eJournals unsere jugend 72/5

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art33d
51
2020
725

Informelle Bildung im Jugendstrafvollzug

51
2020
Annika Krause
Eine Vielzahl der inhaftierten Jugendlichen wurde durch ihr (soziales) Umfeld delinquent sozialisiert und hat abweichende (maladaptive) Verhaltensweisen internalisiert, um im Alltag zuRECHT zu kommen. Das Recht im Alltag der jungen delinquenten Menschen wird bestimmt von internalisierten Regeln und Gesetzen ihrer Lebenswelt. Daran anknüpfend benötigen wir Konzepte nicht-delinquenter Coping-Strategien.
4_072_2020_5_0004
203 unsere jugend, 72. Jg., S. 203 - 210 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art33d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Annika Krause Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Pädagogik bei Verhaltensstörungen/ emotionale und soziale Entwicklung am Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik der Universität Oldenburg; Pädagogische Fachkraft im Jungtäterstrafvollzug Informelle Bildung im Jugendstrafvollzug Von „streetsmart“ und „streetwise“ zu „lifesmart“ Eine Vielzahl der inhaftierten Jugendlichen wurde durch ihr (soziales) Umfeld delinquent sozialisiert und hat abweichende (maladaptive) Verhaltensweisen internalisiert, um im Alltag zuRECHT zu kommen. Das Recht im Alltag der jungen delinquenten Menschen wird bestimmt von internalisierten Regeln und Gesetzen ihrer Lebenswelt. Daran anknüpfend benötigen wir Konzepte nicht-delinquenter Coping-Strategien. Für alle inhaftierten Jugendlichen stellen die Gefängnismauern nicht nur sinnbildlich, sondern auch real eine temporäre Zugangsverweigerung zum „Leben“ und zur Gesellschaft dar. Das Gefängnis muss und darf jeglichen Zugang für Adoleszente jedoch nicht für immer versperren. Anknüpfend an der hohen Literalität der jungen delinquenten Menschen soll in diesem Artikel anhand der informellen Bildung thematisiert werden, wie bereits während der Inhaftierung die Mauern (sinnbildlich) eingerissen werden können. Emil: Jahrgang 2002, Haftdauer: 3 Jahre, 2 Monate (unerlaubter Drogenhandel), Eltern getrennt (Mutter: Frührentnerin, Vater: kein Kontakt), 9. - 14. Lebensjahr stationäre Erziehungshilfe, ohne Schulabschluss, früh diagnostizierter sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung (externalisierende Verhaltensauffälligkeiten), Schmerzmittel- und Drogenkonsum, finanziell verschuldet, adipös, gesundheitliche Probleme (schlechte Zähne, schwerwiegende Verstopfungsprobleme, Darmspiegelung nicht möglich - Narkose wirkt aufgrund des Drogenkonsums nicht; konsumiert Cannabis, um Aggressionspotenzial zu minimieren, Drogen- und Schmerzmittel, um körperliche Schmerzen zu betäuben; Entzug abgebrochen), vor Inhaftierung Wohnung selten verlassen, um Konflikte zu vermeiden, gute Vernetzung zu Peers, „eigener“ Tagesrhythmus. Emil, ein personifiziertes Beispiel für einen der 3.352 inhaftierten männlichen sowie 179 weiblichen Gefangenen (Stand: 30. November 2018, Statistisches Bundesamt 2019) in deutschen Jugendstrafanstalten. Emil stellt keinen besonderen Fall dar, sondern steht für eine von vielen ähnlich gelagerten Biografien. Einleitend soll in diesem Artikel ausdrücklich betont werden, dass folgende Sichtweisen, Erklärungen sowie Argumentationen nicht als generelle Perspektive für alle inhaftierten Ado- 204 uj 5 | 2020 Informelle Bildung im Jugendstrafvollzug leszenten suggeriert werden soll, denn der praktische Alltag beweist stets aufs Neue, dass die Bedingungsfelder der Inhaftierung genauso heterogen sind, wie die