unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art18d
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Offene Sportangebote für alle Kinder und Jugendlichen - am Wochenende
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Ulf Gebken
Leyla (11) lebt mit ihren Eltern und drei Geschwistern im Essener Stadtteil Altenessen. Sie bewegt sich im Sportunterricht oder auf dem Schulhof sehr gerne. Mitglied in einem Sportverein ist sie nicht. Ihren Eltern fehlt das Wissen über das Wesen und die Strukturen eines Sportvereins. Im unmittelbaren Sozialraum gibt es kein attraktives und gut funktionierendes Sportangebot.
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108 unsere jugend, 72. Jg., S. 108 - 115 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art18d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Offene Sportangebote für alle Kinder und Jugendlichen - am Wochenende Leyla (11) lebt mit ihren Eltern und drei Geschwistern im Essener Stadtteil Altenessen. Sie bewegt sich im Sportunterricht oder auf dem Schulhof sehr gerne. Mitglied in einem Sportverein ist sie nicht. Ihren Eltern fehlt das Wissen über das Wesen und die Strukturen eines Sportvereins. Im unmittelbaren Sozialraum gibt es kein attraktives und gut funktionierendes Sportangebot. von Prof. Dr. Ulf Gebken Jg. 1963; Professur für „Sozialwissenschaften des Sports“ an der Universität Duisburg-Essen Sport für alle: gestern und heute Der Terminus „Sport für alle“, den Willi Daume in einer 1968 im Abschluss an die Olympischen Spiele in Mexiko gehaltenen Rede prägte (Jütting/ Krüger 2017), versteht sich heute im Sinne von „Spiel, Sport und Bewegung von und für alle“. Bereits im Jahre 1968 forderte Daume die Öffnung des Sports für beide Geschlechter, für alle Altersgruppen und soziale Schichten, auch für Behinderte und für Minderheitengruppen. Er forderte die Sportvereine auf, sich für die NichtsportlerInnen, für neue Sportarten und damit für Demokratisierung zu öffnen (Krüger 2017, 17). Die Zugkraft des Begriffs „Sport für alle“ entwickelte sich in den 1970er Jahren in der starken sozialen Breitensport- und Freizeitsportbewegung. Der Deutsche Sportbund unter der Regie von Jürgen Dieckert und Jürgen Palm setzte die Idee „Spiel, Sport und Bewegung für alle“ über die Trimm-Dich-Bewegung sehr wirkungsvoll um. Aus dem „Sport für eine Minderheit“ entwickelte sich ein „Sport für möglichst viele Menschen“. Neue Zielgruppen (Senioren, Familien, Paare) ließen sich erfolgreich ansprechen und spielten nun mit bzw. bewegten sich. Die Aufforderungen „Lauf mit“, „Spiel mit“, „Trimm Dich“ setzten sich in den Köpfen der gesamten Bevölkerung fest. „Sport für alle“ befreite sich von den „Fesseln“ der fachverbandlichen Normierungen und Standardisierungen und grenzte sich vom Spitzen- und Leistungssport ab (Wopp 1995; Dieckert/ Wopp 2002). Der organisierte Sport profitiert und beeindruckt bis heute mit großen Zahlen. Mehr als 80 % der Kinder und Jugendlichen waren oder sind Mitglied in einem Sportverein (Züchner 2013, 106). Es sind bedeutend mehr, als andere Träger wie die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen, die Gewerkschaften oder die Nachwuchsorganisationen der Parteien rekrutieren können. Im Alter von 9 bis 24 Jahren betreiben fast alle Heranwachsenden mindestens eine Sportart regelmäßig. Aus den evidenzbasierten Be- 109 uj 3 | 2020 Offene Sportangebote für alle Kinder und Jugendlichen legen über die Wirkungen der außerschulischen Spiel-, Sport- und Bewegungsangebote schöpfen die organsierten Kinder- und Jugendsportverbände Selbstbewusstsein, Stärke und Macht, denn sportlich aktive Heranwachsende besitzen eine