungsstand zufolge entsteht das Krankheitsbild durch eine Interaktion von biologischen und sozialen Einflussfaktoren (zusammenfassend hierzu Steinhausen 2016, 387). In der Anamnese von Personen mit BPS sind hierbei häufig traumatische Kindheitserfahrungen feststellbar (Falkai/ Wittchen 2018, 911). Weiterhin kommen viele Jugendliche aus Familien, in denen multiple Belastungen vorhanden sind oder waren. Die Familie, insbesondere das Erziehungsverhalten der Eltern und die allgemeinen familiären Bedingungen, kann hierbei einen Einflussfaktor darstellen (Belsky u. a. 2012; Infurna, 2016). Auch dies spricht dafür, die Eltern und Familien stärker mit in den Hilfeprozess einzubeziehen. Die Entstehung eben dieser familiären Verhältnisse sind jedoch auch im Kontext der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu betrachten, sodass eine einseitige Beschränkung auf familiäre Einflüsse auch aufgrund der biologischen Komponente der Störung keinesfalls vorzunehmen ist. Elternarbeit Die Jugendhilfe ist dem Gesetzgeber nach als Familienhilfe anzusehen (Winkler 2018, §1 Rn 12). Entsprechend bietet sie die Chance, der Forderung nach einer Einbeziehung der Eltern gerecht zu werden, zumal der Gesetzgeber diese vorschreibt (§ 27 Abs. 2 S. 2 SGB VIII). Bereits jetzt ist die Arbeit mit Eltern eine in vielen Einrichtungen der Heimerziehung gängige Praxis. Ein einheitliches Verständnis, was als Elternarbeit zu definieren ist, liegt jedoch gegenwärtig noch nicht vor (Macsenaere 2017, 160). Im Allgemeinen ist Elternarbeit als die (indirekte) Einbeziehung der Eltern in die Arbeit mit ihren Kindern zu definieren, die die Hilfe und Unterstützung der professionellen Sozialen Arbeit erhöhen soll (Trede 2017, 251). Die aktuelle Forschung zu den Auswirkungen von Elternarbeit kommt im Wesentlichen zu folgenden Ergebnissen: ➤ Hilfen verlaufen erfolgreicher, wenn Elternarbeit kontinuierlich und konsequent durchgeführt wird (Institut für Kinder- und Jugendhilfe 2011, 10f, 30). Hingegen werden Hilfen öfter frühzeitig eigenständig beendet, wenn in der Einrichtung keine Elternarbeit stattfindet (ebd., 16f ). ➤ Die Kooperationsbereitschaft der Eltern und der Jugendlichen wird durch Elternarbeit deutlich erhöht (ebd., 16f ). Im 73 uj 2 | 2020 Elternarbeit bei Borderline-Störungen Umkehrschluss zeigt sich, dass die Kooperationsbereitschaft der Eltern von Fachkräften vor allem dann als mangelhaft kritisiert wird, wenn keine professionellen Methoden der Elternarbeit eingesetzt werden (Günder 2013, 388). ➤ Auch bei einer starken Symptombelastung und hohen Defiziten werden durch Elternarbeit in der Heimerziehung positive Veränderungen bei den Jugendlichen erzielt (Institut für Kinder- und Jugendhilfe 2011, 24f ). Als Methode Sozialer Arbeit ist Elternarbeit nur dann zu verstehen, wenn sie „planmäßig, regelmäßig, zielgerichtet und unter professionellen Inhalten und Rahmenbedingungen stattfindet“ (Günder 2015, 195). Auch wenn Elternarbeit laut dem Kinder- und Jugendhilfebericht zu einem „wesentlichen Qualitätsmerkmal“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013, 404) geworden ist, ist weder eine fachliche noch eine strukturelle Absicherung ausreichend vorhanden (Stange 2012, 20; Trede 2017, 251). Dies wird beispielsweise deutlich, wenn Elternarbeit als Methode nicht