eJournals unsere jugend 72/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art40d
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2020
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Geschwister und sexueller Missbrauch

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2020
Susanne Witte
Geschwister sind ein wesentlicher Bestandteil der Alltagswelt vieler Kinder. Daher sind sie auch bei einem sexuellen Missbrauch eines Kindes mitbetroffen und sollten im Handeln von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe berücksichtigt werden. Möglicher Missbrauch mehrerer Kinder einer Familie, Dynamiken zwischen den Geschwistern und Hilfsmöglichkeiten müssen geklärt werden.
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250 unsere jugend, 72. Jg., S. 250 - 256 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art40d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Geschwister und sexueller Missbrauch Geschwister sind ein wesentlicher Bestandteil der Alltagswelt vieler Kinder. Daher sind sie auch bei einem sexuellen Missbrauch eines Kindes mitbetroffen und sollten im Handeln von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe berücksichtigt werden. Möglicher Missbrauch mehrerer Kinder einer Familie, Dynamiken zwischen den Geschwistern und Hilfsmöglichkeiten müssen geklärt werden. von Dr. phil. Susanne Witte Jg. 1985; Diplom-Psychologin, wissenschaftliche Referentin am DJI e.V. Weit über die Hälfte der Kinder in Deutschland wächst gemeinsam mit Geschwistern auf (Statistisches Bundesamt 2018). Im Leben von Familien sind somit Geschwister und ihre Beziehung zueinander ein alltäglicher Bestandteil. Auch Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe und angrenzenden Arbeitsfeldern haben meist nicht nur mit einem Kind, sondern direkt oder indirekt mit mehreren Kindern aus einer Familie Kontakt. Besteht der Verdacht oder die Gewissheit, dass in einer Familie ein Kind sexuell missbraucht wird oder wurde, so haben Fachkräfte auch im Hinblick auf Geschwister Aufgaben zu beachten. Es gilt alle Kinder einer Familie zu schützen, mögliche Auswirkungen durch das Miterleben des sexuellen Missbrauchs zu erkennen und entsprechende Hilfsmaßnahmen einzuleiten. Aufbauend auf dem Stand der Forschung zu diesem Thema gibt der vorliegende Artikel einen Überblick mit Implikationen für die Praxis. Gefährdungsabklärung Wird ein sexueller Missbrauch eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so sollte auch eine Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung aller Kinder in der Familie erfolgen. Die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens ein weiteres Kind in der Familie sexuell missbraucht wurde oder wird, liegt laut Studien zwischen 10 % und 81 % (z. B. MacMillan et al. 2013; Meiselman 1978; Witte 2018). Die weite Spannbreite an Angaben ist sicherlich teilweise den unterschiedlichen Untersuchungsdesigns geschuldet, für die Praxis bedeuten sie aber auch: Es kann ein sexueller Missbrauch eines Geschwisters vorliegen, muss aber nicht. Auch bei sexuellem Missbrauch durch Täter und Täterinnen außerhalb der Familie kann ein erhöhtes Risiko für Geschwisterkinder nicht ausgeschlossen werden. Burgess und Clark (1984) berichten in einer Studie zu Kinderpornografieringen oder Tätern, die mehrere Kinder und Jugendliche gleichzeitig sexuell missbrauchten, dass häufig mehrere Geschwister aus der gleichen Familie betroffen waren. In einigen der beschriebenen Fälle wurden die Mädchen und Jungen von den Tätern sogar dazu angehalten, ihre Geschwister zu diesem zu bringen. In anderen ermutigten die Eltern alle ihre Kinder, Zeit mit dem Täter zu verbringen, da sie glaubten, dieser eröffne diesen Möglichkeiten, die sie ihnen nicht bieten könnten (Burgess und Clark 1984). 251 uj 6 | 2020 Geschwister und sexueller Missbrauch Im Rahmen einer Gefährdungsabklärung ist immer auch zu beachten, dass für ein Geschwister zu einem späteren Zeitpunkt - beispielsweise aufgrund von Alterspräferenzen des Täters - ein erhöhtes Risiko für einen sexuellen Missbrauch bestehen kann. Eine Gefahr muss nicht immer von dem gleichen Täter oder der gleichen Täterin ausgehen: Möglicherweise erhöhen andere in der Familie vorliegende Risikofaktoren, wie eine belastete Paarbeziehung der Eltern oder soziale Isolation, Übergriffe durch andere Täter und Täterinnen (Finkelhor 1984). Der Blick sollte nicht ausschließlich auf sexuellen Missbrauch gerichtet werden. In Familien, in denen ein Kind sexuell missbraucht wird, besteht auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass Geschwister körperliche Misshandlung, emotionale Misshandlung, Vernachlässigung oder Partnerschaftsgewalt zwischen den Eltern erleben (Monahan 1997; Witte 2018). So berichteten 75 % der jüngeren Geschwister, deren älteres Geschwister sexuell missbraucht wurde, von mindestens einer anderen Form von Gewalt oder Vernachlässigung in der