signifikant höhere schulische Selbstkompetenz, ein höheres schulisches Selbstkonzept, eine größere Lebensfreude und erfahren verstärkt soziale Anerkennung und Zugehörigkeit (u. a. Schmidt 2015). Mithilfe aus dem Sport generierter personaler und sozialer Ressourcen können junge Menschen belastende Lebensereignisse besser abpuffern (Gerlach/ Brettschneider 2013, 150ff; Schmidt 2015, 98). Und dennoch waren und sind Probleme nicht zu übersehen: Im Jugendalter nimmt der Anteil organisiert Sporttreibender ab. Jedes zweite dreizehnjährige Mädchen hat den Sportverein bereits wieder verlassen. Auch die soziale Herkunft beeinflusst die Zugehörigkeit zu den Sportvereinen. Heranwachsende mit Migrationshintergrund (insbesondere Mädchen) und mit niedrigem sozioökonomischem Status sind seltener Mitglied in Sportvereinen (Neuber/ Salomon 2015, 46). Jugendliche (vor allem mit Migrationshintergrund) finden vermehrt den Weg in kommerzielle Fitnessstudios. Thieme (2015, 177) schätzt, dass mehr als ein Drittel der männlichen und bis zu einem Fünftel der weiblichen Jugendlichen kommerzielle Angebote besuchen. Aktuelle Untersuchungen (u. a. Askelm 2019) verweisen inzwischen auf mehr als 11 Millionen Mitglieder in den Fitness-Studios, deren Wachstum mit jährlichen Zuwachsraten von mehr als 6 % ungebremst erscheinen. Vor allem die für Jugendliche besonders attraktiven Fitnessketten steigern zum Beispiel von 2018 zu 2019 ihre Mitgliederzahl um 11,4 Prozent. Nicht nur für Jugendliche stellt Fitness einen „Megatrend“ dar. Es durchdrängt tiefgreifend die Lebens- und Konsumbereitschaft der Gesellschaft. Zum anderen gelingt es dem organisierten Sport unzureichend, neu Zugewanderte und auch sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche zu binden. Diejenigen, die von Armut betroffen sind, bleiben seit Jahrzehnten außen vor und nehmen nur selten an entsprechenden Angeboten teil. Kinder, die mit einem alleinerziehenden Elternteil aufwachsen, die mit mehreren Kindern in einem Haushalt leben, die in einem benachteiligten Milieu in einer Großstadt aufwachsen oder deren Eltern von Arbeitslosigkeit betroffen sind, finden erschwert den Zugang zum regelmäßigen Sporttreiben (Bertelsmann Stiftung 2017, 40). Diese beunruhigenden Ergebnisse spiegeln sich zum Beispiel in den Daten der Stadt Essen wider. Im unmittelbaren Umfeld des Universitäts-Campus Essen in den Stadtteilen Altenessen, im Nordviertel und in Altendorf bezieht die Hälfte der Eltern existenzsichernde SGB II- Leistungen. Die Hälfte der Kinder weisen im Grundschulalter bereits Gesundheitsprobleme auf. Dem traditionellen Sport gelingt es nicht, die hier lebenden Mädchen und Jungen anzusprechen und zu binden. In den vierten Grundschulklassen sind hier nur zwei bis drei Kinder Mitglied in einem Sportverein (Gebken 2018). Offene Kinder- und Jugendsportangebote Offene Kinder- und Jugendsportangebote stehen bisher nicht in der Aufmerksamkeit des sportpädagogischen Diskurses (vgl. auch Derecik/ Züchner 2015). Die in jüngster Zeit herausgegebenen Handbücher greifen dieses Thema nicht auf (Fessler u. a. 2010; Deinet/ Sturzenhecker 2013; Rütten u. a. 2014). In dem 880-seitigen Handbuch zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit stellt Barde (2013) auf drei Seiten nur Praxisfelder für den Sport in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit vor. Dabei ist unbestritten, dass mehr als die Hälfte der Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit neben sporadischen Sportgelegenheiten (wie Fußballturniere, Ausflüge u. a.) regel- 110 uj 3 | 2020 Offene Sportangebote für alle Kinder und Jugendlichen mäßig Sportgruppen anbieten (vgl. u. a. Kleindienst-Cachay 