konzeptionell verankert ist oder nur bei punktuellen Gegebenheiten erfolgt. Insbesondere ist mit zunehmendem Alter der Kinder und Jugendlichen eine eindeutige Abkehr von der Elternarbeit erkennbar (Institut für Kinder- und Jugendhilfe 2011, 22f ). Insgesamt bedarf es somit einer inhaltlichen und methodischen Klärung, Überprüfung und Evaluation der Praxis der Elternarbeit insbesondere auch in stationären Einrichtungen (Macsenaere/ Esser 2015, 85). Methodische Vorgehensweise Vor dem Hintergrund, dass Elternarbeit bei Jugendlichen mit BPS einen besonderen Stellenwert einnehmen sollte, aber hier ein Forschungsdefizit zu verzeichnen ist, wurde im Rahmen einer Bachelorthesis der Einsatz und die Durchführung der Elternarbeit bei Jugendlichen mit BPS, die in stationären Einrichtungen leben, untersucht. Ziel der Forschung war es so herauszufinden, welche Handlungsstrategien Fachkräfte Tab. 1: Übersicht über das Sample Interview 1 Interview 2 Interview 3 Interview 4 Dauer der Tätigkeit 4 Jahre 7 Jahre 5 Jahre 6 Jahre Träger A (privat) B (kirchlich) C (privat) D (kirchlich) Form der Heimerziehung laut Konzept Intensivwohngruppe Intensivwohngruppe Intensivwohngruppe Intensivwohngruppe Betreuungsschlüssel (1) 1 : 1,14 1 : 0,95 1 : 1 1 : 0,75 Aktuelle Anzahl Jugendlicher mit Merkmalen einer BPS (2) 1 von 18 2 von 7 4 von 13 8 von 9 Besonderheiten - nur weibl. Jugendliche Voraussetzung zur Aufnahme seelische Behinderung nach § 35 a SGB VIII Möglichkeit fakultativer Geschlossenheit Erläuterungen: Zu 1) Der Betreuungsschlüssel verdeutlicht, wie viele Jugendliche in Relation zu einem/ einer Mitarbeiter*in betreut werden (1: Anzahl Jugendliche). Zu 2) Jugendliche mit BPS = Anzahl von Jugendlichen mit einer BPS zum Zeitpunkt der Untersuchung. 74 uj 2 | 2020 Elternarbeit bei Borderline-Störungen der Sozialen Arbeit in der Arbeit mit Eltern von Jugendlichen mit Merkmalen einer BPS anwenden sowie welche Möglichkeiten und Herausforderungen mit dieser Arbeit verbunden sind. Anhand eines qualitativen Forschungsdesigns wurden in vier Einrichtungen der Heimerziehung - in denen Elternarbeit konzeptionell verankert ist - leitfadengestützte ExpertInneninterviews durchgeführt. Die Tabelle markiert die Differenzen und Besonderheiten in den unterschiedlichen ausgewählten stationären Einrichtungen. Die Auswertung der durchgeführten Interviews erfolgte schließlich anhand einer qualitativstrukturierenden Inhaltsanalyse (Kuckartz 2018), sodass die thematischen Inhalte im Mittelpunkt standen. Ergebnisse Handlungsstrategien in der Praxis Die empirischen Analysen machen deutlich, dass in den untersuchten Einrichtungen der Heimerziehung im Hinblick auf die Elternarbeit weitgehend dieselben Handlungsstrategien angewendet werden wie bei anderen Störungsbildern. Die Diagnose scheint dabei keine handlungsleitende Funktion zu haben, obwohl die Fachkräfte deutlich machen, dass die Elternarbeit bei dem Störungsbild der BPS anders gestaltet werden müsste. Lediglich eine Einrichtung lehnt Teile der Elternarbeit an Behandlungsmethoden der dialektisch-behavioralen Therapie für Adoleszente an. Auch wird deutlich, dass es wenig einheitliche Herangehensweisen an die spezifischen Situationen und Besonderheiten gibt, vielmehr ist die (methodische) Praxis von der einzelnen Fachkraft selbst abhängig. Die