heterogene Gruppierung der delinquenten Adoleszenten. Als Erklärung für die Entstehung kriminellen Verhaltens Jugendlicher haben Myschker und Hoffmann, bereits 1993, „bei einer Betrachtung aus ökologischer, systemischer bzw. ganzheitlicher Sicht“ (ebd., 46), sowie basierend auf multikomplexen Vernetzungen und vielfältigen kausalen Kombinationen im primären Herkunftsfeld der Jugendlichen, u. a. „Sozialisationsschwäche der primären Erziehungs- und Bildungseinrichtungen“, „Verhältnisse mit unzureichenden Lebensbedingungen“ sowie „Desorganisierte Familienverhältnisse“ (ebd., 46) als „kriminogen“ etikettiert, was seither durch zahlreiche Veröffentlichungen unterstrichen wird (z. B. Klipker et al. 2018, 37; Myschker/ Stein 2018). Diese kriminogenen Faktoren treffen auf das einleitend skizzierte Fallbeispiel Emil zu, dessen Eltern sich während seines 2. Lebensjahres getrennt haben und Emils Mutter das alleinige Sorgerecht zugesprochen wurde. Am Ende von Emils erstem Schulbesuchsjahr ist Emils Mutter, die aufgrund psychischer Probleme Frührentnerin ist, endgültig an ihre erzieherischen Grenzen gestoßen - trotz sozialpädagogischer Unterstützungsmaßnahmen - und hat Emil in eine stationäre Erziehungseinrichtung gegeben. Im Alter von 14 Jahren ist Emil nach zahlreichen Wechseln der stationären Einrichtungen jedoch zu seiner Mutter zurückgekehrt und war seither auf sich allein gestellt, weswegen er sich so oft wie möglich außerhalb der mütterlichen Wohnung aufgehalten hat. Das Ausbleiben von geeigneten unterstützenden Angeboten im Alltag und (familiärer) Zugewandtheit chronifizierten Emils Prozess der Internalisierung von maladaptiven Verhaltensmustern (von gesellschaftlichen Bezugsnormen abweichenden Verhaltensmustern) hin zu delinquentem Verhalten. Aufgrund von unterschiedlichen Straftatbeständen, wovon jedoch der unerlaubte Drogenhandel am stärksten in die Gewichtung fällt, wurde Emil zu einer Haftstrafe von 3 Jahren und 2 Monaten verurteilt. Dieses prozesshafte Geschehen wird in der englischen Fachsprache als „adverse-childhood-experiences“ (ACEs) (Felitti et al. 1998) bezeichnet und stellt bei Emil die Reaktion auf multikomplexe Problemkonstellationen dar. Ganz gleich, ob Mindeststrafe oder Höchstmaß, frühzeitige Gedanken über eine (Re)Sozialisierung der Jugendlichen sind unerlässlich, da sie früher (vorzeitige Haftentlassung) oder später - auf Basis der räumlichen Perspektive - wieder Zugang zur Gesellschaft erlangen. Gedanken um den Tag der Entlassung sollten, nach Maelike (2019, 34), synchron mit dem Beginn der Inhaftierung einsetzen. Es bedarf somit einer Zielorientierung, die eine Abwägung inkludiert, welche sicherstellt, dass die Gesellschaft vor Straftaten geschützt wird sowie dem einzelnen Menschen die Möglichkeit gibt, als gesetzestreue/ r BürgerIn in die Gesellschaft zurückzukehren. Aus der pädagogischen Perspektive geht es nicht darum zu urteilen, ob schuldig oder unschuldig - die Inhaftierung und der daraus resultierende Freiheitsentzug ist die Sanktion, nicht der einzelne raue Umgang des Mitarbeiters/ der Mitarbeiterin. Da der Strafvollzug basierend auf instrumentell-empirischen Erkenntnissen nicht zu den chancenreichsten Sanktionsmaßnahmen für Adoleszente zählt, da „mit der ,Härte‘ einer Sanktion Rückfallwahrscheinlichkeiten steigen“ (Dollinger/ Schabdach 2013, 11), erfolgt die Verhängung eines solchen Strafmaßes i. d. R. zur Sicherheit der Gesellschaft und hat i. d. R. wirkungslose intensive und sanktionierende Interventionsmaßnahmen nach § 5 Jugendgerichtsgesetz (JGG) inne. Dementsprechend