eJournals unsere jugend 72/4

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art26d
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2020
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Leaving Care in der Kinder- und Jugendhilfe

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2020
Larissa Rosner
Michael Görtler
Leaving Care in der Kinder- und Jugendhilfe konfrontiert die jungen Erwachsenen, aber auch die Fachkräfte, die sie auf ihrem Weg begleiten, mit unterschiedlichen Herausforderungen. Konzeptionelle Ansätze zur Gestaltung dieses Übergangs von der stationären Erziehungshilfe in die Selbstständigkeit sind im Fachdiskurs der Sozialen Arbeit jedoch kaum zu finden.
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156 unsere jugend, 72. Jg., S. 156 - 162 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art26d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Leaving Care in der Kinder- und Jugendhilfe Herausforderungen und konzeptionelle Impulse Leaving Care in der Kinder- und Jugendhilfe konfrontiert die jungen Erwachsenen, aber auch die Fachkräfte, die sie auf ihrem Weg begleiten, mit unterschiedlichen Herausforderungen. Konzeptionelle Ansätze zur Gestaltung dieses Übergangs von der stationären Erziehungshilfe in die Selbstständigkeit sind im Fachdiskurs der Sozialen Arbeit jedoch kaum zu finden. von Larissa Rosner Jg. 1990; B. A., Erzieherin, Sozialpädagogin, Systemische Pädagogin Hinführung Im Vergleich zu anderen Zielgruppen der Kinder- und Jugendhilfe werden Care Leaver im Fachdiskurs der Sozialen Arbeit kaum beachtet. Dabei gestaltet sich Leaving Care in der Praxis als komplexer Prozess, welcher die jungen Erwachsenen, aber auch die Fachkräfte, die sie auf ihrem Weg begleiten, vor schwierige Aufgaben stellt. Der adäquaten Gestaltung dieses Übergangs von der stationären Erziehungshilfe in die Selbstständigkeit kommt daher eine besondere Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Beitrag zunächst die Situation der Care Leaver und der Prozess des Leaving Care diskutiert, bevor Herausforderungen skizziert und konzeptionelle Impulse gegeben werden. Begriffe und rechtliche Grundlagen Kinder- und Jugendhilfe soll per definitionem Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung fördern und jungen Erwachsenen in besonders schwierigen Situationen helfen (vgl. BMFSFJ 2013 a). Im Fokus der Kinder- und Jugendhilfe stehen daher Kinder, Jugendliche und ihre Familien bzw. Sorgeberechtigten und damit eng verbunden der Schutz des Kindeswohls und das professionelle Handeln der Fachkräfte in der Sozialen Arbeit als intermediäre Instanz, die zwischen Hilfe und Kontrolle agiert. Obwohl junge Menschen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren in der stationären Erziehungshilfe in großer Zahl vertreten sind, erhält die Zielgruppe der Prof. Dr. Michael Görtler Jg. 1982; Professor für Sozialpädagogik, Fachbereich Personal, Gesundheit, Soziales, FHM Bamberg 157 uj 4 | 2020 Leaving Care Care Leaver, aber auch die Statuspassage des Leaving Care, die sie durchlaufen müssen, kaum Aufmerksamkeit (vgl. Fendrich et al. 2018, 16). Den Begriff der Care Leaver definieren Sievers et al. wie folgt: „Als Care Leaver werden junge Menschen bezeichnet, die sich in öffentlicher stationärer Erziehungshilfe (Wohngruppen, Erziehungsstellen, Pflegefamilien oder anderen Betreuungsformen) befinden und deren Übergang in ein eigenständiges Leben