Handlungsstrategien werden mehrheitlich darauf ausgelegt, die Kontakte zu den Eltern zu pflegen sowie die Kompetenzen der Eltern im Umgang mit ihren Kindern und deren Symptomen zu verbessern. Die Verringerung der psychosozialen Belastung der Eltern steht hingegen in der Mehrheit der untersuchten Einrichtungen nicht im Fokus der Fachkräfte. In einer der Einrichtungen wurde eine Angehörigengruppe etabliert, anhand derer ein Setting geschaffen wurde, um verschiedene Strategien zu verschränken und den Belastungen der Eltern entgegenzuwirken sowie Ressourcen zu fördern. Die Analysen machen zudem deutlich, dass alle ExpertInnen Wert darauf legen, ihre Arbeitsweisen im Hinblick auf die Jugendlichen für die Eltern transparent zu machen. Das Handeln der Professionellen in den hier im Fokus stehenden vier Einrichtungen lässt so schlussendlich darauf schließen, dass gegenwärtig keine umsetzbaren Konzepte und Methoden für Elternarbeit etabliert sind. Chancen durch Elternarbeit Die Möglichkeiten, die durch Elternarbeit entstehen, wurden bislang nicht für Jugendliche mit BPS im Einzelnen untersucht. Die Ergebnisse der hier durchgeführten Forschung zeigen jedoch auf, dass der kontinuierliche und konsequente Einsatz von Elternarbeit als Methode vielversprechende Möglichkeiten auch für die Jugendlichen selber birgt. So betonen die ExpertInnen vor allem Chancen in Bezug auf das Störungsbild, da sich durch eine intensive Elternarbeit erstens eine Verringerung der Symptome zeige sowie zweitens die psychosoziale Gesundheit der Jugendlichen sich verbessere. Auch werde - drittens - der Verlauf der Erkrankung positiv beeinflusst. Aber nicht nur im Hinblick auf die Jugendlichen selber lassen sich Chancen rekonstruieren, sondern auch im Hinblick auf die Zielgruppe der Eltern. So zeigte sich, dass die Fachkräfte bei konsequenter Einbeziehung nicht nur eine Entlastung der Eltern wahrnahmen, sondern auch, dass diese einen angemesseneren Umgang mit den Symptomen ihrer Kinder lernen konnten. Dies führte im Weiteren zu einer Stabilisierung der Beziehung zwischen Eltern und Jugendlichen, sodass die Jugendlichen im Kontakt mit ihren Eltern auch weniger aus- 75 uj 2 | 2020 Elternarbeit bei Borderline-Störungen geprägte Symptome zeigen. Die empirischen Analysen zeigen deutlich, dass Elternarbeit als professionelle Methode in der Betreuung von Jugendlichen mit BPS Chancen sowohl für die Jugendlichen als auch für die Eltern birgt. Herausforderungen In den Analysen wird aber gleichsam deutlich, dass alle ExpertInnen die Arbeit mit Jugendlichen mit BPS als herausfordernd und arbeitsintensiv beschreiben. In diesem Zusammenhang verweisen sie auf die hohe Relevanz der Arbeit mit den Eltern, denn auch deren Belastung scheint - so die Eindrücke der ExpertInnen - besonders hoch zu sein. Damit einhergehend wird den Eltern eine hohe Hilflosigkeit seitens der Fachkräfte attestiert, „ähnlich bedürftig wie ihre Kinder“. Dieses „Leid“ - so die hier zitierte Expertin weiter - müsse „[g]esehen […] und gehört […] werden“ (Interview 3). Insbesondere die eigenen Schuldgefühle und die Schuldzuschreibungen durch das Umfeld - die gegenwärtige Situation ihrer Kinder verantwortet zu haben - seien für die Eltern besonders präsent und belastend. Ferner zeigen die Ergebnisse auch, dass die