bedarf es einer umso stärkeren Fokussierung auf eine humanistisch-bildende Gestaltung der Haftzeit. Anhängern ausgleichender Gerechtigkeit mangelt im Rahmen dieser Sichtweise der sanktionierende Charakter der Inhaftierung und aus Opfer- 205 uj 5 | 2020 Informelle Bildung im Jugendstrafvollzug perspektive vermag eine solche Sichtweise nur partiell nachvollziehbar sein. Der Erziehungsgedanke, der das Jugendstrafrecht signifikant vom Erwachsenenstrafrecht unterscheidet, soll und darf jedoch die Legitimation hierfür bieten. Inhaftierte Adoleszente haben dasselbe Recht auf Chancengleichheit und Bildung wie ihre nichtinhaftierten Peers. Im Sinne der Wahrnehmung der Schulpflicht sowie der Aneignung von akademisch-formaler Bildung ermöglichen die FachbereichsleiterInnen Bildung der jeweiligen Vollzugsanstalten, durch ihr Engagement sowie durch zahlreiche unterschiedliche Kooperationen, vielzählige Bildungsangebote für die inhaftierten jungen Menschen. (Informelle) Bildung In einer totalen Institution (Goffman 1958) wie dem Strafvollzug bedarf es einer individuellen Betrachtung des Bildungsbegriffs. Trotz putativer Parallelen zu anderen totalen Institutionen erfordert der Bildungsbegriff eine adaptierte Umschreibung. Die Emanzipierung von z. T. nicht beeinflussbaren (lokalen) Systemzwängen und institutionellen Strukturen bedarf viel Engagement der professionellen Akteure und ist doch allgegenwärtig. Das Begriffsverständnis von Bildung bezieht sich (in Anlehnung: Bildungsbericht 2018) darauf, dass formale Bildung in Bildungssowie Ausbildungseinrichtungen stattfindet und zur Erlangung eines anerkannten Abschlusses führt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Die Abgrenzung zur informellen Bildung soll in Orientierung an Benners (2015, 483) Beschreibung der Bildungsthematik unter der Betrachtung der wechselwirkenden Eigenschaften von Bildung und Erziehung aufgebaut werden. In dieser wird beschrieben, dass die Bildungsthematik „gegenstands- und sachbezogene Lernprozesse und diesen zugrunde liegende Wechselwirkungen von Mensch und Welt [umfasst], für die es keine isolierte pädagogische Verantwortung gibt“ (ebd.). Von Relevanz sind Wissensformen, die sich in Anlehnung an Benner (2015, 490) als pragmatisch-nicht-hierarchische Ordnung der ausdifferenzierten Bereiche menschlichen Handelns bezeichnen lassen, wie es John Dewey bereits 1916 beschrieben hat, und die methodische Leitfragen innehalten - beispielsweise was unter einem „ökonomisch, moralisch, politisch, ästhetisch und religiös gelingenden Leben zu verstehen ist“ (Benner 2015, 490) und wie in diesem Zusammenhang Krankheit und Gesundheit miteinander korrelieren (ebd.). Die bildende und entwicklungsfördernde Wirkung von informellem Wissen soll, u. a. in Anlehnung an Meyer-Drawe (1986), so gestaltet werden, dass die inhaftierten Adoleszenten nach einer Einführung neue Erfahrungen in institutionell arrangierten Bildungsgelegenheiten machen (Mack 2007), induktiv weiterlernen oder umlernen und, ergänzend nach Benner (2015, 483), dies emanzipiert von pädagogischen Fachkräften umsetzen können. Es geht somit um Bildungsinhalte, die im Verlauf der Sozialisation nicht gelernt werden konnten, jedoch von Signifikanz sind, „um die Welt zu verstehen und in dieser ein individuelles und partizipatorisches Leben führen zu können“ (Benner 2015, 486). In der Gestaltung dessen bedarf es einer besonderen lebensproblemzentrierten Orientierung (Wittrock 2008) sowie Anknüpfung, um an der literalen Kompetenz der Adoleszenten anzusetzen, die je nach Verständnis