eJournals unsere jugend 72/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art39d
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2020
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Sexueller Missbrauch an Kindern in Familien

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Claudia Fliß
Wie kann sexueller Missbrauch an Kindern erkannt werden? Wie kann Hilfe für Kinder aussehen und können sie nachhaltig geschützt werden, und wenn ja, was ist zu beachten? Welche Besonderheiten sind zu berücksichtigen, wenn Kinder in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen leben müssen? Warum sind Strafanzeigen immer noch derart problematisch?
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242 unsere jugend, 72. Jg., S. 242 - 249 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art39d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Sexueller Missbrauch an Kindern in Familien Betroffenenperspektive, Täterwelten, Therapiekonzepte und Empfehlungen Wie kann sexueller Missbrauch an Kindern erkannt werden? Wie kann Hilfe für Kinder aussehen und können sie nachhaltig geschützt werden, und wenn ja, was ist zu beachten? Welche Besonderheiten sind zu berücksichtigen, wenn Kinder in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen leben müssen? Warum sind Strafanzeigen immer noch derart problematisch? von Claudia Maria Fliß Jg. 1955; Diplom- Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Dozentin, Supervisorin und Selbsterfahrungsleiterin in der Ausbildung Psychologischer (Kinder- und Jugendlichen) PsychotherapeutInnen Sexueller Missbrauch, Definition, Prävalenzen und Folgen Sexuelle Gewalt an Kindern wurde im Zusammenhang der Frauenbewegung in den 80er Jahren zunehmend benannt und in die Öffentlichkeit gebracht. Beratungsstellen wurden eingerichtet, und auch in Jugendämtern, Familienministerien sowie Familiengerichten erwachte Interesse an Informationen und Fortbildungen. Erst mit dem runden Tisch zum Thema sexuellen Missbrauches hielt das Thema Einzug in das Bewusstsein der Politik. Dr. Christine Bergmann wurde zur ersten Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Sie richtete eine telefonische Hotline ein, bei der sich Betroffene anonym melden konnten, und stellte die Ergebnisse in ihrem Bericht 2011 dar (Bergmann 2011). Seit dem Jahre 2011 hat Wilhelm Rörig diese Funktion übernommen. Auf der entsprechenden Seite im Internet (im Folgenden wird auf diese Quelle jeweils mit „UBSKM online“ hingewiesen) sind zahlreiche Informationen zu den verschiedensten Aspekten sexueller Gewalt gegen Kinder zu finden, so auch folgende Definition: „Sexueller Missbrauch oder sexuelle Gewalt an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor Mädchen und Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können. Der Täter oder die Täterin nutzt dabei seine/ ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen. […] Sie sind immer als sexuelle Gewalt zu werten, selbst wenn ein Kind damit einverstanden wäre.