unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art35d
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2020
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Theater bedeutet Freiheit!
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2020
Sarah E. Fehrmann
Katrin Schneckenburger
Seminara Sylvia
„Theater bedeutet Freiheit!“ – gilt das in einem Zwangskontext wie dem Jugendstrafvollzug? Ja, denn wir haben selbst erlebt, was Theater für die jungen inhaftierten Menschen bedeuten kann. Sie werden in Aktion gebracht und zu aktivem Handeln aufgefordert. Im Spiel erhalten sie die Chance, körperlich und geistig gefordert wie gefördert zu werden – das befreit.
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218 unsere jugend, 72. Jg., S. 218 - 225 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art35d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Theater bedeutet Freiheit! Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug „Theater bedeutet Freiheit! “ - gilt das in einem Zwangskontext wie dem Jugendstrafvollzug? Ja, denn wir haben selbst erlebt, was Theater für die jungen inhaftierten Menschen bedeuten kann. Sie werden in Aktion gebracht und zu aktivem Handeln aufgefordert. Im Spiel erhalten sie die Chance, körperlich und geistig gefordert wie gefördert zu werden - das befreit. von Sarah E. Fehrmann Jg. 1988; M. A. Rehabilitationswissenschaften, Pädagogin und Kriminologin, Mitarbeiterin und Sprecherin des Erziehungswissenschaftlichen Dienstes der JVA Heinsberg Einleitung „Durch das Theater habe ich mich sehr frei gefühlt.“ So oder so ähnlich beschreiben inhaftierte Menschen ihre Wahrnehmung dieser Form der darstellenden Kunst. Bereits der russische Dichter Dostojewski beobachtete und dokumentierte in den Gefangenenlagern um 1850 die Theaterarbeit als Momente der Zufriedenheit und Sinnstiftung (vgl. Leonhardt 2017, 16). Die Verfasserinnen Schneckenburger und Seminara führen deutschlandweit theaterpädagogische Projekte in Theatern, Schulen, sozialen Einrichtungen sowie im Strafvollzug durch. Letzteres in Kooperation mit der Verfasserin Fehrmann, die im Erziehungswissenschaftlichen Dienst für die Konzeption, Organisation und Durchführung von außerschulischen Bildungs- und Freizeitangeboten im Jugendstrafvollzug zuständig ist. Die Theaterpädagogik rückt gerade im Jugendstrafvollzug im Bereich der ästhetischen Bildung in den Vordergrund (vgl. Leonhardt 2017, 32; Hentschel 2010), denn der Mensch ist ein soziales und kulturelles Wesen mit einem Recht auf Teilhabe am sozialen, kulturellen Leben (Art. 27, Abs. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, AEMR). Dieses Recht besteht auch für Menschen im Jugendstrafvollzug und gewinnt angesichts der deprivierenden Rahmenbedingungen einer solchen Institution besonders an Bedeutung. Katrin Schneckenburger Jg. 1973; Theaterpädagogin BuT®, freischaffende Theatermacherin, Leiterin diverser Theaterensembles, Diplomsprachheilpädagogin, Logopädin am HPZ Romanshorn (Schweiz), Zytologisch technische Assistentin (ZTA) Sylvia Seminara Jg. 1974; Theaterpädagogin BuT®, Regisseurin, Schauspielerin, freiberufliche Künstlerin, Leiterin des Hermes-Theaters (Konstanz), Betriebswirtin (VWA), Industriekauffrau mit Europaqualifikation, Verwaltung der Professur für Ethnologie und Kulturanthropologie an der Universität Konstanz 219 uj 5 | 2020 Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug Dieser Beitrag fokussiert die rechtlichen, pädagogischen sowie theaterwissenschaftlichen Grundlagen der Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug und folgt damit Wißners (2018, 484) Aufruf zum wissenschaftlichen Diskurs. Es wird gezeigt, dass Theaterpädagogik gerade im Jugendstrafvollzug nicht allein dem Zeitvertreib dient, sondern dass es sich um Kunst mit einem pädagogischen Mehrwert handelt, die beachtliche Wirkungen auf die inhaftierten Menschen, ihr Umfeld, die Vollzugseinrichtung und die Gesellschaft haben kann (vgl. Deu 2008, 35 - 43). Ziel des Beitrags ist es, die Öffentlichkeit, die Anstaltsleitungen sowie die pädagogischen Fachkräfte für die Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug zu sensibilisieren, die förderlichen Effekte transparent zu machen und die Reichweite qualifizierter Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug zu diskutieren. Definition Theaterpädagogik Theaterpädagogik beschreibt den Umstand, dass professionelle TheaterpädagogInnen mit AmateurInnen Theater spielen und ein künstlerisches Projekt mit dem Ziel einer Aufführung anvisieren. Die Theaterpädagogik ist eine eigenständige künstlerisch wissenschaftliche Disziplin, die sich im Laufe der Jahre in vielfältige Theorieansätze, Praxiskonzepte und Einsatzbereiche verzweigt hat (vgl. Lille 2019, 10ff ). Theaterpädagogik, die ganzheitlich über verschiedene Sinneskanäle arbeitet, gilt nach Sting (1997, 25) „als die soziale Kunstform, und als Kunst zeigt das Theater soziale und pädagogische Wirkung. (…) Denn nur im künstlerischen Tun, in der Konzentration auf den künstlerischen Gestaltungsprozeß entfalten sich die bildungsrelevanten und sozialen Dimensionen des Theaterspiels“. In der Theaterpädagogik geht es im Sinne der Kulturellen Bildung um das Erleben und Wahrnehmen, mit dem Fokus auf die Stärkung der individuellen und sozialen Handlungsfähigkeit der TeilnehmerInnen (vgl. Witte 2003, 170f ). Theaterpädagogik ist eine Art Theaterlabor in Form von qualitativer Feldforschung. Spartenübergreifend kann die Theaterpädagogik als Vermittlerin zwischen den Künsten fungieren und an den Schnittstellen von traditionellen und zeitgenössischen Theaterformen (z. B. Tanz, Zirkus, Performance) neue Formate erfinden (vgl. Das theaterpädagogische Manifest 2020, 2). Theaterpädagogik hat die Aufgabe, Menschen für das Theater zu begeistern, sie als Zuschauer und als Akteure anzulocken sowie ihre Talente zu erforschen und kreativ zu bündeln. „Theaterpädagogik soll die Fragezeichen bei den Zuschauern nicht auflösen, sondern Verständnisansätze liefern, die zu einem Weiterdenken und Konstruieren anregen“ (Strasser 2008, 36). Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug Gesetzliche Grundlage Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug stützt sich auf diverse Regelungen, aus welchen die Bedeutung von Kunst und Kultur hervorgeht. Neben dem Menschenrecht auf die Teilhabe am sozialen, kulturellen Leben (Art. 27 Abs. 1 AEMR) spielt insbesondere die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) eine Rolle, die für alle Menschen bis 18 Jahre, und daher auch für die jungen inhaftierten Menschen, Gültigkeit besitzt. Zu den relevanten Förderrechten zählen neben dem Recht auf Bildung (Art. 28 UN-KRK) insbesondere das Recht auf Ruhe, Freizeit, Spiel, Erholung sowie auf „freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben“ (Art. 