unmittelbar bevorsteht. Der Begriff umfasst auch Jugendliche oder junge Erwachsene, die diese Hilfesettings bereits verlassen haben und ohne Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe leben“ (Sievers et al. 2016, 9). Den Begriff des Leaving Care definieren Karl et al. (2018, 9, Herv. i. Orig.) als „biografisch zu bewältigende Übergangskonstellation, von der nur ein Aspekt die institutionelle Statuspassage von einer Positionierung im System des öffentlich finanzierten Aufwachsens außerhalb der Herkunftsfamilie hin zu einer anderweitig finanzierten Lebenssituation ist“. Die Autorinnen gehen vielmehr von „heterogenen Wandlungsprozessen von Individuen und ihren sozialen Gefügen“ aus, die in ihrer Komplexität verstanden und sichtbar gemacht werden müssten (ebd., 7). Leaving Care, d. h. der hier skizzierte Übergang aus der Obhut des Staates bzw. des Jugendamtes in die Selbstständigkeit, der in der Regel an das Erreichen der Volljährigkeit gekoppelt ist, gestaltet sich in der Praxis als komplexer Prozess. Köngeter et al. (2012, 264) stellen in diesem Kontext fest: „Es zeigt sich also eine Diskrepanz zwischen dem aktuell veränderten Übergangsprozess vom Jugendins Erwachsenenalter und den Annahmen, mit denen Institutionen Unterstützungsprozesse in dieser Phase anbieten.“ Die folgenreiche Veränderung der Lebenssituation, z. B. die Konfrontation mit der Wirklichkeit mit all ihren Risiken und Anforderungen, die es zu bewältigen gilt, kann die jungen Menschen überfordern, sodass eine Fortführung der Hilfe sinnvoll, wenn nicht sogar notwendig wäre. Grundlage für eine Verlängerung der Maßnahmen ist § 41 SGB VIII: Hilfe für junge Volljährige. Der Gesetzgeber lässt darin mit der Formulierung, dass die Persönlichkeitsentwicklung und die individuelle Situation des jungen Menschen darüber bestimmen sollen, ob und wie lange eine Hilfe notwendig ist, deutlichen Interpretations- und Handlungsspielraum für die Entscheidungsträger. So ist es nicht verwunderlich, dass Studien, Diskussions- und Positionspapiere aus der Wissenschaft, von Interessengruppen, aber auch von den Betroffenen selbst belegen, dass in diesem Kontext noch deutlicher Handlungsbedarf besteht (vgl. etwa Care-Leaver e.V. o. J.; Nüsken/ Böttcher 2018; Wiesner 2014; Sievers 2019) - die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe etwa beschreibt „Leaving Care als eine dringende fach- und sozialpolitische Herausforderung in Deutschland“ (AGJ 2014). Einzelfallentscheidungen unter Kostendruck? Ein kritischer Blick auf die Gewährungspraxis Es zeigt sich, dass die im § 41 Absatz 1 SGB VIII verankerte Hilfe für junge Volljährige in Deutschland sehr unterschiedlich gewährt wird. So macht der 14. Kinder- und Jugendbericht auf eine „restriktive“ Gewährungspraxis aufmerksam, die„aus fiskalischen Motiven“ resultiere, „in Zusammenhang mit unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Beurteilungsmustern der Fachkräfte“ stehe und die „einer spezifisch die Entwicklungsaufgaben dieser Altersgruppe berücksichtigenden fachlich-konzeptionellen Rahmung“ entbehre (BMFSFJ 2013 b, 352). In der Praxis kommt vor allem der erste Faktor zum Tragen: „Abhängig von den öffentlichen Geldern ist ihr [der Sozialen Arbeit, d. A.] Wohl und Wehe untrennbar mit der finanziellen Situation der Landeshaushalte bzw. des Bundeshaushaltes verbunden“ (Rohde 2012, 19). Angesichts der Ökonomisierung der Gesellschaft spielt das Sozialmanagement - und