“ Weiter wird ausgeführt, dass sexuelle Gewalt bei sexuellen Übergriffen wie verbaler Belästigung, voyeuristischem Taxieren des kindlichen Körpers, aber auch flüchtigen Berührungen des Genitalbereichs oder der Brust 243 uj 6 | 2020 Sexueller Missbrauch in Familien über der Kleidung beginnt. Um strafbaren Missbrauch handelt es sich, wenn sexuelle Handlungen am Körper des Kindes stattfinden oder der Erwachsene bzw. Jugendliche sich entsprechend anfassen lässt, wenn jemand vor einem Kind masturbiert, sich exhibitioniert, dem Kind gezielt pornografische Darstellungen zeigt oder es zu sexuellen Handlungen an sich selbst - beispielsweise auch vor der Webcam - auffordert. Für das Jahr 2017 finden sich auf der Homepage des UBSKM folgende Häufigkeiten (basierend auf der Polizeilichen Kriminalstatistik), die seit 2010 nahezu gleich geblieben sind: ➤ 11.547 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch ➤ 990 Fälle von Missbrauch an Jugendlichen ➤ 403 Fälle von Missbrauch an minderjährigen Schutzbefohlenen ➤ 6.512 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung sogenannter Kinderpornografie und ➤ 1.306 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung sogenannter Jugendpornografie. Da nur ein kleiner Teil der Taten angezeigt wird, ist davon auszugehen, dass viele Taten statistisch nicht erfasst werden und im Dunkelfeld bleiben. Sexueller Missbrauch findet vor allem im nahen sozialen Umfeld der Kinder und Jugendlichen statt. Dazu gehören der Freundes- und Bekanntenkreis der Familie, die Nachbarschaft, die Verwandtschaft sowie die Familie selbst. Sexuelle Gewalterfahrungen schädigen betroffene Kinder tiefgehend. Ihre Entwicklung wird davon grundlegend gestört, und eine natürliche Entwicklung in der Beziehung zu anderen Menschen und in der Sexualität wird nachhaltig beeinträchtigt. Sexueller Missbrauch an Kindern kann einmalig, aber auch über Jahre hinweg stattfinden. Wenn Kinder in Zusammenhängen leben, in denen sie nicht erwarten können, dass ihnen geglaubt und geholfen wird, müssen sie in der Regel allein mit dem Erleben und mit den eigenen Reaktionen darauf zurechtkommen. Den größten Schaden im Kind und späteren Erwachsenen richtet in der Regel die fehlende Hilfe an, Kinder müssen allein mit ihren Belastungen zurechtkommen und erleben eine tiefe innere Einsamkeit. Sie können Menschen nicht mehr vertrauen, Misstrauen gegen jeden Menschen gräbt sich tief in ihr Denken, Handeln und Fühlen ein. So wenden sie sich in der Regel auch in späteren Jahren kaum oder gar nicht an Menschen, nicht an Jugendämter oder andere Hilfsangebote, sondern bleiben zurückgezogen in ihrer eigenen Situation Tätern weiter ausgeliefert. In der Beratung, Begleitung und Psychotherapie begegnen wir schwerwiegenden und oft komplexen Folgestörungen wie Depressionen, Angststörungen, psychosomatischen Störungen, Essstörungen, verschiedensten Substanzabhängigkeiten, weiteren nicht substanzgebundenen Suchtstörungen (Spiel-, Sex-, Kaufsucht usw.), Selbstverletzung, Bindungs- und Beziehungsstörungen (Persönlichkeitsstörungen), Traumafolgestörungen in Form Posttraumatischer Belastungsstörungen, dissoziativer Störungen bis hin zu Dissoziativen Identitätsstörungen. Betroffene leiden außerdem unter massiven Schuld- und Schamgefühlen. Scham wird allein durch das Überschreiten und Beschädigen sämtlicher Grenzen, körperlicher, emotionaler und sexueller Grenzen des Kindes ausgelöst. Schuld empfinden Kinder spätestens nach sexuellen Missbrauchserfahrungen. Sie konnten nicht wissen, was passiert, insbesondere wenn die eigene Entwicklung ein Zuordnen der erwachsenen sexuellen Handlungen noch nicht ermöglicht hat. Sie fühlen sich aber unwohl, komisch, mögen diese Situation nicht und fühlen sich schuldig, dass sie sie überhaupt erlebt haben, unabhängig davon, ob sie tatsächlich eigenständig die Situation hätten beenden können oder nicht. 