31 Abs. 1 UN-KRK). Dieses Recht steht in innerer Beziehung zu dem in Artikel 15 des UN-Sozialpaktes verankerten kulturellen Grundrecht, das ohnehin allen Menschen unabhängig deren Alters zusteht. Die Verwirklichung dieser Rechte fällt während des Aufenthalts im Jugendstrafvollzug in den Verantwortungsbereich ebendieser Institution und nicht wie sonst geregelt in den der Eltern (vgl. Art. 5 UN-KRK). Auch im Achten Sozialgesetzbuch zur Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) gilt die kulturelle Bildung als einer der Schwerpunkte der außerschuli- 220 uj 5 | 2020 Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug schen Jugendarbeit (§ 11 Abs. 3 SGB VIII), die der Entwicklungsförderung der jungen Menschen dient und sie zu Selbstbestimmung, Mitverantwortung und Engagement anregen soll. Die Förderung der Kreativität, ästhetische Bildung und Theaterpädagogik werden überdies in den Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder (JStVollzG) thematisiert. Im Folgenden werden beispielhaft die gesetzlichen Bestimmungen aus Nordrhein-Westfalen (NRW) angeführt. Im Rahmen der sinnvollen Freizeitgestaltung gilt explizit die Forderung: „Angebote zur Förderung der Kreativität im Rahmen kultureller Formen sind zu entwickeln. Hierfür können Freizeitgruppen in ästhetischen Bereichen, namentlich in denen der Literatur, des Theaters, der Musik und des Malens, eingerichtet werden“ (§ 39 Abs. 2 JStVollzG NRW). Nicht zuletzt trägt Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug zur Umsetzung des Angleichungs- und Gegenwirkungsgrundsatzes bei (§ 3 Abs. 2 JStVollzG NRW). Ziele Theaterpädagogik im Strafvollzug geht weit über eine Freizeitbeschäftigung von inhaftierten Menschen hinaus (vgl. Wißner 2018, 485). Ihr Einfluss erstreckt sich vom Erziehungsüber den Sozialbis hin zum Therapiebereich (vgl. Boal 2006, 29f ). Alle Ansätze eint, dass sie das Theater als Mittel betrachten, um einen Prozess bei den TeilnehmerInnen zu initiieren. Primäres Kollektivziel ist jedoch ein ästhetischer Bildungsprozess (vgl. Plath 2009, 38), eine lebendige Beschäftigung mit literarischen Texten und eine künstlerisch gelungene, ästhetische Inszenierung, mit der sich alle Beteiligten identifizieren können. Die inhaftierten Menschen erhalten über die Theaterpädagogik den Zugang und den Freiraum hin zu einer produktiven und kreativen Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Lebenswirklichkeit. Es ist ausdrücklich anzumerken, dass es in einem derartigen Kunstprojekt auch um den Schutz der SchauspielerInnen geht. Keine/ r soll sich ausgestellt oder verraten fühlen. Methoden Im Jugendstrafvollzug steht die Theaterpädagogik einem besonderen Setting gegenüber. Die strafvollzugsspezifischen Rahmenbedingungen beeinflussen die künstlerische und pädagogische Arbeit zwar, dennoch kommen in der Umsetzung die bekannten inszenatorischen Gestaltungsmittel und Zeichen des Theaters (vgl. Fischer-Lichte 2010, 85), unter Berücksichtigung der Wünsche der Gruppe, des zur Verfügung stehenden zeitlichen Rahmens sowie der Neigungsschwerpunkte der TheaterpädagogInnen zum Einsatz. Die Inszenierung nutzt die Komposition und Performance von SpielerInnen (Körper, Bewegung, Stimme), Licht, Raum, Requisite und Bühnenbild, um das Gesamtkunstwerk zu gestalten. Hinzu kommt das Einrichten eines geschützten Probenraums, das Vereinbaren allgemein gültiger Regeln und das Erlernen einer