damit untrennbar verbunden Kosten-Nutzen-Rechnungen bei der Gewährung von Hilfen - eine immer größere Rol- 158 uj 4 | 2020 Leaving Care le (vgl. Buestrich/ Wohlfahrt 2008), wobei den Entscheidungsträgern die Abwägung zwischen Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit in der Kinder- und Jugendhilfe alles andere als leichtfallen sollte. Im Jahr 2018 etwa beliefen sich die Gesamtausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe auf ca. 47,5 Milliarden Euro, darunter 6,5 Milliarden Euro allein für die Fremdunterbringung (vgl. Destatis 2020). Beim ersten Blick auf diese Summen ist gut nachvollziehbar, dass Entscheidungen unter Berücksichtigung von Kosten und Nutzen getroffen werden (müssen). Bei näherer Betrachtung erscheint die hier skizzierte Gewährungspraxis diskussionswürdig, sofern aus finanziellen Gründen zuerst ambulante oder teilstationäre Maßnahmen ausprobiert werden, bevor eine stationäre Unterbringung in Erwägung gezogen wird - und zwar besonders dann, wenn fachliche Argumente dagegen sprechen würden. Dies zeigt Günder anhand der Evaluationsstudie erzieherischer Hilfen (EVAS) an folgendem Beispiel auf: „Heimerziehung setzt in 90 Prozent aller Fälle erst ein, nachdem schon zuvor andere Hilfen in Anspruch genommen wurden. Je mehr Hilfen bereits vor dem Heimaufenthalt gewährt wurden und je intensiver diese waren, desto wahrscheinlicher ist ein Misserfolg der stationären Unterbringung“ (Günder 2015, 84f ). Zudem weisen die Ergebnisse der Studie darauf hin, dass sich Erfolge bei den Hilfen zur Erziehung im Durchschnitt erst nach zwei bis drei Jahren zeigen (vgl. ebd.). Damit wird abschließend auch die Frage nach der Nachhaltigkeit der Kinder- und Jugendhilfe abseits des ökonomischen Denkens aufgeworfen. Herausforderungen in der Praxis Durch gesellschaftliche Phänomene, wie etwa die Ausdehnung der Jugendphase oder der nach hinten verlagerte Eintritt ins Berufsleben, sind Care Leaver im Gegensatz zu jungen Menschen, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen und erst später das Elternhaus verlassen (müssen), strukturell benachteiligt. Während sich ihre Peers etwa mehr Zeit für Entwicklung und Bildung nehmen können, endet für diese Zielgruppe die Begleitung im Hilfesystem in der Regel mit achtzehn, in Ausnahmefällen mit einundzwanzig Jahren. Eine „verkürzte Jugend und beschleunigte Verselbständigung“ (Schröer et al. 2018, 84) führt dazu, dass Care Leaver jugendtypische Entwicklungsaufgaben schneller bewältigen als ihre Peers und früher auf den eigenen Beinen stehen müssen. Dabei ist der biografische Hintergrund dieser Zielgruppe in den meisten Fällen eher hinderlich als förderlich: Oftmals müssen belastende Erfahrungen, wie körperliche Gewalt, sexueller Missbrauch oder emotionale Vernachlässigung aufgearbeitet werden, die mitunter zu Entwicklungsverzögerungen geführt haben. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe betont auch hier: „Im Gegensatz zu Kindern, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, verfügen viele dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen jedoch über weniger stabile private Netzwerke und geringere materielle Ressourcen. Care Leaver haben deshalb einen erhöhten Unterstützungsbedarf, sind anfälliger für Wohnungslosigkeit, unterliegen einem erhöhten Armutsrisiko und weisen beim Aufbau von Sozialbeziehungen meist größere Schwierigkeiten auf als Gleichaltrige jenseits der Fremdunterbringung“ (AGJ 2014, 1). Köngeter et al. (2012, 268) stellen fest: „Es zeigt sich also, dass die Statuspassage Leaving Care nicht nur dadurch charakterisiert ist, dass die jungen Menschen in sehr kurzer Zeit ohne Rückkehroption und häufig mit geringen Unterstützungsressourcen ihr Leben selbstständig bewältigen müssen. Vielmehr findet häufig zeitgleich auch der Eintritt in ein neues, nach einer anderen Rationalität organisiertes Unterstützungssystem statt. Dadurch verschärfen sich jedoch noch einmal die Herausforderungen der jungen Menschen, diese ohnehin prekäre Statuspassage auch biografisch zu bewältigen.“ Die folgenden Abschnitte machen auf exemplarische Herausforderungen in der Praxis aufmerksam: 159 uj 4 | 2020 Leaving Care ➤ Erstens stellt sich die finanzielle Situation der jungen Menschen in der stationären Erziehungshilfe beim Übergang in die Selbstständigkeit als problematisch dar. Gemäß § 94 Absatz 6 SGB VIII sind sie nämlich dazu verpflichtet, sich an den Kosten für die Fremdunterbringung zu beteiligen - die Erfahrung zeigt, dass bis zu 75 Prozent der Einkünfte aus einer Ausbildung oder sonstigen Beschäftigung abgegeben werden müssen. Dadurch wird es für Care Leaver nahezu unmöglich, Geld für notwendige Dinge (z. B. Einrichtungsgegenstände, Führerschein, ein eigenes Auto oder eine eigene Wohnung) zu sparen oder einfach nur Rücklagen zu bilden (vgl. Sievers 2019, 26). Hinzu kommt, dass diese Verpflichtung von vielen Jugendlichen als Ungerechtigkeit und/ oder Benachteiligung empfunden wird mit der Folge, dass eine Ausbildung wieder abgebrochen oder gar nicht erst aufgenommen wird. ➤ Zweitens handelt es sich bei der sog. mangelnden Mitwirkung junger Menschen um eine rechtliche Grauzone. Problematisch sind Fälle, in denen gar keine totale Verweigerungshaltung vorliegt, sondern bereits die fehlende Bereitschaft zur Aufnahme einer Ausbildung oder sonstigen Beschäftigung sowie Motivationsdefizite unterschiedlichster Art hinsichtlich des Erreichens der Hilfeziele von den Entscheidungsträgern als Grundlage für die Beendigung der Hilfe herangezogen werden (vgl. Sievers et al. 2016, 63f ). Dieser Mechanismus erscheint nicht zuletzt vor dem Hintergrund widersprüchlich, dass das SGB VIII keine ausdrückliche Mitwirkungspflicht von Kindern und Jugendlichen benennt oder fordert (vgl. Häbel 2008, 215f ). Sievers et al. führen in diesem Kontext aus: „Die Mitwirkungspflicht ist somit eine unbestimmte Kategorie, über die der Zugang zu Erziehungshilfen limitiert wird. Die Auslegung dieses Kriteriums ist äußert problematisch, wenn nicht gar unzulässig“ (2016, 64). Schließlich können der Rückzug oder die mangelnde Beteiligung eines jungen Menschen sogar auf einen akuten Hilfebedarf angesichts einer persönlichen Krise hindeuten oder auch darauf, dass mehr Hilfebedarf zu Persönlichkeitsentwicklung und eigenverantwortlicher Lebensführung besteht, als bisher angenommen wurde. ➤ Drittens gibt es für Care Leaver keine oder kaum Fehlertoleranz gegenüber einem sich Ausprobieren, Um- oder Neuorientieren, aber auch Scheitern (vgl. Strahl/ Thomas 2014, 133). Das Verlassen der stationären Erziehungshilfe gleicht letztendlich einer Einbahnstraße: „Viele junge Menschen, die in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe aufwachsen, sind nach ihrem Umzug in eine eigene Wohnung weitgehend auf sich alleine gestellt“ (Sievers et al. 2016, 121f ). Die anfängliche Euphorie über die neu