244 uj 6 | 2020 Sexueller Missbrauch in Familien Symptome, die auf sexuellen Missbrauch als deren Hintergrund hinweisen, können verschieden und vielschichtig sein. Auf der Seite des Unabhängigen Beauftragten werden Auffälligkeiten und Reaktionsweisen im Verhalten von Kindern benannt, die sich bei fehlender Hilfestellung zu den oben genannten Störungen ausweiten können: Ängstlichkeit, Aggressivität, Konzentrationsprobleme, selbstverletzendes Verhalten, Alkohol- und Drogenkonsum, Schmerzen ohne organischen Befund, Schlafstörungen, Hauterkrankungen, Abmagerung, Schuld- und Schamgefühle, Selbstablehnung. Ich möchte weitere Symptome ergänzen, die zum Teil entsprechend den späteren Störungsbildern ebenfalls auftreten können: plötzliche Gewichtszunahme, Einnässen und Einkoten, Weglaufen, sexuell auffälliges Verhalten gegenüber Kindern und/ oder Erwachsenen, schlechte bis fehlende Körperwahrnehmung, erhöhte Schmerzgrenze, Diebstähle, Alpträume und vieles andere mehr. Keins der Symptome wird als zuverlässig angesehen, jedes sollte aber darauf aufmerksam machen, dass ein Kind Probleme hat, welcher Art auch immer, und dass es Hilfe benötigt. Sexueller Missbrauch als möglicher Hintergrund sollte weder präferiert noch ausgeschlossen werden. Täterwelten Täter, die Kinder sexuell missbrauchen, wissen, was sie tun, dass es Unrecht ist und bei den Kindern enormen und langfristigen Schaden anrichtet. Sie setzen ihre eigenen Interessen nach Macht und Erfüllung eigener sexueller, manchmal zusätzlich auch emotionaler Bedürfnisse über das Wohl der Kinder, deren Abhängigkeit und Unwissen sie ausnutzen. Es sind nicht immer Pädophile, die Kinder sexuell missbrauchen, deren eigene sexuelle Prägung auf kindliche Körper ausgerichtet ist. Täter haben oft normale sexuelle Beziehungen zu anderen Erwachsenen, sind Familienväter, gute Nachbarn, Verwandte, Bekannte und Freunde der Familie. Täter finden sich in allen Gesellschaftsschichten und Zusammenhängen, so auch in der Schule oder in Freizeitsituationen der Kinder in Sportvereinen, in kirchlichen Zusammenhängen, beim Musik- oder Malunterricht usw. Auf der Homepage des UBSKM heißt es: „Sexueller Missbrauch findet in etwa 80 bis 90 Prozent der Fälle durch Männer und männliche Jugendliche statt, zu etwa 10 bis 20 Prozent durch Frauen und weibliche Jugendliche. […] Je näher der Täter oder die Täterin dem Kind oder Jugendlichen steht, umso schwerer ist es für die Betroffenen, sich aus den Macht- und Abhängigkeitsstrukturen zu lösen und sich Hilfe zu holen.“ Wegen der überwiegend männlichen Täter bleibe ich in diesem Beitrag bei der männlichen Schreibform. Sexueller Missbrauch findet sich aber nicht nur in familiären Strukturen, sondern auch darüber hinaus. Es gibt Familien, die ihre Kinder über sexuellen Missbrauch gezielt sexualisieren und anderen Bekannten, Freunden und auch Fremden anbieten. Kunden zahlen für pornografische Bilder von Kindern und für bezahlte sexuelle Gewalt an Kindern viel Geld. Ohne Schutz durch die Familie und das soziale Umfeld sind Kinder solchen organisierten Tätern schutzlos ausgeliefert, insbesondere, wenn es die eigene Familie ist. Emotional desolat aufwachsende Kinder können ohne Wissen der Familie von Nachbarn oder anderen Personen aus dem sozialen Nahfeld aufgegriffen, mit Zuwendung und Geschenken geködert und an andere Personen weitergereicht und verkauft werden. Ohne den Schutz der eigenen Familie oder anderer helfender Personen sind Kinder auch solchen Zusammenhängen hilflos