wertschätzenden Feedbackkultur. Grundsätzlich wird im Jugendstrafvollzug die übliche Probendramaturgie angewandt. Es geht zunächst um einfache Spiele, die dem Kennenlernen, der Konzentration, dem Erwecken der Spielfreude, dem Energie- und Vertrauensaufbau dienen. Sinnvoll ist es, zu Beginn in der Großgruppe zu arbeiten, dann Einzelaufgaben und später, wenn die Gruppe sich gefunden hat, Partnerbzw. Berührungsübungen einzuführen (weiterführend Plath 2009, 56 - 59). Es geht darum, die Theaterkunst überzeugend zu vermitteln und den TeilnehmerInnen bewusst zu machen, dass sowohl die spielerischen Warmups als auch Schauspiel-, Körper- und Stimmtraining für die eigene Präsenz und ästhetische Ausdrucksfähigkeit wichtig sind. Man braucht einen freien Kopf, einen freien Geist und einen durchlässigen Körper, um sich auf die künstlerische Arbeit einzulassen. Aus der Erfahrung der Verfasserinnen eignen sich für den Jugendstrafvollzug insbesondere die Improvisation (vgl. Johnstone 2016), das biografische Theater (vgl. Plath 2009), Forumtheater und Statuentheater (vgl. Boal 1979, 2006), die Schreibwerkstatt (Hippe 2015) sowie Methoden des Regietheaters inklusive Schauspieltraining (vgl. Stanislawski 2007; Strasberg 1987). 221 uj 5 | 2020 Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug Wirkungen Die durch das Theaterspielen initiierten ästhetischen Lern- und Bildungsprozesse haben einen pädagogischen Mehrwert und können positive Nebeneffekte unterstützen (vgl. Plath 2009, 38). Diese Erkenntnis reicht weit zurück: Zahlreiche Wirkungsmodelle verweisen auf die „sozialen, bildenden oder erkenntnisfördernden Potenziale von Theater“ (vgl. Sting 2017). Theaterpädagogik bietet die Möglichkeit, die ästhetischen, sozialen, Selbst- und Methodenkompetenzen der TeilnehmerInnen zu fördern. Aus der Erfahrung der Theaterarbeit mit inhaftierten Menschen werden im Folgenden die für diese Zielgruppe bedeutenden Wirkungen beleuchtet. Viele der jungen Menschen im Strafvollzug stammen aus sozioökonomisch belasteten und krisenhaft zugespitzten Familien- und Lebensverhältnissen und machten früh Marginalisierungserfahrungen (ausführlicher vgl. Witte/ Sander 2011, 8f ). Diese Klientel zeigt oftmals Anzeichen für ein geringes Selbstwertgefühl und einen gewissen Fatalismus gegenüber den Möglichkeiten, das Leben selbst zu bestimmen (vgl. Galuske/ Böhle 2009, 131). Partizipation im künstlerischen Prozess lässt sie ihre Selbstbestimmtheit sowie ihr Selbstwertgefühl und das Vertrauen gegenüber anderen Menschen wiederfinden bzw. aufbauen (vgl. Idoko 2004, 179ff ). Die intensive und repetitive Probenarbeit in der Gruppe hat Einfluss auf die Zufriedenheit der TeilnehmerInnen, deren Interesse für Kultur, deren gesellschaftliche Verantwortungsbereitschaft und soziales Engagement, auf ihre Selbstkenntnis und ihre Offenheit und Aufgeschlossenheit (vgl. Wirkungsforschung Domkowsky 2011, 392, 414f, 465, 468). Theater verleiht den Eindrücken, die auf jeden Menschen einwirken, Ausdruck (vgl. Strasberg 1987). Es wird verkörpert, was die TeilnehmerInnen beschäftigt. Im Dialog und in der Interaktion mit anderen werden Gedanken und Emotionen geteilt und ausgetauscht. So wird ein möglicher individueller ‚Gedankenstau‘, der zu Frustration, Isolation oder Gewalt führen kann, verhindert. Die heilenden und therapeutischen Kräfte des Theaters auf Körper und Psyche sind erwiesen und werden in den unterschiedlichsten