überaus hoch oder sehr gering ausfallen kann. Literalitätsbegriff Im allgemeinen Verständnis wird der Begriff Literalität (literacy) mit der Kompetenz, Texte zu lesen und zu verstehen, gleichgesetzt, was inhaltlich u. a. auf die IALS-Studien der OECD und die PISA-Studien zurückzuführen ist (Schmitz/ Wittrock 2011). Je nach Herkunft kann speziell dieses Literalitätsverständnis bei einem Großteil der männlichen Zielgruppe unzureichend 206 uj 5 | 2020 Informelle Bildung im Jugendstrafvollzug ausfallen (OECD 2019). Literalität nach Schmitz und Wittrock (2011, 26) basiert auf einer Prozesshaftigkeit, die mit der Wahrnehmung sowie Decodierung einer Information beginnt, woraufhin„im nächsten Schritt rahmungsbezogen und normorientiert interpretiert werden muss, um dann reflektierend bewertet werden zu können“ (ebd.). Es „folgt eine Handlung, welche von jeder Person, aber auch den anderen beteiligten Personen in einer bestimmten Weise wahrgenommen und interpretiert wird“ (ebd.), womit der zirkuläre Prozess abschließt. Wittrock konkretisiert diesen Teilbereich der Literalität, anknüpfend an Hess-Rice (2003, 21), wie folgt: „Literalität des Verhaltens und Handelns ist die Fähigkeit, eigenes und fremdes Verhalten zu erkennen und zu identifizieren (was ich tue, darfst auch du tun) und auch das Verhalten zu steuern. Es bedeutet, dass du fähig sein musst, eine Situation zu lesen, sowie das Repertoire und die Motivation dich anzupassen“. Adoleszente mit sozialisiert delinquenten Verhaltensmustern (Myschker/ Stein, 2018) sind im Sinne der Behavioral Literacy zumeist höchst literat. Das „maladaptive Verhalten“ (ebd.) in der Rahmung, in der die Adoleszenten gelernt haben zu leben, weist, im Sinne des Lesens und Verstehens von Verhalten sowie sozialen Rahmungen (Schmitz/ Wittrock 2010), einen hohen Standard auf. Durch die Inhaftierung wird somit (subjektiv betrachtet) „richtiges“ Verhalten bestraft, ohne vermittelt bekommen zu haben, wie man sich „konform“ verhält - weswegen die Aussicht eines Lernzuwachses ausschließlich durch den Freiheitsentzug gering ist (Schmitz/ Wittrock 2011). Daher weisen Schmitz und Wittrock (2011) darauf hin, dass die Adoleszenten „vielleicht das Verhalten des Gegenübers oder die Situation nicht richtig ,lesen‘ konnten. Sei es, weil ihre Wahrnehmung beeinträchtigt ist, weil ihnen das nötige Episodenwissen für das Verhalten in bestimmten Situationen (,Rahmungen‘) fehlt oder weil sie dem Geschehen aufgrund für sie bedeutender (Lebens-)Probleme so wenig Sinn beimessen, dass sie nicht zur Kenntnis genommen haben, worum es geht“ (ebd., 29). Streetsmart und Streetwise Im angloamerikanischen Sprachraum wird für die hohe Literalität des Verhaltens und Handelns das informelle Adjektiv „streetsmart“ verwendet, um eine Person zu beschreiben, die über die Kompetenz verfügt, in urbanen Milieus wortwörtlich zu überleben. Der Ursprung der Begrifflichkeit lässt sich nicht konkret bestimmen, die ersten Nennungen gab es jedoch Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA. „An individual who may or may not be schooled or trained academically but who possesses knowledge and wisdom applicable in the real world.“ (robon180 2007) „The stereotype of a street smart person is someone who is intelligent and knows how to handle important situations in the streets but is not as well-educated academically.