ausgeliefert. Kinderprostitution erfordert in Täterwelten eine gut funktionierende und unauffällige Organisation, um den Strafbehörden zu entgehen. So berichten erwachsene Betroffene, die bereits als Kinder solchen Tätern ausgesetzt waren, 245 uj 6 | 2020 Sexueller Missbrauch in Familien von weitreichenden bis internationalen Kooperationen unter Tätergruppen in allen Bereichen, die aus der organisierten Gewalt bekannt sind. Kinder werden von klein an gezielt sexuell missbraucht, gezielt sexuell für die verschiedensten Kundenwünsche abgerichtet (Schramm 2010, 2018) und im Rahmen einer gut funktionierenden Organisation an gut zahlende Kunden verkauft. Solche Methoden werden von einer Aussteigerin detailliert berichtet (Katz 2014). Organisierte Gewaltstrukturen setzen Methoden aus der Mind-Control ein, die von Folter bis hin zu erzwungenen eigenen Gewalttaten reichen können. Betroffene berichten dies vor dem Hintergrund teilweise Generationen übergreifender familiärer Strukturen, die in organisierte, teilweise auch rituelle Gewalt eingebunden sind. Täter, die dies umsetzen, sind skrupel- und gewissenlos, nur an Macht und Geld interessiert, sie wirken aus Berichten Betroffener wie das personifizierte Böse, zu dem jeder Mensch fähig sein kann, gegen das sich aber auch jeder Mensch bewusst entscheiden kann. Sie halten ihre Opfer abhängig und setzen Kinder mit Schweigegeboten unter Druck, über Drohungen sowie die Ansage, dass niemand den Opfern glaube. Schuld- und Schamgefühle werden gezielt induziert und sorgen außerdem dafür, dass Opfer in ihrem Schweigen verharren. Je massiver die erlebte Gewalt ist, desto eher bewahrheiten sich die Ansagen der Täter, dass den Opfern niemand glaubt, weil die Gewalttaten und Vorgehensweisen der Täter „Jenseits des Vorstellbaren“ (so der Titel des Buches von Miller 2014) liegen. Therapiekonzepte Grundlage einer erfolgversprechenden Therapie ist die therapeutische Beziehung, die inzwischen als höchster Wirkfaktor anerkannt ist (Wampold/ Imel 2015). Das vor dem Hintergrund seiner Entstehung verständliche Misstrauen sexuell missbrauchter Kinder wirkt sich auch auf den therapeutischen Kontakt aus. Für das Gelingen einer Therapie ist eine ausreichend vertrauensgeprägte therapeutische Beziehung notwendig. Es kann lange dauern, bis Kinder es erneut wagen, Vertrauen zu investieren. Leichter wird es, wenn das Kind bereits vorher deutlich spürbar Hilfe erfahren hat. Eine gute Beziehungs- und Bindungserfahrung mit Bezugspersonen als Grundlage des kindlichen Lebens, die die Erfüllung aller wesentlicher Grundbedürfnisse, unter anderem nach Schutz, beinhaltet, ermöglicht dem Kind eher, sich wieder einem anderen Menschen anzuvertrauen, auch wenn ein Täter sein Vertrauen missbraucht hat. Menschen mit Gewalterfahrungen und sicherlich darunter insbesondere Kinder brauchen einen freien Raum, um keine Angst vor weiteren Verletzungen ihrer Grenzen haben zu müssen. Dies gilt auch für das therapeutische Setting. Gleichzeitig benötigen sie aber auch unser waches Interesse und die Sicherheit, alles aussprechen zu können und zu dürfen, was sie belastet. Kinder können sich über Bilder und Spiel oft besser ausdrücken als über Worte, insbesondere kleine Kinder, die für den erlebten sexuellen Missbrauch noch keine adäquaten Worte haben. Manche Kinder können in ihrer altersentsprechenden Sprache aber durchaus beschreiben, was ihnen widerfahren ist. Ein wesentliches Ziel einer Therapie ist das bewusste kognitive