ExpertInnen die Elternarbeit mit Eltern von Jugendlichen mit BPS im Vergleich zu Jugendlichen in anderen Situationen als komplizierter wahrnehmen und damit für sie auch höhere Ansprüche einhergehen. So sei es bei den Eltern „selten, dass die Elternarbeit unkompliziert ist“ (Interview 2). Als herausfordernd beschreiben sie schon den Umgang mit den Eltern selber. So stellen die interviewten ExpertInnen übereinstimmend dar, dass sich bei diesen Eltern vermehrt psychische Auffälligkeiten zeigen würden, die die Elternarbeit negativ beeinflussen und die Einbeziehung der Eltern sowie das Verhältnis zu den Kindern verkomplizierten. Weiterhin war erkennbar, dass eine gelingende Elternarbeit, unterschiedlich ausgeprägt, von der Haltung und den Eigenschaften der Eltern selber abhängig gemacht wurde. Eine wenig wertschätzende Haltung der Fachkräfte gegenüber den Eltern sei zum einen erschwerend und kommt den Ausführungen einer Expertin zufolge bei dem Störungsbild der BPS häufiger vor. Hier entstünden oft Unsicherheit oder Haltungen wie „Boah, ne Elternarbeit“ (Interview 3). Damit einhergehend entsteht in der Praxis das Dilemma, einerseits Elternarbeit einsetzen zu wollen, insbesondere aufgrund der vielfältigen damit einhergehenden Chancen, andererseits jedoch aufgrund der institutionellen Rahmenbedingungen dem erhöhten Bedürfnis der Eltern von Jugendlichen mit BPS nicht entsprechen zu können. Benannt wurden hierbei, neben einer mangelhaften Ausbildung der Fachkräfte im Hinblick auf den Einsatz und die Durchführung von Elternarbeit, auch defizitäre zeitliche und finanzielle Ressourcen. MitarbeiterInnen seien bei der BPS „zum Teil nicht bereit, sich auch noch um die Eltern und deren Bedürfnisse [zu] kümmern“ (Interview 3). Elternarbeit muss so gegenwärtig neben dem herausfordernden Berufsalltag der Fachkräfte stattfinden und ist zudem mit fachlichen Unsicherheiten verbunden. Die Rahmenbedingungen der unterschiedlichen Einrichtungen gewährleisten in der aktuellen Situation keine professionelle Durchführung dieser Methode. Auch die Haltung der Einrichtungsleitungen und dem durch sie zugeschriebenen Stellenwert der Elternarbeit hat - da sind sich die ExpertInnen einig - einen bedeutenden Einfluss auf die inhaltliche Umsetzung. Handlungsempfehlungen für die Praxis Die empirischen Analysen zeigen auf, dass eine konzeptionelle Implementierung von Elternarbeit notwendig ist, um die berufliche Praxis der Elternarbeit theoretisch fundiert sowie fördernd sowohl für die Jugendlichen als auch für die Eltern gestalten zu können. Dabei erscheint ein ganzheitlicher sowie lebensweltorientierter Ansatz (Grunwald / Thiersch 2018) der Elternarbeit unabdingbar. Es gilt, die Eltern nicht nur als VerursacherInnen 76 uj 2 | 2020 Elternarbeit bei Borderline-Störungen und Auslöser der gegenwärtigen Situation der Jugendlichen zu betrachten, sondern auch deren Belastungen und Anstrengungen wahrzunehmen und anzuerkennen. Dabei gilt es den Eltern auf Augenhöhe und nicht von oben herab zu begegnen sowie auf vorhandenen Ressourcen aufzubauen (Baierl 2017, 130; Günder 2015, 235, 269) und letztere mit den Handlungsstrategien zu verschränken (Macsenaere/ Esser 2015, 69). Denn es ist unumstritten, dass für Eltern die Unterbringung ihrer Kinder in einer stationären Einrichtung mit Gefühlen