“ (street smart & book smart girl 2010) „Streetsmart“ zu sein zeugt somit davon, dass man über das Wissen sowie die Fähigkeit verfügt, (neue) soziale Rahmungen lesen sowie die urbanen Regeln und Gesetze verstehen zu können. Im Falle des einleitend skizzierten Fallbeispiels von Emil trifft dies auf ihn zu, da er durch die Vermeidung sich daheim aufzuhalten, früh viel Zeit außerhalb des Radars von Sozialsowie Bildungseinrichtungen in einem Sozialraumkomplex eines benachteiligten Stadtteils verbracht hat. Jegliches problemlösende Verhalten, welches Emil internalisiert hat, basiert auf der Sozialisation seines Umfelds und stellt ein subjektiv problemlösendes Verhalten dar (Wittrock 2008). Ein verfestigteres Wissen auf Basis der Begrifflichkeit „streetsmart“ wird urban mit dem informellen Adjektiv „streetwise“ beschreiben und als gewandt sowie klug konnotiert: „Having the shrewd awareness, experience, and resourcefulness needed for survival in a difficult, often dangerous urban environment; (Sociology) 207 uj 5 | 2020 Informelle Bildung im Jugendstrafvollzug attuned to and adept at surviving in an urban, poor and often criminal environment.“ (American Heritage Dictionary of the English Language) Die Herausforderung in der Arbeit mit Adoleszenten, die sich als „streetsmart“ oder „streetwise“ beschreiben lassen, liegt in der Änderung ihrer Denkweise. Es muss von den Adoleszenten verstanden werden, ob sie ein Opfer des Systems, ihrer Familie oder ihres Umfeldes sind - oder einer Triangulation dessen. Dies bedarf mitunter einer längeren Zeitspanne, als die eigentliche Haftstrafe andauert, da die Manifestierung dieser Denkweise einen jahrelangen Reifeprozess innehat, welcher nicht innerhalb kürzester Zeit revidiert werden kann. Allem voran muss jedoch die Bereitschaft stehen, eine Änderung des Vertrauten zuzulassen - ob von Emil oder all denjenigen, für die er innerhalb dieses Artikels (und im Rahmen des generischen Maskulinums) exemplarisch stehen soll. Aufbauend auf diese hohe literarische Kompetenz bedarf es im Haftalltag einer Fokussierung auf den Prozess der Veränderung, um basierend auf den vorhandenen Kompetenzen von „streetsmart“ und „streetwise“ die Adoleszenten auf der Entwicklung zu „lifesmart“ zu begleiten. Lifesmart Die umgangssprachlichen Definitionen zu „lifesmart“ sind mannigfaltig, weisen jedoch allesamt die Gemeinsamkeit darüber auf, dass diejenigen an ihren Willen, ihre Talente und Leidenschaft glauben - wovon sie im gesellschaftlich konformen Sinne angetrieben werden. Sie haben Erfahrungen gesammelt, können Emotionen bestimmen, haben von Menschen gelernt und Lebensprinzipien angewendet (sky | ar 2019). In der Handlungspraxis bedarf es besonderer Unterstreichung dieser aufgeführten Aspekte, da diese eine signifikante Rolle darstellen und mit Antonovskys Aspekten der Salutogenese (1997) in Verbindung zu bringen sind, die sich auf die Verstehbarkeit, Handhabbarkeit, Machbarkeit beziehen sowie für die (subjektive) Sinnhaftigkeit eines (Lern-)Gegenstandes von großer Relevanz sind. Für die Gestaltung der Praxis bedarf es die Berücksichtigung der institutionellen Rahmenbedingungen, wozu bereits 1984 Myschker und Hoffmann (ebd., 84) auf folgende didaktische, methodische sowie therapeutisch-pädagogische Elemente hinweisen: „1. Didaktische Elemente ➤ Bezug der Bildungsinhalte zur Lebenssituation vor der Inhaftierung (Vergangenheitsaspekt), ➤ Bezug der Bildungsinhalte zur Lebenssituation in der Vollzugsanstalt (Gegenwartsaspekt), ➤ Bezug der Bildungsinhalte zur Lebenssituation nach der Entlassung (Zukunftsaspekt) 2. Methodische Elemente ➤ Angepaßte zeitliche Planung (von relativ kurzen zu längeren Zeiteinheiten), angemessener Wechsel der Aktivitäten, ➤ Differenzierung der Anforderungen (individualisiertes Lernen), Einsatz motivierender Materialien und Medien, Kleingruppenarbeit. 