2012, 148). Fußball, Tanzen oder sportartübergreifende Spielangebote rangieren in der Beliebtheit ganz oben. Diese Angebote besuchen vorwiegend männliche Jugendliche. Viele von ihnen haben einen Migrationshintergrund und leben in dem unmittelbaren sozialen Nahraum dieser Einrichtungen (ebd., 151). Offenen Angeboten für Kinder- und Jugendliche gelingt es, ihren BesucherInnen „Halt“, Orientierung und Kontaktmöglichkeiten zu Gleichaltrigen zu vermitteln (Schmidt 2011, 59). Insbesondere Heranwachsende, die unter beengten räumlichen Verhältnissen in Familien mit überdurchschnittlich hoher Kinderzahl leben, nutzen die Angebote häufig. Sie suchen Spaß, Geselligkeit und Sozialisation in der Peergroup oder, wie sie selbst formulieren, „Zuhören, Kontakt, Kumpel“ (Schmidt 2011, 64). Vielen in diesen Stadtteilen lebenden Kindern fehlen ihre Entwicklung fördernde Sozialkontakte. Der Beitritt in Vereine ist für sie unerreichbar und genau sie sollen und können von offenen Veranstaltungen profitieren (Hurrelmann/ Andresen/ Schneekloth 2010, 363ff ). Auch schränken Privatisierung, Kommerzialisierung und Bürokratisierung die Nutzung von Sportstätten für innovative Ideen ein (Dietrich 2001, 65). Offene Bewegungs- und Sportangebote an Wochenenden Auf die sportpädagogischen Perspektiven der an Wochenenden geöffneten Sportstätten haben in den 1980er Jahren bereits die Ergebnisse des Forschungsprojekts ,Öffnet die Sportanlagen am Wochenende! ‘ der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg hingewiesen (Wopp 1988). Die Sporthalle wurde am Sonntag mit einer Vielfalt an Bewegungsformen, die von Bewegungskünsten, Sportspielen, Entspannungsformen bis zum Schwimmen im benachbarten Hallenbad reichten, zu einem Treffpunkt für Familien, Jugendliche und Kinder. Diese Idee griff der Hamburger Verein Nestwerk e.V. in den 1990er Jahren auf und entwickelte in strukturschwachen Stadtteilen das Projekt „Halle“. Sporthallen in Rahlstedt, Billstedt und Kirchdorf-Süd werden an Wochenenden, in den Ferien und abends geöffnet. Kostenlos können Kinder und Jugendliche, betreut von SportpädagogInnen, Sport ausprobieren und „leben“. Weitere Projekte im In- und Ausland folgten. Im Jahr 1999 entwickelte die Züricher Stiftung Idee Sport in der Schweiz das Konzept „Open Sunday“. Die Bilanz beeindruckt: An 52 Standorten können heute siebenbis zwölfjährige Mädchen und Jungen jeden Sonntag in ihrem unmittelbaren Sozialraum kostenlos ein vielfältiges Bewegungs- und Sportprogramm nutzen. Die zahlreichen Würdigungen bzw. Auszeichnungen dieser Idee und das wachsende Interesse der Kommunen, „Open Sunday“ auch in ihrer Kommune umsetzen zu wollen, verweist auf einen „Best-Practice“-Status. Inspiriert durch die Erfahrungen in der Schweiz nimmt das Projekt nun in der Stadt Oldenburg, im Ruhrgebiet (Duisburg, Essen, Oberhausen, Gelsenkirchen, Herne), im Bergischen Land und in Bielefeld Fahrt auf (Gebken/ van de Sand 2018). Die einfache Idee überzeugt. Kinder und Jugendliche haben an Wochenenden frei und möchten spielen, sich bewegen und Bewegungsräume erobern. Allerdings stehen die Sporthallen am Wochenende nur wenigen vereinsgebundenen WettkampfsportlerInnen zur Verfügung. Auch die Einrichtungen für Kinder- und Jugendarbeit bleiben in der Regel geschlossen, obwohl seit vielen Jahren bekannt ist, dass besonders an Sonntagnachmittagen familiäre Konflikte verstärkt ausbrechen und ausgetragen werden (Wopp 1995). Kommerzielle Betreiber von Spielefabriken bzw. „Spielscheunen“ haben dieses Defizit an Wochenenden erkannt und bieten Familien attraktive Alternativen zu häuslicher „Play-Station“, Fernsehen und PC. Niederschwellige Angebote, die