Bereichen beobachtet (dazu Triebenecker 2018). Durch die vielfältigen Methoden und Übungen der Theaterpädagogik erhalten die TeilnehmerInnen eine Plattform, innerhalb welcher sie zur Selbst- und Fremdreflexion und zu einem Perspektivwechsel angeregt werden. Somit kann die Persönlichkeitsentwicklung und -stabilisierung der TeilnehmerInnen unterstützt werden (vgl. Plath 2009, 38). Theaterpädagogik im Strafvollzug kann bewirken, dass die jungen Menschen neue Einsichten gewinnen, neue Verhaltensformen erproben und durch das Spiel und sinnstiftende Herausforderung temporär Glück, Würde oder schlichtweg Normalität wiedererlangen, die durch Wiederholung auch von Dauer sein können (vgl. Csikszentmihalyi 2017; Hüther/ Quarch 2018). Von den TheaterpädagogInnen werden sie als Menschen mit einer komplexen Vergangenheit, jedoch nicht als Straftäter wahrgenommen. Durch den Vollzugsalltag, die Abnahme der privaten Gegenstände, das permanente Überwachtsein und die regelmäßigen Kontrollen werden die IdentitätunddieWürdederinhaftiertenMenschen stark beeinträchtigt. Theaterspielen hat daher im vollzuglichen Setting große Bedeutung, denn inhaftierte TeilnehmerInnen melden zurück, dass sie sich für die Zeit der Proben „frei fühlen“ und „die Gitter vergessen“. Im Spiel werden ihre Gedankengänge für kurze Augenblicke von jeglichen Zwängen befreit (vgl. Hüther/ Quarch 2018, 21ff ), gleichzeitig regen gegebene oder selbstgesuchte Spielsituationen zum Nachdenken an. Letztlich bilden die TeilnehmerInnen durch das Theaterspielen Bewältigungsstrategien für die Zeit im Strafvollzug aus. Des Weiteren entwickeln sie Schlüsselkompetenzen zur (Re)Integration in Beruf und Gesellschaft und allgemeine Strategien zur Lebensbewältigung (vgl. Plath 2009, 38). Damit unterstützt Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug die Verwirklichung des Vollzugsziels (§ 2 JStVollzG NRW) und ist Teil der erzieherischen Grundsätze der Vollzugsgestaltung (§ 3 Abs. 1 JStVollzG NRW). 222 uj 5 | 2020 Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug Theaterspielen hat zudem Wirkungen, die nicht messbar sind (vgl. Leonhardt 2017, 183). Existenzielle Erfahrungen, wie Lob zu erhalten, ein Vorhaben zu Ende zu bringen und neue Gefühle zu erleben, können Emotionen in Menschen hervorrufen und diese „tief affektieren“, so Wißner (2018, 489). Gesellschaftliche Funktion Theaterprojekte im Jugendstrafvollzug haben neben dem individuellen Nutzen für die TeilnehmerInnen eine wichtige gesellschaftliche Funktion (vgl. Wißner 2018, 484). Theaterpädagogik fungiert als Brückenbauer und Türöffner, sie kann helfen, Vorurteile abzubauen und Begegnung zu ermöglichen. Sie ist, durch die Präsentation vor Publikum von „draußen“, Öffentlichkeitsarbeit für die Belange dieser jungen Menschen. Bei der Theaterpädagogik in sozialen Kontexten geht es daher immer um die Pflicht, Fürsprecher für marginalisierte Menschen zu sein bzw. ihnen eine Stimme zu geben (vgl. „Theater der Unterdrückten“ Boal 1979). Der Dialog zwischen innen und außen, zwischen Vollzug und Gesellschaft muss immer wieder angeregt werden. Darüber hinaus können Theaterprojekte im Strafvollzug dazu beitragen, die lokale und überregionale kulturelle Identität eines Ortes zu stärken. Nicht zu vergessen ist, bei bestmöglicher Wirkung der positiven Effekte, die monetäre Entlastung der Länder- und Staatskassen durch frühzeitige, dauerhafte