3. Pädagogisch-therapeutische Elemente ➤ Schaffung einer förderlichen Lernatmosphäre, ➤ Pädagogischer Bezug (emotional positive Schüler-Lehrer-Beziehung), ➤ Positive Verstärkung (Ermutigung), ➤ Hilfreiche Gesprächsführung (im Sinne der Prinzipien der Gesprächspsychotherapie), ➤ Life-space-interview (Konfliktbearbeitung in der konkreten Situation), ➤ Metakommunikation (Reflexion über Verhalten), gruppendynamische Übungen, ➤ Einsatz spezieller Techniken (z. B. Rollenspiel, Videofeedback, kunst-, musik-, bewegungstherapeutische Verfahren).“ 208 uj 5 | 2020 Informelle Bildung im Jugendstrafvollzug In medialer Hinsicht hat in den vergangenen Jahren besonders der liberale Weg des norwegischen Strafvollzuges sowie die im norwegischen Strafvollzugsgesetz verankerten fünf Säulen der (Handlungs-)Grundsätze von Aktivitäten große Aufmerksamkeit erzeugt (FOCUS online 2018; BBC 2019). Am best-practice-Beispiel des Hochsicherheitsgefängnisses Halden werden exemplarisch die Prinzipien der Normalität, der Progression sowie der Humanität im Haftalltag sowie in der Gestaltung dessen dargestellt. Realisiert werden diese Prinzipien durch die bestmögliche Gestaltung eines „normalen“ Lebens mit Arbeit und Freizeitmöglichkeiten, durch das Angebot von (Weiter-)Bildungsmöglichkeiten und dem daraus entstehenden subjektiven Gefühl, dass das Leben im Gefängnis nicht stillsteht (Progression) sowie einer humanistischen Sichtweise in Form einer menschlichen und würdigen Behandlung. Die Hervorhebung dieser drei norwegischen Säulen soll übergreifend für jegliche pädagogische Handlungspraxis in einer totalen Institution stehen - auch wenn dies für Adoleszente, denen zum Teil eine Vielzahl abwertender Strukturen entgegengebracht wurde, eine neue unvertraute Rahmung birgt. Diese neue Rahmung bedarf der stetigen Reflexion der Professionellen, um eine Kommunikation auf Augenhöhe bewirken zu können und nicht mokierend vom Rezipienten aufgefasst werden soll. Der pädagogische Ansatz der Ko-Konstruktion (Youniss/ Krappmann/ Oswald 1994) bewirkt in diesem Zusammenhang, im Bezug zum interaktionistischen Modell, nicht nur ein „über sich ergehen lassen“, sondern eine aktive Mitgestaltung sowie Selbstwirksamkeit. Informelle Bildung muss an Literalität ansetzen Nach „Verbüßung“ der im Namen des Volkes verkündeten Strafe führt der Weg zurück in die Gesellschaft - zurück zum Volk. Es bedarf somit einer Vorbereitung dieses Schrittes, der jedoch an der Lebenswelt der jungen Menschen sowie an deren Wissen ansetzen sollte. Es geht darum, die inhaftierten Adoleszenten durch (informelle) Bildung (auch) mit dem Aspekt der Lebensführung vertraut zu machen. Sie „lifesmart“ zu machen und aus dem gesellschaftlichen „Schatten“ in die gesellschaftliche Mitte, hin zu Selbst- (ver)sorgern zu begleiten. Sich im Sinne der lebensproblemzentrierten Pädagogik (Wittrock 2008) damit zu beschäftigen: Wie kann ich leben? Was kostet, braucht und fordert das Leben? Wie komme ich zurück ins Leben? Wohin möchte ich, dass mich das Leben führt? All dies sind Aspekte, die im Rahmen der informellen Bildung von großer Signifikanz sind, jedoch in essenzieller Abhängigkeit zum intrinsischen Willen zur Veränderung stehen. Systemquarterbacks Eine monumentale Jugendkriminalität weist laut Hellmer (1966) „auf ein in kultureller Hinsicht ,wertdünnes‘ Klima und auf ein Nichtgenügen kultureller und sozialer Maßstäbe“ (ebd., 13) hin. Da Adoleszente die Umstände des Systems