und emotionale Erleben, dass „es vorbei ist“. Grundlegend wichtig dafür ist das Beenden von sexuellen Gewalterfahrungen an Kindern. Bei einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch an einem Kind kann dieses aber weiterhin dem Täter/ den Tätern ausgeliefert sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass es trotz der oben genannten Angst vor den Drohungen und seiner Schuld- und Schamgefühle über den sexuellen Missbrauch spricht, sinkt mit der Wahrscheinlichkeit, mit der ein Kind neben einer Therapie dem Täter weiterhin ausgeliefert ist. 246 uj 6 | 2020 Sexueller Missbrauch in Familien Es finden sich Therapiekonzepte, die den Kindern alle Freiheit und ihre eigene Zeit für eine mögliche Schilderung ihrer Erfahrungen bieten wollen und den sexuellen Missbrauch als Thema weitgehend ausschließen. Meine therapeutische Erfahrung zeigt aber, dass die spürbare Offenheit und Bereitschaft, zuzuhören und zu glauben und dem Kind damit Mut zu machen, ebenso wichtig ist. Es geht nicht darum, dem Kind etwas zu „induzieren“, was von der Aussagepsychologie als häufiges Argument gegen Therapien verwendet wird, sodass jegliche therapeutische Intervention sofort Gefahr läuft, in Strafprozessen gegen Täter als Suggestion interpretiert zu werden. Es geht darum, dem Kind einen Raum zu geben, in dem es über seine Belastungen sprechen und sie verarbeiten kann, wie dies bei allen anderen Schädigungen von Kindern problemlos möglich ist. In aussagepsychologischen Begutachtungen der Glaubhaftigkeit der Aussage von Kindern kann es zu schweren Vorwürfen gegen TherapeutInnen und BeraterInnen und andere Menschen aus dem sozialen Hilfesystem kommen. Eine Verurteilung des Täters ist dann so gut wie unmöglich und ein Kind kann möglicherweise nicht geschützt werden. Diese Vorgehensweise der Aussagepsychologie ist als sehr kritisch einzustufen. Für die therapeutische und auch jegliche andere Arbeit mit sexuell missbrauchten Kindern müssen diese Kriterien der Aussagepsychologie dennoch beachtet werden, wenn es um eine Anzeige gegen den Täter gehen könnte - um keinen zusätzlichen Schaden am Kind anzurichten. Denn wenn eine Verurteilung eines Täters durch einen Suggestionsvorwurf gegen helfende Instanzen verhindert wird, ist dem Kind nicht geholfen. Und unsere Gerichte halten sich an die Ergebnisse aussagepsychologischer Begutachtung, jedenfalls in der Regel. Dieses Risiko zu beachten, bedeutet in der Arbeit mit Kindern: keine direkten Fragen nach einem möglichen sexuellen Missbrauch, sondern allenfalls offene Fragen zu stellen, wenn das Kind von sich aus nichts berichten kann. Es erscheint mir sehr wohl möglich, einem Kind über allgemeine Fragen, wie es ihm geht, was es an Gutem und Schwierigem erlebt und erlebt hat, eine ausreichende Offenheit für jegliche Schilderungen zu vermitteln. Kann ein Kind berichten, was ihm widerfahren ist, kann dies eine erste Entlastung bedeuten. Des Weiteren muss an den Folgestörungen gezielt gearbeitet werden, je nachdem, welche Störungen sich entwickelt haben. In der Regel dienen die meisten Folgestörungen einer kurzfristigen kognitiven, emotionalen und körperlichen Entlastung der körperlichen und emotionalen Anspannungen, die durch den sexuellen Missbrauch entstanden sind. Ein Kind, das nicht mehr isst, um nicht mehr zur Ruhe zu kommen, um wachsam zu bleiben und sich stark zu fühlen über die Überaktivität des Sympathicus im Nervensystem, benötigt Hilfe beim Essen. Ein Kind, das