Resozialisierung der inhaftierten Menschen (ausführlicher vgl. Leonhardt 2017; Wißner 2018). Anforderungen an TheaterpädagogInnen im Jugendstrafvollzug Damit Theaterpädagogik im Strafvollzug gelingen kann, braucht es in erster Linie überzeugte, erfahrene, vielschichtig interessierte und qualifizierte TheaterpädagogInnen, die mit Leidenschaft, großem Herz und Know-how für ihre Arbeit einstehen. TheaterpädagogInnen sind in erster Linie KünstlerInnen; die Arbeit im Jugendstrafvollzug erfordert darüber hinaus ein hohes Maß an Empathie, Toleranz, Flexibilität, Kompromiss-, Improvisations- und Motivationsfähigkeit. Zu den allgemein empfohlenen Kompetenzen für TheaterpädagogInnen gehören (Sting 1997, 28): 1. Künstlerische Kompetenz: Spielpraxis, Inszenierungsgeschick, dramaturgische und ästhetische Sensibilität sowie Grundkenntnisse Theatertechnik 2. Vermittlungskompetenz: die pädagogisch-didaktischen Fähigkeiten und Kenntnisse, angemessene Spielsituationen und -aufgaben zu entwickeln, anzuleiten und in motivierender, dialogischer Weise Interaktion und Spiellust zu wecken 3. Theorie- und Reflexionskompetenz: die Fähigkeit zur Einbindung von Theoriekenntnissen und die permanente kritische Analyse, Reflexion und Verbesserung der Praxis 4. Organisationskompetenz: das strukturellplanerische Vorgehen, wie Rahmenbedingungen und Spielräume für die Praxis - das Vorkünstlerische und Vorpädagogische - geschaffen werden, inklusive Öffentlichkeitsarbeit Ergänzend zu Sting (1997) merken die Verfasserinnen für die Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug Folgendes an: Unentbehrlich ist eine gefestigte und lebenserfahrene Persönlichkeit mit einer interkulturellen Kommunikationskompetenz. Bezüglich der Straftaten der TeilnehmerInnen ist ein hohes Maß an Zurückhaltung erforderlich. Es ist empfehlenswert, sich vorab kein Bild aus den Akten der TeilnehmerInnen zu machen. Dieses Nichtwissen ermöglicht eine gewisse Unvoreingenommenheit und eine neutrale Perspektive auf die Menschen, die einem begegnen, und evoziert Möglichkeiten eines freien Arbeitens (vgl. McAvinchey 2011, 66f ). Entscheidend ist, im Sinne einer ausgeprägten Frustrationstoleranz, mit Enthusiasmus das Chaos und die Konflikte, die durch das kreative Tun entstehen, aushalten, zulassen und nutzen zu können. 223 uj 5 | 2020 Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug Rahmenbedingungen Zur Organisation eines solchen Projektes zählen die Auswahl der TheaterpädagogInnen, die Klärung der Projektfinanzierung und die Bereitstellung geeigneter (Zeit-)Räume. Zu Beginn erfolgt die Genehmigung der einzubringenden Materialien (Requisiten, technisches Equipment). Als ein Vorteil ist zu betrachten, dass TheaterpädagogInnen im Strafvollzug als Externe kein Bestandteil des eigentlichen Systems sind. Diese Zwischenstellung verstärkt o. g. neutrale Position und ermöglicht eine offene sowie vorbehaltlose Begegnung mit allen Beteiligten. Es ist elementar, auch um die Position als MediatorIn vertreten zu können, sich mit den Strukturen, Regularien und zeitlichen Vorgaben der jeweiligen Justizvollzugsanstalt (JVA) vertraut zu machen und flexibel auf (vollzugsbedingte) Veränderungen (z. B. die Variabilität der Teilnehmerzahl bedingt durch Entlassungen, Verlegungen) zu reagieren. Für Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug sind vollzugliche AnsprechpartnerInnen wichtig, die den TheaterpädagogInnen