widerspiegeln, können sie nur so gut sein, wie das System um sie herum ist - „ein Spiegel der den Jugendlichen umgebenden und auf ihn einwirkenden Verhältnisse“ (ebd.). Delinquenz im Jugendalter lässt sich als ein Indikator für „die kulturellen Verhältnisse der Zeit“ (ebd., 14) ansehen, dem die Adoleszenten aufgrund sozialer Mängel als Erstes zum „Opfer“ fallen. Adoleszente stehen somit sinnbildlich als „Quarterbacks“ des Systems auf dem Feld und können sich nur so gut entwickeln, wie das System um sie herum sie unterstützt. Konstatierend für diesen Beitrag kann somit formuliert werden, dass die Entwicklung von „streetsmart“ und „streetwise“ zu „lifesmart“ als genuiner Aspekt im Jugendstrafvollzug verstanden und die vorhandene Literalität als Ressource genutzt werden sollte, um in der gemeinsamen Interaktion sowie anknüpfend an die Erfahrungen der jungen delinquenten 209 uj 5 | 2020 Informelle Bildung im Jugendstrafvollzug Menschen Coping-Strategien gegen kriminogene Reize oder situative Notlösungen zu entwickeln. Als übergeordnetes Ziel für die (sonder)pädagogische Praxis sollte somit die Co-Konstruktion des Lernprozesses stehen, der die bisherige Lebenswelt wahrnimmt und als Ausgangslage ansieht. Die im Beitrag angeführten Operatoren sollen hierfür nicht als Handlungsanweisungen interpretiert werden, sondern als Handlungshinweise dienen, die sowohl als Instrument zur Reflexion von bestehenden Maßnahmen gesehen werden können oder zur Implikation im pädagogischen Alltag verwendet werden dürfen. Annika Krause E-Mail: annika.krause@uol.de Literatur Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. dgvt, Tübingen Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018): Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung. wbv Publikation, Bielefeld British Broadcasting Corporation (BBC) (Hrsg.) (2019): How Norway turns criminals into good neighbours. In: https: / / www.bbc.com/ news/ stories-48885846, 1. 12. 2019 Benner, D. (2015): Erziehung und Bildung! Zur Konzeptualisierung eines erziehenden Unterrichts, der bildet. Zeitschrift für Pädagogik 61, 481 - 496 Dewey, J. (1916): Democracy and Education: An Introduction to the Philosophy of Education. New York: Macmillan. In: https: / / archive.org/ stream/ democracy andedu00dewegoog#page/ n6/ mode/ 2up, 2. 1. 2020 Felitti, V. J., Anda, R. F., Nordenberg, D., Williamson, D. F., Spitz, A. M., Edwards, V., Koss, M. P., Marks, J. S. (1998): The Adverse Childhood Experiences (ACE) Study. Relationship of Child-hood Abuse and Household Dysfunction to Many of the Leading Causes of Death in Adults. In: American Journal of Preventive Medicine 14, 245 - 258, https: / / doi.org/ 10.1016/ s0749-3797(98) 00017-8 FOCUS online (Hrsg.) (2018): „Glücklichsten Insassen der Welt“: Das Geheimnis hinter Norwegens Vorzeige- Knast Halden. In: https: / / www.focus.de/ perspektiven/ 14-laender-14-reporter/ 14-laender-14-reporter-norwe gen-warum-norwegen-viel-geld-fuer-gluecklichehaeftlinge-ausgibt_id_9792837.html, 6. 12. 2019 Goffman, E. (1958): Characteristics of total institutions. In: Symposium on preventive and social psychiatry, 43 - 84. Walter Reed Army Institute of Research, Washington D.C. Hellmer, J. (1966): Jugendkriminalität in unserer Zeit. Fischer, Frankfurt a. M. Hess-Rice, E. (2003): Defining Behavioral Literacy. In: Brown, R., Dixon, A. K. (Hrsg.): Developing Behavioral Literacy. The George Washington University, Washington D.C., 21 - 25 Klipker, K., Baumgarten, F., Göbel, K., Lampert, T., Hölling, H. (2018): Psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Journal of Health Monitoring 3, 37 - 45, https: / / doi.org/ 10.1515/ pub hef-2019-0063 Mack, W. (2007): Lernen im Lebenslauf - formale nonformale und informelle Bildung: die mittlere Jugend (12 bis 16 Jahre). Studie im Auftrag der Enquetekommission „Chancen für Kinder“ des Landtags Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Maelicke, B. (2019): Das Knast-Dilemma. Wegsperren oder Resozialisieren? Eine Streitschrift. 