sich selbst verletzt, braucht Unterstützung bei der Wahrnehmung seines Körpers, den es nicht verletzen sollte, nachdem ein Täter ihm genug angetan hat. Ein depressives Kind benötigt Ermutigung, wieder aktiv zu werden, aus sich heraus zu kommen, Gefühle wieder wahrzunehmen und auszudrücken, seine Bedürfnisse wieder (manchmal auch erstmals in seinem Leben) zu äußern. Für Angststörungen von Kindern, die sich nach sexuellem Missbrauch entwickeln können, liegen zahlreiche Behandlungskonzepte vor. Generell sind Folgeerscheinungen und Folgestörungen ein hilfloser Versuch von Kindern, weitere sexuelle Übergriffe zu verhindern (z. B. wach bleiben in der Nacht) und/ oder mit den Folgen einen möglichen Umgang zu finden. Kinder benötigen Lernprozesse, diese schädlichen Reaktionsmuster abzubauen und hilfreiche Methoden zu lernen, mit den Belastungen umzugehen. Dafür eignen sich jegliche Thera- 247 uj 6 | 2020 Sexueller Missbrauch in Familien piekonzepte, die neben den üblichen Methoden und Techniken die besondere Belastung eines Kindes durch sexuellen Missbrauch berücksichtigen. Parallel zu Therapien ist oft eine Kooperation in Hilfenetzwerken erforderlich. Sexueller Missbrauch beinhaltet definitiv eine Kindeswohlgefährdung und der Schutz des Kindes ist erforderlich. Kooperationen zwischen TherapeutInnen, LehrerInnen, KindergärtnerInnen, MitarbeiterInnen des Jugendamtes, PolizistInnen, ÄrztInnen usw. können notwendig und hilfreich sein. Regelmäßiger Austausch innerhalb eines Hilfenetzwerkes erscheint sinnvoll. Therapiekonzepte für Kinder nach sexuellen Gewalterfahrungen in organisierten Täterringen sind mir bisher nicht bekannt (für erwachsene Betroffene Miller 2014 und Fliß/ Prins/ Schramm 2018). Es lassen sich aber wahrscheinlich alle ansonsten vorhandenen Therapiekonzepte aus dem Kinder- und Jugendlichenbereich auch für diese Kinder anwenden, sofern sie die Besonderheiten der massiven und in der Regel langandauernden sexuellen Gewalterfahrungen ausreichend berücksichtigen. Kinder aus solchen Kreisen reagieren (nach Berichten erwachsener Betroffener über die eigene Kindheit) gehäuft mit dissoziativen Reaktionen, die in der Kindheit aber noch nicht so manifest sind wie im späteren Erwachsenenalter. In der Regel leben diese Kinder in Familienstrukturen, die in die organisierte Gewalt eingebunden sind, sodass es besonders schwer ist, diese Kinder zu schützen. Ihre Angst, die massiven Schweigegebote, Schuld- und Schamgefühle hindern sie in der Regel nachhaltig, auch nur im Ansatz über ihre schädigenden Erfahrungen zu berichten. Dennoch macht es aus meiner Sicht und nach meiner Erfahrung Sinn, diesen Kindern eine Therapie anzubieten, sofern das Umfeld dies zulässt. Dies kann durchaus der Fall sein, wenn die Kinder wegen ihrer Folgestörungen in der Schule oder ansonsten nicht so funktional sind, wie sie es zum Schutz der Täter sein sollen. Therapien werden von solchen Täterkreisen durchaus zugelassen, sofern sie nur die Störungen reduzieren, ohne genauer nach den Ursachen zu schauen. Kinder machen auch in einer Therapie, in der sie über ihre massiven Gewalterfahrungen nicht zu berichten wagen, die Erfahrung, dass ihnen kein Schaden zugefügt wird und jemand für sie da ist, ihnen Offenheit und Interesse entgegenbringt, ohne ihnen etwas abzuverlangen. Erwachsene Betroffene berichten gelegentlich von solchen Vorerfahrungen mit Therapien, die ihnen ein positives Bild vermittelt haben, sodass es ihnen trotz aller