insbesondere Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien ansprechen, bleiben eine Ausnahme. Nur 5 % der öffentlichen 111 uj 3 | 2020 Offene Sportangebote für alle Kinder und Jugendlichen Institutionen mit Kinder- und Jugendarbeit öffnen ihre Türen auch an Wochenenden (Schmidt 2011, 20), obwohl gerade dann junge Menschen über „freie“ Zeit verfügen. Zu einem zweiten bundesweit erfolgreichen Projekt haben sich bereits in den 1990er Jahren Mitternachtssportangebote entwickelt. Nur an wenigen Standorten konnten sie stetig und kontinuierlich umgesetzt werden. Als Prototypen gelten der von der Stadt Hannover umgesetzte „Mitternachtssport“, die 1996 in Stuttgart gestartete Nachtsportserie, die heute von der Initiative Gemeinschaftssporterlebnis als „Basketball um Mitternacht“ an fünf Standorten umgesetzt wird, sowie das vielfach ausgezeichnete Berliner Projekt „Mitternachtsfußball“. Allerdings dominieren in diesen Angeboten die Sportarten Fußball und Basketball. Weibliche Jugendliche und junge Frauen werden kaum bzw. gar nicht zum Teilnehmen und Mitspielen motiviert. Eine Ausnahme stellt das im Jahre 1999 in der Schweiz gestartete Projekt „Midnight“ dar. MidnightsSports orientiert sich nicht nur an urbanen Räumen oder Brennpunktquartieren, sondern erreicht auch die höchsten TeilnehmerInnenzahlen in ländlichen Kommunen ab 3.000 EinwohnerInnen. Im Sinne eines „polysportiven Angebots“ bezeichnet der Initiator Robert Schmuki (2016, 54) neben Kleinfeld-Volleyball, Tischtennis-Rundlauf oder dem Springen auf dem Trampolin „Chillen“ und „Flirten“ als die „Renner“ für die 13bis 20-jährigen Jugendlichen. Midnight Sport wird von der Züricher Stiftung Idee Sports an 100 ( ! ) Standorten von 16bis 20-jährigen Senior- und Junior-Coaches geleitet, die die Sporthalle zu ihrem Treffpunkt der Jugendlichen machen. Das nächtliche Angebot wird jede Woche umgesetzt, um sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche anzusprechen, zu binden und ihnen eine feste Orientierung durch die Regelmäßigkeit zu bieten. Das Arbeiten in lokaler Kooperation, eine aktive Kommunikation, die Einbindung von Senior- und Junior-Coaches sowie die „Mischfinanzierung“ gelten als die wesentlichen Erfolgsfaktoren des Projekts (Schmuki 2016, 55f ). Offene Sportangebote umsetzen - wie? Spiel, Sport und Bewegung für alle Kinder und Jugendlichen möglichst kostenfrei aufzubauen erfordert erhebliche Anstrengungen und mehrere Hürden, die erfolgreich genommen werden müssen. Zum einen verwalten die Kommunen die Belegung der Sporthallen. Nutzungsgebühren sind eher die Regel als die Ausnahme und müssen von den Projektträgern refinanziert werden. Schulleitungen und HausmeisterInnen sind als Partner zu gewinnen, Versicherungsfragen müssen gelöst und die Werbung bzw. Öffentlichkeitsarbeit koordiniert werden. Die Idee der „offenen Bewegungsangebote“ lebt davon, dass den Kindern und Jugendlichen mehr ermöglicht, mehr zugemutet und ihnen mehr Verantwortung und Freiheit übertragen wird, als es in tradierten Übungsangeboten üblich ist. Die Teilnahme vollzieht sich sehr selbstständig. Einige Kinder und Jugendliche sind mit organisatorischen, inhaltlichen und methodischen Öffnungen weniger vertraut. Klarheit und Strukturiertheit nehmen eine bestimmende Rolle in dem Konzept ein. Sie bilden besonders für schwächere und verhaltensauffällige Heranwachsende eine wichtige Bezugsgröße. Das offene „Sporthallen-Arrangement“ zu planen und umzusetzen ist anspruchsvoller, komplexer und differenzierter als in üblichen Übungsangeboten. Für die Leitenden werden Allgegenwärtigkeit (permanenter Überblick über das Geschehen) und Überlappungen (gleichzeitig