positiv gegenüberstehen und sie dabei unterstützen, MitspielerInnen anzusprechen. Zudem sollte ein möglichst störungsfreier Raum zur Verfügung gestellt werden, der nur den Mitgliedern der Theatergruppe vorbehalten ist, damit die TeilnehmerInnen sich öffnen können. HelferInnen im Projekt sollten unbedingt die Haltung der TheaterpädagogInnen kennen und diese mittragen. Nur auf diese Weise kann die „Theatergruppe“ dauerhaft das für eine Aufführung unabdingbare Ensemblegefühl entwickeln. Differenzierung In Hinblick auf die Theaterpädagik im Jugendstrafvollzug ergeben sich verschiedene Modelle, die entweder als Bausteine oder als parallel laufende Projekte realisiert werden können. Grundsätzlich sind folgende Differenzierungsmöglichkeiten denkbar: nach Zielgruppe der TeilnehmerInnen (Inhaftierte, Personal, Externe), nach Grad der Partizipation der TeilnehmerInnen (aktiv als Schauspieler- oder sogar ProduzentInnen), nach Zuschauerzielgruppen, nach Spielorten, nach Inhalten und nach Dauer (Schnupperkurse, langfristige Projekte). Spannungsfelder Zwischen Kunst und Pädagogik Die Tätigkeit als TheaterpädagogInnen in einer pädagogischen Institution kann unterschiedliche Schwerpunkte haben und sich zwischen einer reinen Prozessorientierung (mit dem Fokus auf pädagogische oder therapeutische Effekte) und einer rein künstlerischen, ergebnisorientierten Arbeitsweise bewegen. Empfehlenswert ist es, die inhaftierten Menschen primär als TeilnehmerInnen eines Kunstprojektes wahrzunehmen. Die bereits beschriebenen Wirkungen entstehen als Nebenprodukt des primär künstlerischen Prozesses (vgl. Plath 2009, 38). Zwischen Zwang und Freiwilligkeit Das grundlegende Kennzeichen des Jugendstrafvollzugs als Zwangskontext steht dem Credo der vermeintlichen Freiwilligkeit der Theaterpädagogik scheinbar konträr gegenüber. An einem Ort, der ohnehin von Zwängen und Pflichten geprägt ist, gilt es zu diskutieren, ob die Theaterpädagogik als verpflichtende Maßnahme auferlegt werden sollte. Damit die Wirkungskraft sich entfalten kann, bedarf es einer gewissen Grundbereitschaft der TeilnehmerInnen. Manche TeilnehmerInnen mögen intrinsisch motiviert sein und sich sofort für ein Theaterprojekt melden, andere wiederum gilt es von der erfüllenden und lohnenden Auseinandersetzung mit der darstellenden Kunst zu überzeugen. Die Erfahrung und Gespräche in Feedbackrunden mit inhaftierten TeilnehmerInnen zeigen, dass durch enthusiastische Überzeugungsarbeit seitens der OrganisatorInnen eine hohe Teilnahmemotivation erreicht wird. 224 uj 5 | 2020 Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug Zwischen Flexibilität und vollzuglicher Struktur Die Theaterpädagogik prägende Individualität, Spontanität und Flexibilität sind auf den ersten Blick nicht mit der dem Vollzugsalltag inhärenten Struktur zu vereinbaren. Die Planung und Durchführung von Theaterpädagogik ist im Strafvollzug, sicherlich mehr als in anderen sozialen Kontexten, von systemimmanenten Vorschriften (z. B. die Auswahl und Zuführung der TeilnehmerInnen), Organisations- und Kontrollaufwand und Zeitvorgaben (z. B. beschränkte Probezeiten) beeinflusst. Doch Theater braucht ohnehin beides: Struktur und kreatives Chaos (vgl. Leonhardt 2017, 24). Geschulte und erfahrene TheaterpädagogInnen geben innerhalb der Proben Raum für Freiheit, Spontanität, Flexibilität, Neugier, Offenheit und Fantasie, zeigen aber auch den Weg für die