Schwierigkeiten im Erwachsenenalter gelungen ist, erneut eine Therapie aufzusuchen, und nun auch von ihren Belastungen zu berichten. Empfehlungen Die wichtigste Empfehlung ist wohl: Ruhe bewahren Panischer Aktionismus macht eine zielführende Hilfe für Kinder eher unmöglich. Auch wenn es menschlich schwer auszuhalten ist: das Kind erlebt bei andauerndem sexuellem Missbrauch diese schädigenden Erfahrungen immer wieder, wir ahnten oder wussten es bisher nur noch nicht, und ein effektives Beenden ist wichtiger, als dass übereilter Aktionismus den Täter anhaltend schützt, indem er gewarnt wird und/ oder das Kind nicht mehr wagt, über seine Belastungen zu sprechen. Emotionale und soziale Beziehungen des Kindes zum mutmaßlichen Täter dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Ist der Vater oder Bruder der Täter, wird das Kind es schwer haben, seine eigenen engen Angehörigen zu beschuldigen. Wenn die Familie das Kind vor einem Täter nicht schützt, geht ein Kind das Risiko ein, von der Familie verstoßen zu werden, wenn es über den sexuellen Missbrauch spricht und damit Konsequenzen einhergehen. 248 uj 6 | 2020 Sexueller Missbrauch in Familien Spätestens im Jugendalter darf nicht über den Kopf eines Kindes hinweg entschieden und gehandelt werden. Jugendliche können nach Aussagen über sexuellen Missbrauch gut beraten und begleitet werden, müssen aber selbst mit genug Zeit die Entscheidung treffen dürfen, welchen Weg sie gehen wollen - gegebenenfalls aus der Familie, aus dem sozialen Nahfeld heraus in eine neue und unbekannte Betreuungssituation. Voreiliges Handeln kann zum umgekehrten Resultat führen, als es gedacht und geplant war: mehr Schutz für den Täter und noch weniger Schutz für das Opfer. Bei einer eigenen Unsicherheit über ein mögliches Vorgehen können inzwischen gute Angebote von qualifizierten Beratungsstellen und teilweise auch Jugendämtern angefragt werden, wo man sich anonym zu einem Verdacht oder einer Aussage eines Kindes und zum weiteren Vorgehen beraten lassen kann. Grundsätzlich gilt selbstverständlich: so schnell wie möglich den sexuellen Missbrauch beenden und dem Kind oder der Jugendlichen die nötigen Hilfen zukommen lassen in Form einer sicheren Lebenssituation und, wenn möglich und gewünscht, einer Therapie. Eine Strafanzeige gegen den Täter sollte gut abgewogen sein, weil aufgrund der damit verbundenen Belastungen für ein Kind, das in Strafprozessen als Zeuge und nicht als Opfer befragt wird, schwer einschätzbar ist, inwieweit es eine Chance auf eine Verurteilung eines Täters geben kann. Hinzu kommen meistens die Belastungen durch eine aussagepsychologische Begutachtung. Das Kind muss genaue Angaben zu Ort und Zeit jedes einzelnen Übergriffs machen, mehrfache Übergriffe müssen exakt voneinander unterscheidbar geschildert werden. Diesen Kriterien können Kinder oft nicht entsprechen, sodass ihre Aussagen nicht zu einer Verurteilung des Täters führen. Dabei ist es leider unerheblich, ob die Polizei, ein Gericht und auch eine/ r AussagepsychologIn selbst einem Kind grundsätzlich glaubt oder nicht. Die Kriterien aus dem BHG-Urteil von 1999 (Az.: 1 StR 618/ 98) haben es meiner Meinung nach den Tätern noch leichter gemacht, straffrei auszugehen. Aussagen von Kindern unter ca. 6 Jahren halten diesen Kriterien in der Regel nicht stand. Es ist also immer gut zu überlegen, ob ein Schutz eines Kindes nicht eher ohne eine Strafanzeige gewährleistet werden kann - auch wenn dies