gewonnenen Freiheiten verfliegt meist rasch und viele Care Leaver drohen ohne feste und verlässliche Ansprechpartner zu vereinsamen. Schnell kann sich das Wechselspiel von Nähe und Distanz, „Isolation oder Party“ (ebd., 140), guten Kontakten und schädlichen Einflüssen zu einer Misere entwickeln - psychische Krisen und/ oder der Verlust der Wohnung können die Folge sein; die Möglichkeit zur Rückkehr in das gewohnte Setting gibt es jedoch nur in Ausnahmefällen (vgl. ebd., 104). ➤ Viertens entwickeln sich im Verlauf der Hilfe nicht selten Fachkräfte zu festen Bezugs- und Vertrauenspersonen für die jungen Menschen und werden dabei zum Teil als die einzigen verlässlichen Ansprechpartner*innen erlebt (vgl. Nüsken 2011, 94). Mit dem Auszug aus dem gewohnten Setting verlieren Care Leaver diese haltgebenden Beziehungen zumeist. Dies ist besonders problematisch, da verlässliche Ansprechpartner*innen beim Übergang eine Schlüsselfunktion einnehmen (vgl. Strahl/ Thomas 2014, 134). Die Gewährungspraxis der Nachbetreuung, wie sie in § 41 Absatz 3 SGB VIII geregelt ist, zeigt jedoch, dass es sich dabei häufig nur um einen Umfang von wenigen Stunden in einem Zeitraum von maximal drei bis sechs Monaten handelt (vgl. Sievers et al. 2016, 154f ): „Die Nachbetreuung nach der stationären Hilfe unterliegt also i. d. R. einem starken Befristungsgedanken. Sie wird nicht in ers- 160 uj 4 | 2020 Leaving Care ter Linie als Teil der Erziehungshilfe - u. U. mit einer Schlüsselfunktion - interpretiert und konzipiert, sondern vielmehr als auslaufende Hilfe“ (ebd.). Die Erfahrung zeigt, dass die Fortführung der Begleitung der jungen Menschen durch die Fachkräfte auf ehrenamtlicher Basis und in der Freizeit geschieht. Konzeptionelle Impulse für die Praxis Die Erfahrung zeigt, dass der Erfolg, die Wirksamkeit - und damit auch die Nachhaltigkeit - der bereits geleisteten Hilfen von der Gestaltung der Übergänge abhängt (vgl. Wiesner 2014, 5). Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, an welchen Stellen Veränderungen angesichts des Kostendrucks im Sozialstaat möglich sind. Tatsache ist, dass nur eine Reform des SGB VIII die Situation der Care Leaver grundsätzlich verbessern würde. So fordern etwa Schröer et al. (2018), Leaving Care als „Rechtstatbestand im SGB VIII“ zu verankern. Bis es so weit ist, kommt den Fachkräften eine Schlüsselfunktion zu, weil sie - als professionell Handelnde zwischen Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit - den Hilfebedarf innerhalb des vom Gesetzgeber vorgegebenen Interpretations- und Handlungsspielraums im Einzelfall beurteilen müssen, dabei aber auch das Veränderungspotenzial innerhalb des vorgegebenen Rahmens ausloten können. In diesem Kontext müssten Kriterien - etwa fachliche Standards (vgl. ebd.) - zur Gestaltung des Übergangs in der Theorie herausgearbeitet und auf die Praxis übertragen werden. Unter Berücksichtigung allgemeiner Wirkungs- und Erfolgsfaktoren der Heimerziehung (vgl. Nüsken/ Böttcher 2018, 191f ) können folgende Punkte als relevant für einen gelingenden Übergang betrachtet werden: ➤ Erstens spielt der Erwerb lebenspraktischer Kompetenzen eine Rolle, der hauswirtschaftliche Fähigkeiten, den sicheren Umgang mit Finanzen, Ämtern und Behörden, eine adäquate Gesundheitsfürsorge und eine stabile Persönlichkeitsentwicklung umfasst. Als besonders förderlich gelten Schonräume, z. B. kleine Appartements innerhalb einer stationären Einrichtung (Trainingswohnungen), und teilzeitbetreute Wohnformen, in welchen die jungen Menschen diese Fähigkeiten im Alltag einüben können (vgl. Sievers et al. 2016, 97). Dazu gehört allerdings auch, dass den jungen Menschen die Gelegenheit zum Ausprobieren - und damit auch zum Scheitern - gewährt wird, ohne dass eine Grenzüberschreitung gleich zum Ausschluss aus dem gewohnten Setting führt. Vielmehr muss es darum gehen, die positiven wie negativen Erfahrungen gemeinsam mit dem jungen Menschen aufzuarbeiten. ➤ Zweitens sind Biografiearbeit und Resilienzförderung essenziell für die psychische Stabilität, das Verarbeiten von belastenden Erlebnissen, das Selbstwertgefühl oder die Entwicklung einer Zukunftsperspektive, die Motivation spendet und Halt gibt. Da Resilienz nicht angeboren, sondern erlernbar ist (vgl. Walter 2015, 79f ), gilt es die jungen Menschen durch Empowerment und Partizipation im Alltag in ihrer Selbstbestimmung und -wirksamkeit zu fördern. ➤ Drittens stellen soziale Beziehungen, die mit der Familie, den Fachkräften oder Peers, aber auch in sozialen Netzwerken - real wie virtuell - gepflegt werden, einen wichtigen Baustein dar. Denn: Übergänge gelingen besser, wenn sie in sozialen Beziehungen gedacht und als gemeinschaftliche Aufgabe angegangen werden (vgl. Sievers et al. 2016, 197): „So tragen soziale Beziehungen zu einzelnen, für die jungen Menschen wichtigen Personen dazu bei, dass die Anforderungen des Übergangs besser bewältigt werden können; ebenso bilden Gruppenangebote in der Übergangsphase die Chance, voneinander zu lernen und sich gegenseitig zu unterstützen“ (ebd.). ➤ Viertens kann eine adäquate Nachbetreuung in Verbindung mit einer schrittweisen Reduzierung des Betreuungsumfangs den Verselbstständigungsprozess für Care Leaver vereinfachen 161 uj 4 | 2020 Leaving Care helfen. Dazu gehört auch eine fundierte Ehemaligenarbeit, die als Anlaufstelle nach dem Übergang fungiert, ihnen Sicherheit gibt und es ihnen ermöglicht, längerfristig in Kontakt zu bleiben. Zudem können Ehemalige regelmäßig eingeladen werden, um den jungen Menschen in der Wohngruppe von den eigenen Übergangserfahrungen zu erzählen und wertvolle Hinweise zu geben. In Verbindung zu bleiben bringt schließlich nicht nur für die jungen Menschen Vorteile mit sich. Einrichtungen können auf diesem Weg für die Qualitätsentwicklung im Rahmen von Befragungen und Evaluationen Rückschlüsse auf die Wirksamkeit ihrer Arbeit ziehen. Neben der Nachbetreuung an sich muss sich die Kinder- und Jugendhilfe jedoch auch dringend auf eine Reversibilität der Hilfen einlassen. Da es rein rechtlich noch keine gesetzliche Verankerung einer sog. Coming-Back-Option für junge Volljährige gibt und es abzuwarten bleibt, ob die Diskussions- und Positionspapiere, in welchen diese Option gefordert wird, auch Berücksichtigung finden, scheint es vorrangig die Aufgabe der freien Träger der Jugendhilfe zu sein, Möglichkeiten für ein Zurückkommen konzeptionell zu gestalten, aktiv mit den öffentlichen Jugendhilfeträgern zu diskutieren und Care Leaver bei der Durchsetzung ihres Rechtsanspruches nach § 41 SGB VIII zu unterstützen, der eine erneute Hilfegewährung letztlich nicht ausschließt (vgl. Sievers et al. 2016, 158). Fazit und Ausblick Diese vorangegangenen Ausführungen veranschaulichen, dass Leaving Care als komplexer Prozess einzuordnen ist. Konzeptionelle Ansätze zur Gestaltung des Übergangs von der stationären