Dramaturgie (Ordnung/ Struktur) einer Inszenierung auf. Deshalb spielt für die Theaterpädagogik der Ort keine Rolle. Zusammenfassung und Ausblick In anderen sozialen Feldern wird die Theaterpädagogik aufgrund ihrer Multifunktionalität, Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität schon lange wertgeschätzt. Theaterpädagogik ist ganzheitliche Bildung, bedeutet Lernen über alle Kanäle, fördert ästhetische und soziale sowie Selbst- und Methodenkompetenzen sowie Crossover-Denken. Zudem gibt die Theaterpädagogik den inhaftierten Menschen eine Stimme und die Möglichkeit, gehört zu werden (vgl. Sandberger 2004, 242). Diese Aspekte sind nicht nur für die Soziale Arbeit im Strafvollzug von Bedeutung, sondern für sämtliche AkteurInnen der Jugendstrafrechtspflege. Auch wenn Theater auf den ersten Blick vergänglich ist, da es seinen Höhepunkt mit der Momentaufnahme „Aufführung“ real als Faktum beendet, so lebt der künstlerische Weg doch in den Köpfen der involvierten Menschen nachhaltig weiter. Das affektive Gedächtnis ist in der Lage, die „erlebten“ Schlüsselmomente wieder in Erinnerung zu rufen. Dies stellte schon der Vorreiter aller Theaterschaffenden, Konstantin Stanislawski, fest: „Theater ist aus Schnee gemacht. Er schmilzt, wenn die Sonne aufgeht und hinterlässt keine Spuren, keine sichtbaren Spuren. Und doch tränkt er den Boden, auf dem Neues erwächst“ (zit. nach Falkenhahn 2013, III). Wir sind davon überzeugt, dass Theaterpädagogik als festes Element der vollzuglichen Freizeit- und Bildungsangebote, als Ergänzung zu den bestehenden (kulturellen) Angeboten, in den Strafvollzug gehört. Und zwar nicht als Luxus, sondern als absolute Notwendigkeit. Damit würde Deutschland zu anderen Ländern (v. a. USA, Großbritannien) aufschließen, in denen die vollzugliche Theaterpädagogik über vereinzelte Projekte hinausgeht und ein etabliertes Resozialisierungsprogramm darstellt (vgl. Wißner 2018, 487). Dafür sollte im Jugendstrafvollzug die interdisziplinäre Kooperation mit Einrichtungen der Jugendkulturarbeit (siehe § 60 Abs. 4 JStVollzG NRW) und weiteren Künsten verankert und finanziell abgesichert sein. Die im Beitrag dargestellten Wirkungen auf Individuum, JVA und Gesellschaft bieten genügend Argumentations- und Legitimationshilfen für die Etablierung von Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug. Gerade hinter den Mauern des Jugendstrafvollzugs gilt: „Theater muss sein“ (Deutscher Bühnenverein). Sarah E. Fehrmann JVA Heinsberg E-Mail: sarah.fehrmann@jva-heinsberg.nrw.de Katrin Schneckenburger - das theaterlabor - E-Mail: schneckenburger_gefangenentheater@ freenet.de Sylvia Seminara Universität Konstanz E-Mail: seminara_gefangenentheater@freenet.de 225 uj 5 | 2020 Theaterpädagogik im Jugendstrafvollzug Literatur Boal, A. (1979): Theater der Unterdrückten. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Boal, A. (2006): Der Regenbogen der Wünsche. Methoden aus Theater und Therapie. Schibri, Berlin u. a. Csikszentmihalyi, M. (2017): Flow. Das Geheimnis des Glücks. 3. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Das theaterpädagogische Manifest 2020. In: https: / / www.butinfo.de/ sites/ default/ files/ downloads/ mani fest_2020_0.pdf, 2. 2. 2020 Deu, A. L. (2008): Gefängnistheater. Theater zwischen Freizeitbeschäftigung, Kunstprojekt, Persönlichkeitsförderung und Resozialisierung. 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