den Täter straffrei ausgehen lässt, was sicherlich nicht wünschenswert ist. Dennoch gilt: der Schutz des Kindes geht allem anderen voran. Und es bleibt die Hoffnung, dass das Kind wegen der verlängerten Verjährungsfrist in späteren Jahren einen Täter doch noch anzeigen kann mit mehr Aussichten auf dessen Verurteilung. Am leichtesten ist unser Wunsch nach Schutz für ein betroffenes Kind umzusetzen, wenn jemand in der Familie oder aus dem sonstigen direkten sozialen Nahfeld ein Kind nachhaltig vor dem Täter schützt. Auch eine helfende Person wird belastet und kann ggf. Hilfe und Unterstützung über eine Beratung oder Therapie auf diesem Weg brauchen. Generell ist bei einem Verdacht auf einen sexuellen Missbrauch an einem Kind oder bei einer Aussage eines betroffenen Kindes gute Netzwerkarbeit aller beteiligten Hilfesysteme empfehlenswert, wobei in regelmäßigen Konferenzen sorgsam besprochen werden sollte, was im jeweiligen Moment für das Kind hilfreich ist, wer bestimmte Aufgaben wann übernehmen kann, wann der nächste Austausch zu den jeweiligen Ergebnissen stattfinden sollte. Bei der Betrachtung so zahlreicher und verschiedenartiger zu berücksichtigender Aspekte wird vermutlich deutlich, dass ein sorgsames Vorgehen notwendig ist, um Kinder nachhaltig zu schützen und ihnen die Möglichkeit zur Verarbeitung ihrer Belastungen anzubieten. Allein Hilfe zu bekommen, Menschen zu finden, die ihm zuhören, ihm glauben und es schützen, ist eine wesentliche Erfahrung für ein betroffenes Kind. Es ist nicht mehr allein mit seiner Belastung, was die zuvor verursachte Hilflosigkeit 249 uj 6 | 2020 Sexueller Missbrauch in Familien und innere Vereinsamung bereits ein wenig reduzieren kann. Es erhält eine Chance, Menschen langsam wieder zu vertrauen und auf sie zuzugehen. Claudia Maria Fliß Kirchhuchtinger Landstr. 172 28259 Bremen Literatur Bergmann, Ch. (2011): Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, https: / / beauftragter-missbrauch. de/ fileadmin/ Content/ pdf/ Downloads/ Endbericht_ Auswertung_Anlaufstelle_Missbrauchsbeauftragte. pdf, 3. 1. 2020 Katz, S. (2014): Eine ausgestiegene Kabbala-Trainerin packt aus. In: Miller, A. Jenseits des Vorstellbaren. Asanger, Kröning, 141 - 176 Miller, A. (2014): Jenseits des Vorstellbaren. Asanger, Kröning Schramm, S. (2010): Systematische Kinder-Abrichtung in Deutschland. In: Fliß, C., Igney, C. (Hrsg). Handbuch Rituelle Gewalt. Asanger, Kröning, 141 - 152 Schramm, S. (2018): Weiterentwicklung der Menschenexperimente. In: Fliß, C., Prins, R., Schramm, S. (Hrsg). Befreiung des Selbst. Asanger, Kröning, 114 - 121 Wampold, B. E., Imel, Z. E., Flückiger, Ch. (2017): Die Psychotherapie-Debatte. Was Psychotherapie wirksam macht. Hogrefe, Bern a www.reinhardt-verlag.de Pädagogische Fachkräfte haben in ihrem Arbeitsalltagimmerwiedermit Kindernzutun, die sexuellen Missbrauch erfahren haben. Dieses Buch informiert praxisorientiert, wie PädagogInnen betroffenen Kindern im Alter von 3 Jahren bis ins Teenageralter professionell helfen, sie stabilisieren und bei der Verarbeitung des Erlebten unterstützen können. Es vermittelt nötiges Grundlagenwissen, stellt konkrete Methoden und Vorgehensweisen vor und gibt Anregungen zur Selbstreflexion. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder Anna Julia Wittmann Kinder mit sexuellen Missbrauchserfahrungen stabilisieren Handlungssicherheit für den pädagogischen Alltag 2015. 216 Seiten. 1 Abb. 3 Tab. (978-3-497-02527-5) kt