mehrere Vorgänge wahrnehmen, verarbeiten und ggf. beeinflussen können) zu besonderen Anforderungen. Daher ist es für die Verantwortlichen nicht immer einfach, den Überblick zu bewahren und bei Störungen angemessen zu reagieren. Das übliche stabilisierte Instrumentarium (Raumregie, laute Ermahnungen) benötigt Alternativen. Dies erfordert präventive, individuelle Maßnahmen und das Herstellen einer ruhigen Atmosphäre vor allem während der Stationenarbeit. Zudem ist es wichtig, auf Reibungslosigkeit und Schwung (insbesondere in Übergängen), sowie klare Anweisungen zu achten. 112 uj 3 | 2020 Offene Sportangebote für alle Kinder und Jugendlichen Inhalte - wiederkehrend und abwechslungsreich Wiederkehrende und abwechslungsreiche Inhalte meint, dass die Angebote flexibel, vielseitig und differenziert sein müssen. Ein hoher Aufforderungscharakter lädt unmittelbar ein. Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche sollen „infiziert“, motiviert und eingebunden werden. Das Programm für unterschiedliche Bedürfnisse und mit verschiedenen Angeboten steht in einem Wechsel von Spannung und Entspannung. Wiederkehrende Rituale (Begrüßung, Informationen, Pausen, Verabschiedung) ergänzen sich mit Probier-, Übungssowie Mitspielphasen für alle Kinder/ Jugendliche und werden gerahmt durch den jeweils halbstündigen Auf- und Abbau und eine Reflektion. Kostenloses Obst, Gemüse und (alkoholfreie) Getränke bieten in einer ruhigen Phase auch eine Förderung der Gesundheit. Häufig werden klassische Sportarten aufgegriffen, aber mit freien Bewegungsformen wie Balancieren, Springen, Schwingen, Klettern, Rutschen, Stützen, Seilspringen, Jonglieren, freien Spielformen, Bewegungslandschaften bei Kindern, gemeinsamen Bewegungsspielen, Tanzen, Jonglage, Parcours, Tischtennis oder in Körbe werfen ergänzt. Auch 20-minütige Workshops zum Erlernen des Seilspringens, der Jonglage (Devil Sticks, Pois), des Springens am Minitrampolin und der Akrobatik bieten sich an. Die Angebotskultur verfügt im Idealfall auch über einen inklusiven Charakter. Mitmachen können und sollen alle (auch beeinträchtigte) Heranwachsenden. Die Zielgruppen: Jungen und Mädchen Mit dem Konzept sollen vor allem die Kinder und Jugendlichen erreicht werden, die kaum sportliche und weitere gesellschaftliche Teilhabe erfahren. Jungen und vor allem Mädchen langfristig und nachhaltig zu binden, ist und bleibt eine Schlüsselaufgabe und besondere Herausforderung für offene Sportangebote. Noch belegen geschlechterspezifische Zahlenverhältnisse von 3 zu 1 (75 % Jungen, 25 % Mädchen) die männliche Konnotation der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (Schmidt 2011), die sich auch in den Offenen Bewegungsangeboten zeigt (Gebken/ van de Sand 2016). Nur eine sichtbare Präsenz weiblicher Coaches und eher „mädchenspezifischer“ Angebote wie Bewegungskünste, Tanzen, Bewegungsspiele und auch Nischen zum „Klönen“ können die Vorherrschaft des männlichen Geschlechts brechen. Geschlechtersensibleres Handeln mit Blick auf die Bedürfnisse beider Geschlechter bleibt alternativlos. Die Coaches und ihre Qualifizierung Die zweite Zielgruppe in „Offenen Bewegungsangeboten“ sind die Coaches. Sie leiten das Angebot, betreuen die Stationen, führen in die nächsten Phasen ein, stellen Bewegungsformen bzw. Bewegungsspiele vor, bereiten Obst und Getränke für die Pause zu und kümmern sich. Die Projekte „Midnight Sports“, „Open Area“ und „Open Sunday“ haben gezeigt, dass die Einbindung leitender Jugendlicher ein nachhaltiger Erfolgsfaktor für „Offene Bewegungsangebote“ ist. Jugendliche Coaches wirken vor allem als MultiplikatorInnen. Sie werben bei ihren Geschwistern, ihren