2. überarbeitete und ergänzte Auflage. Nomen, Frankfurt am Main, https: / / doi.org/ 10.1515/ mks-2016-990515 Meyer-Drawe, K. (1986): Das Risiko des Lernens. In: Friedrich Jahresheft: Lernen - Ereignis und Routine 4, 138 - 140 Myschker, N., Hoffmann, M. (1984): Unterricht mit jugendlichen Inhaftierten. Studienbrief der Fernuniversität, Hagen Myschker, N., Hoffmann, M. (1993): Pädagogik hinter Gittern. In: Neukäter, H., Wittrock, M. (Hrsg.): Verhaltensstörungen. Erziehung - Unterricht - Beratung. Zentrum für pädagogische Berufspraxis, Oldenburg, 43 - 52 Robon180 (2007): Streetsmart. In: Urban Dictionary. In: https: / / www.urbandictionary.com/ define.php? term=street+smarts, 30. 12. 2019 210 uj 5 | 2020 Informelle Bildung im Jugendstrafvollzug Schmitz, C., Wittrock, M. (2010): Auch Verhalten muss gelesen werden - Behavioral Literacy. Zeitschrift für Heilpädagogik 61, 51 - 58 Schmitz, C., Wittrock, M. (2011): Behavioral Literacy - Literalität des Verhaltens und Handelns. Ein Projekt mit und für Jugendliche - Seine Grundlagen und Ziele. Evangelische Jugendhilfe 88, 25 - 30 sky | ar (2019): Life smart. In: Urban Dictionary. In: https: / / www.urbandictionary.com/ author.php? au thor=sky%7Car, 30. 12. 2019 Statistisches Bundesamt (2019): Bestand der Gefangenen und Verwahrten i. d. deutschen Justizvollzugsanstalten, Stichtag 30. November 2018, 5. In: https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 72216/ umfrage/ gefangene-und-verwahrte-in-jus tizvollzugsanstalten-nach-bundeslaendern/ , 10. 1. 2020 street smart & book smart girl (2010): Street smart. In: Urban Dictionary. In: https: / / www.urbandictionary. com/ define.php? term=street+smarts, 30. 12. 2019 streetwise (o. d.): In: American Heritage Dictionary of the English Language, Fifth Edition. (2011). https: / / www.thefreedictionary.com/ streetwise, 8. 1. 2020 Wittrock, M. (2005): Entwicklung und Förderung von „Literacy & Behavioral Literacy“. Präsentationspapier: International Symposium „Children, Young People and Families at Risk“, Universität Oldenburg Wittrock, M. (2008): Ansatz der Lebensproblemzentrierten Pädagogik. In: Vernooij, M. A., Wittrock, M. (Hrsg.). Verhaltensgestört. Schöningh (utb), Paderborn, 151 - 172 Youniss, J., Krappmann, L. & Oswald, H. (1994): Soziale Konstruktion und Psychische Entwicklung. Suhrkamp, Frankfurt a www.reinhardt-verlag.de In der Fachliteratur wird der ASD selten als Ganzes in Blick genommen. Dieses Handbuch stellt umfassend und differenziert das Fachwissen zum Allgemeinen Sozialen Dienst, seine Aufgabenbereiche und Handlungsansätze dar: rechtliche Grundlagen, verschiedene Organisationsformen und Methoden, Qualitätsentwicklung und Personalmanagement. Die 3. Auflage wurde aktualisiert. Neu ist ein Beitrag zu den fachlichen und fachpolitischen Perspektiven des ASD. Dieses umfassende Handbuch ist sowohl für die Arbeit im Jugendamt oder in der Jugendhilfe als auch im Studium unverzichtbar! Fachwissen ASD Joachim Merchel (Hg.) Handbuch Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) 3., aktual. u. erw. Auflage 2019. 511 Seiten. 31 Abb. 8 Tab. (978-3-497-02865-8) kt