des Versagens verbunden ist. Zudem zeigen die erhobenen Daten deutlich auf, dass gerade für die Eltern von Jugendlichen mit einer BPS hohe Belastungen einhergehen. Entsprechend ist es von Relevanz, dass Fachkräfte eine wertschätzende und positive Haltung den Eltern gegenüber annehmen und auch entsprechend auftreten. So ist das Aufbauen einer Beziehung als Handlungsgrundlage für eine professionelle Elternarbeit anzusehen (Baierl 2017, 129; Günder 2015, 270f ), nur so können Eltern aktiv und intensiv in die Arbeit einbezogen werden. Dies kann aber, und das muss im Weiteren Beachtung finden, ein langwieriger und herausfordernder Prozess sein. Damit einhergehend werden nicht nur die Eltern entlastet und ein Rahmen erarbeitet, in dem Veränderungen realistisch umgesetzt werden können, sondern insbesondere die Eltern-Kind-Beziehung gefördert (Baierl 2017, 135). Zudem besteht so auch die Möglichkeit, die Eltern im Weiteren im Rahmen eines Case-Managements an psychosoziale Beratungsstellen etc. weiterzuleiten, damit diese - bei Bedarf - weitere Unterstützung in Anspruch nehmen können. Daran anknüpfend wäre auch zu überlegen, ob bekannte Bausteine der Elternarbeit aus anderen Behandlungskontexten integriert werden können, beispielsweise im Hinblick auf Module aus der dialektisch-behavioralen Therapie für Adoleszente (Fleischhaker/ Sixt/ Schulz 2010). Weiterhin erscheint die Implementierung einer umfassenden Psychoedukation als notwendige Intervention (Baierl 2017, 347), die zusätzlich zu Informationen im Alltag auch die gezielte und geplante Auseinandersetzung der Eltern mit dem Störungsbild umfasst. Fazit Damit Elternarbeit als Methode Chancen sowohl für die Jugendlichen mit BPS als auch für deren Eltern birgt, muss diese nicht nur konzeptionell verankert werden, sondern es müssen institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine kontinuierliche und konsequente Umsetzung ermöglichen. Lediglich punktuell stattfindende Kontakte und eher zufällige Zusammenarbeit verpassen die mit der Methode der Elternarbeit einhergehenden Möglichkeiten. Gelungene Elternarbeit benötigt zwar zeitliche und personelle Ressourcen, führt aber langfristig zu einer Entlastung aller Beteiligten und bestenfalls zu einem positiveren Gesundheitsverlauf. Um Handlungsstrategien für die Elternarbeit etablieren zu können, bedarf es so vor allem einer Anpassung der strukturellen Rahmenbedingungen. So werden einerseits Qualifizierungen und Weiterbildungen für Fachkräfte benötigt, die sich mit dem Einsatz von Elternarbeit als Methode auseinandersetzen und Hinweise für eine gelungene(re) Durchführung geben. Andererseits ist aber auch deutlich geworden, dass die Rahmenbedingungen des stationären Jugendhilfealltages eine wichtige Rolle spielen. Elternarbeit ist so zwar vorgeschrieben, gegenwärtig wird aber davon ausgegangen, dass diese „nebenbei“ im Alltag der Einrichtungen geleistet werden kann. Melanie Schneider Düsseldorf E-Mail: melanie.schneider@study. hs-duesseldorf.de Prof. Dr. Anne van Rießen Hochschule Düsseldorf Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften E-Mail: anne.van_riessen@hs-duesseldorf.de 77 uj 2 | 2020 Elternarbeit bei Borderline-Störungen Literatur Baierl, M. (2017): Herausforderung Alltag. 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