FreundInnen, in den Schulen, gewinnen Interessierte. „Junge Coaches“ bestimmen mit, partizipieren und übernehmen Verantwortung in „echten“ Situationen, in denen sie sich bewähren (müssen). Entsprechende Ausbildungskonzepte für das Leiten „offener“ Bewegungsangebote fehlen bisher. Praxiserfahrungen bilden meist die Grundlage für entsprechendes Wissen. So haben die mir bekannten offenen Bewegungsangebote eigene erste, kompakte Ausbildungskonzeptionen entwickelt, umgesetzt und ausgewertet. In diesen Konzeptionen wechseln sich pädagogische Inhalte mit rechtlichen und organisatorischen Aspekten ab. Gruppenpädagogik, Animationskompetenz, Erstkontaktaspekte/ 113 uj 3 | 2020 Offene Sportangebote für alle Kinder und Jugendlichen Ansprache der Kinder, die Inszenierung von Bewegungsspielen, der Aufbau von Übungsstunden, die Aufsichtspflicht, das Verhalten bei Verletzungen usw. werden vertieft. Erste Ergebnisse und Wirkungen Den erfolgreichen offenen Projekten gelingt es über Bewegung, Spiel und Sport im Sozialraum sozial benachteiligte, vereinssportabstinente Kinder und Jugendliche zu erreichen und zum Mitmachen zu motivieren. Der wiederkehrende Rahmen gibt den Kindern und Jugendlichen Orientierung und Verlässlichkeit und durch die mitwirkenden jugendlichen Coaches Vertrautheit und einen persönlichen Bezug. Coaches werden im Übergang von der Alltagskommunikation zur Pädagogischen Beziehung für die TeilnehmerInnen nicht selten zu „großen Schwestern oder Brüdern“. Legt man das interaktionistische Stufenmodell für die Offene Kinder- und Jugendarbeit zugrunde (Cloos/ Köngeter/ Müller/ Thole 2007), dann gelingt es in den Offenen Bewegungsangeboten, die erste Stufe „Spielen und Angebote mit Kindern und Jugendlichen betreuen“ zu verfestigen. Bei zunehmender Mitwirkung wird auf der zweiten Stufe die zunehmende Interaktion, Kommunikation und die Zugehörigkeit der Coaches zur „Arena“ (Ritualisierte Begrüßung, „Abchecken“ und Stopp sagen, Sich-in-Szene-Setzen) hergestellt und im abschließenden Gesprächskreis regelmäßig reflektiert. Vereinzelt kommt es durch Nachfragen und eine gefestigte Vertrauensbeziehung auch zur individuellen Unterstützung durch die Coaches in schulischen Belangen, der sogenannten dritten Stufe in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Ein Kompetenzzuwachs der Coaches durch die Betreuung junger Kinder ist belegbar, kein Zufall und gewollt. Der Einsatz der jugendlichen Coaches darf als ein Baustein gelingender Demokratiebildung bewertet werden. Den Jugendlichen werden „echte“ Entscheidungen und Mitverantwortlichkeiten zugemutet. Sie übernehmen Leitungsaufgaben und ihre Partizipation ist die besondere Qualität dieser Form einer anderen Jugendarbeit. Die jugendlichen Coaches müssen aber auch lernen, Differenzen anzuerkennen, Konflikte (gewaltfrei) zu lösen, mit Fehlern, Fehlschlägen, Neuanfängen und langsameren, kleinsten Fortschritten umzugehen. Zusammenfassung und Perspektiven Der vorliegende Beitrag reiht sich in die sportpädagogische Entwicklungsforschung ein. Mithilfe eines empirischen Zugangs, der Herausforderungen in der Praxis thematisiert, sollen Handlungsempfehlungen und Perspektiven für die außerschulische Kinder- und Jugendarbeit entwickelt werden (Einsiedler 2011; Meyer 2015). Gute offene Bewegungsangebote wollen den beteiligten Jugendlichen eine kräftige Portion Wertschätzung und Lebensfreude mitgeben. In den Best-Practice-Beispielen fühlen sie sich als akzeptierte TeilhaberInnen in der Gemeinschaft und freuen sich über die Folgen ihres Engagements: Begeisterte, lachende und zufriedene Kinder. Für die Sportpädagogik wird es zwingend erforderlich sein, die