Erziehungshilfe in die Selbstständigkeit und zur Bewältigung der mit dieser Statuspassage einhergehenden Anforderungen sind aber kaum vorhanden. Im 14. Kinder- und Jugendbericht wird die Gewährungspraxis in Deutschland kritisiert. Die Sachverständigen berufen sich dabei auf die Erkenntnisse von Will (2001) und Nüsken (2008) und bemängeln, dass es häufig nur um eine Verlängerung von Maßnahmen zu Erziehung, Fürsorge, Schutz und Betreuung gehe (vgl. BMFSFJ 2013, 352). Weil die rechtlichen, aber auch politischen Rahmenbedingungen für Care Leaver und Leaving Care ungünstig ausfüllen, muss es Fachkräften aus Gründen der Professionalität, z. B. aus der berufsethischen Haltung heraus, ein Anliegen sein, die jungen Menschen so gut wie möglich auf die Statuspassage vorzubereiten und sie beim Hindurchgehen zu begleiten: „Hier gilt es, Lücken im deutschen Übergangssystem zu schließen und es zu ermöglichen, den Merkmalen einer verlängerten Jugend- und Übergangsphase ins Erwachsenenleben gerecht zu werden und den Bedürfnissen nach Unterstützung und sozialer Eingebundenheit von Care Leaver über verwaltungstechnische und fiskalische Hilfelogiken hinaus Rechnung zu tragen“ (Sievers et al. 2016, 198). Anknüpfungspunkte gibt es viele: So werden mehr differenzierte und auf die Statuspassage des Leaving Care angepasste Angebote benötigt, muss intensiver über eine Reversibilität der Hilfen gesprochen oder nach praktikablen Lösungen im Sinne der Nachhaltigkeit und vor allem im Sinne der jungen Menschen gesucht werden. Zudem besteht die Notwendigkeit, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe noch stärker am Bedarf dieser Zielgruppe, aber auch der Fachkräfte orientiert, um konzeptionell neue, mutige und individuellere Wege einschlagen zu können. Kontakt: Prof. Dr. Michael Görtler E-Mail: goertler@fh-mittelstand.de 162 uj 4 | 2020 Leaving Care Literatur AGJ (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe) (2014): Junge Volljährige nach der stationären Hilfe zur Erziehung. Leaving Care als eine dringende fach- und sozialpolitische Herausforderung in Deutschland. Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe. Berlin, 18./ 19. September 2014. In: https: / / www.agj.de/ fileadmin/ files/ publikationen/ Care_Leaver.pdf, 12. 1. 2020 BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (2013 a): Fragen und Antworten: Kinder- und Jugendhilfe, Hintergrundmeldung Kinder- und Jugendschutz, 10. 10. 2013. 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Ergebnisse einer Adressat_innenbefragung und Ansatzpunkte für die Praxisentwicklung. IGFH, Frankfurt/ M, https: / / doi.org/ 10. 2378/ uj2016.art06d Sievers, B., Thomas, S., Zeller, M. (2016): Jugendhilfe - und dann? Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen. 2. Aufl. IGFH Frankfurt a. M. Strahl, B., Thomas, S. (2014): (Er)wachsen ohne Wurzeln? Der Weg aus stationären Erziehungshilfen. Übergangsbegleitung zwischen „Verselbstständigung“ und Erlangung von Handlungsmächtigkeit. In: IGFH (Hrsg.): Forum Erziehungshilfen. 20 (3). Beltz Juventa, Weinheim Walter, M. (2015): Resilienz - Gedeihen trotz schwieriger Umstände. Was man unter Resilienz versteht und was resiliente Kinder stark macht. In: Kögler, T. (Hrsg.): Bildung zwischen Anspruch und Alltag. Ein Mutmachbuch für Pädagogen. Neufeld, Schwarzenfeld Wiesner, R. (2014): Hilfen für junge Volljährige. Rechtliche Ausgangssituation. Expertise. 2. Aufl. IGFH, Frankfurt a. M.