Lebenswirklichkeiten von Kindern und Jugendlichen zu verstehen, Bewegungsempfehlungen zu formulieren bzw. zu überprüfen sowie „Bewegungsfreude“ (Jakob & Kant 2016) durch pädagogische Impulse zu erhöhen. Auch wenn seriöse Forschung mit Kindern und Jugendlichen nicht einem Index für „Begeisterung“ oder „Leuchtende Augen“ gerecht werden kann (Rosa/ Enders 2016, 28), stehen diese Parameter erkennbar für Erfolge in der pädagogischen Arbeit und eine hohe Lebensqualität. Auf der organisatorischen Ebene sollten das Arbeiten, Üben, Experimentieren an Stationen, auf inhaltlicher Ebene klare Regeln, Rituale, Plakate und Zeitstrukturen zu wichtigen Aspekten führen. Auf der methodischen Ebene rücken Auswahlmöglichkeiten, Variationen und Beratung in die besondere Aufmerksamkeit der Coaches. An die Coaches werden besondere Aufgaben gestellt. Sie beaufsichtigen die offene Arbeit, wägen die Offenheit bezüglich des 114 uj 3 | 2020 Offene Sportangebote für alle Kinder und Jugendlichen Bewegungshandelns gut ab, sind MitspielerInnen, manchmal auch IdeengeberInnen („Ihr könnt hier mal Folgendes ausprobieren …“) und zeigen Offenheit für Veränderungen. In der Stadt Essen und den benachbarten Kommunen konnten in Zusammenarbeit mit der Universität erfolgversprechende Sportprojekte, die sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen einen verbesserten Zugang zu Spiel, Sport und Bewegung ermöglichen, auf den Weg gebracht werden. Diesen Projekten ist es gelungen, soziale Phantasie anzuregen, oder vereinfacht formuliert: Sie gehen mit gutem Beispiel voran. Im Rahmen der sportbezogenen Qualifizierung scheint es aus meiner Sicht alternativlos zu sein, den Umgang mit der wachsenden Anzahl der von Armut betroffenen Kinder im unmittelbaren Kontakt mit dieser Zielgruppe zu entwickeln, um sich einem „Sport für alle Kinder und Jugendliche“ zu nähern, diesen zu entwickeln, umzusetzen und zu evaluieren. Kinder und Jugendliche in kritischen Sozialräumen haben ihr eigenes Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Freudvolle und positive Sporterfahrungen können diese jungen Menschen stärken und ermutigen, sich auf Bildung und Lernen einzulassen. Leyla kann trotz schwieriger Rahmenbedingungen und mit unserer Unterstützung selbstbewusst ihren Weg im Leben finden. Dabei kann ihr der Sport, der „Sport für alle“ helfen. Prof. Dr. Ulf Gebken Geschäftsführender Direktor des Instituts für Sport- und Bewegungswissenschaften Universität Duisburg-Essen Gladbecker Str. 182 45141 Essen Tel.: 0201/ 1837610 E-Mail: ulf.gebken@uni-due.de Literatur Askelm, M. (2017): Mehr als 10 Million Deutsche in Fitness-Studios. In: www.faz.net/ aktuell/ wirtschaft/ un ternehmen/ fitnessstudios-verzeichnen-starkes-mit gliederwachstum-14959104.html, 5. 11. 2019 Barde, H.-U. (2013): Sport in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. In: Deinet, U., Sturzenhecker, B. (2013). (Hrsg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. VS, Wiesbaden, 181 - 184, https: / / doi.org/ 10.1007/ 9 78-3-531-18921-5_23 Bertelsmann-Stiftung (2017): Armutsmuster in Kindheit und Jugend. Längsschnittbetrachtungen von Kinderarmut. Gütersloh Cloos, P., Köngeter, S., Müller, B., Thole, W. (2007): Die Pädagogik der Kinder- und Jugendarbeit. VS, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-906 48-5 Deinet, U., Sturzenhecker, B. (2013): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. 4. Aufl. VS, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-18921-5_ 96 Derecik, A., Züchner, I. (2015): Kinder- und Jugendhilfe. In: Schmidt, W. (Hrsg.): Dritter Kinder- und Jugendsportbericht im Umbruch. 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