Kindheit (Witte 2018; Witte/ Walper/ Fegert 2018 a). Bei den älteren Geschwistern, deren jüngeres Geschwister sexuell missbraucht wurde, waren es 64 % (Witte 2018; Witte et al. 2018 a). Im Hinblick auf verschiedene Formen ist bei einem sexuellen Missbrauch des älteren Geschwisters die Wahrscheinlichkeit für körperliche Misshandlung des jüngeren Geschwisters wesentlich erhöht (Witte 2018; Witte et al. 2018 a). Nicht alle Kinder einer Familie werden sexuell missbraucht oder erleiden andere Formen von Gewalt und Vernachlässigung. Dies eröffnet die Frage, ob anhand von bestimmten Merkmalen von einem geringeren bzw. höheren Risiko ausgegangen werden kann. Hier zeichnet die Forschung ein uneinheitliches Bild: Weder aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit noch aufgrund des Alters noch aufgrund unterschiedlicher Wohnorte (z. B. bei Stiefgeschwistern) kann ein sexueller Missbrauch oder eine Gefährdung durch andere Formen von Gewalt oder Vernachlässigung ausgeschlossen werden (Witte 2018 b). Ebenso kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass bei einem Missbrauch durch Stiefeltern deren leibliche Kinder nicht gefährdet sind. Familien, in denen ein Kind sexuell missbraucht wird, sind oft durch eine Vielzahl an Belastungsfaktoren gekennzeichnet. Diese erhöhen das Risiko für alle Kinder einer Familie, von sexuellem Missbrauch betroffen zu sein (Chadik 1997; Hamilton-Giachritsis/ Browne 2005). So erwiesen sich in wissenschaftlichen Untersuchungen folgende Faktoren für eine Gefährdung mehrerer Kinder als bedeutsam: Psychische Probleme der Eltern (Hamilton-Giachritsis/ Browne 2005; Witte 2018), Substanzmissbrauch oder -abhängigkeit der Eltern (Chadik 1997; Hamilton-Giachritsis/ Browne 2005), Misshandlung und/ oder Missbrauch und in der Folge Heimunterbringung der Eltern während ihrer Kindheit (Chadik 1997), Probleme und Gewalt in der Paarbeziehung der Eltern (Chadik 1997; Hamilton-Giachritsis/ Browne 2005) sowie Kriminalität der Eltern (Hamilton-Giachritsis/ Browne 2005). Es ist also gerade beim Vorliegen vieler Belastungsfaktoren besonders geboten, Geschwisterkinder mit in den Blick zu nehmen. Wenn ein möglicher Missbrauch einer Schwester oder eines Bruders abgeklärt wird, so ist es ratsam, ein abgestuftes Vorgehen zu wählen und behutsam sowie dem Alter des Kindes entsprechend vorzugehen. Zum Beispiel wäre es möglicherweise sogar schädlich, Geschwister unmittelbar einer körperlichen Untersuchung zu unterziehen (Witte 2018). Für die Gefährdungsabklärung ist es wichtig zu berücksichtigen, welche Erfahrung Kinder bei der Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs eines Geschwisters gemacht haben. Wurde diesem nicht geglaubt, kann dies dazu führen, dass Geschwister nicht von einem sexuellen Missbrauch berichten (Monahan 1997; Renvoizé 1979). Dies verdeutlicht folgendes Zitat: 252 uj 6 | 2020 Geschwister und sexueller Missbrauch “My older sister was being abused horribly by my stepfather on a daily basis. She told the school and then my mother. We had to go to court and my parents were simply beyond anger. She told the Judge that my stepfather raped her. The Judge became furious with her and said, ‘ You’re lucky to have the good, Christian parents that you have.’ He sent her back home and nothing was done to stop it. […] He had already started to abuse me but I wouldn’t say anything until we went to court and then I could be sure that we would be O. K. Well, I learned from court that it was useless to tell… no one would believe us. My stepfather could fool them all” (Monahan 1997, 28). Auch die gesellschaftliche Stigmatisierung und die negativen Auswirkungen, die mit einer Aufdeckung eines sexuellen Missbrauchs einhergehen, wie zum Beispiel Trennung oder Scheidung der Eltern, können Geschwister stark belasten (Baker et al. 2001). In der Folge möchten sie einen eigenen sexuellen Missbrauch nicht ansprechen. Dynamiken in der Geschwisterbeziehung Neben der Abklärung einer möglichen Gefährdung von Geschwistern eines sexuell missbrauchten Kindes ist es wichtig, familiäre Dynamiken sowie die Geschwisterbeziehung in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien in den Blick zu nehmen. Diese können auch durch andere Faktoren, die auch Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch sind, begünstigt werden. Die Auswirkung der Aufdeckung eines sexuellen Missbrauchs können für Geschwisterkinder und die Beziehung zwischen den Geschwistern zudem belastend sein (Baker et al. 2001). Hierzu gehört beispielsweise der Auszug eines Elternteils, Trennung und Scheidung der Eltern, soziale Stigmatisierung sowie körperliche und psychische Probleme des sexuell missbrauchten Geschwisters (Baker et al. 2001). Reaktionen auf den sexuellen Missbrauch des Geschwisters Geschwister von sexuell missbrauchten Kindern haben in der Kindheit (Baker et al. 2001; Grosz et al. 2000; Hill 2003) und im Erwachsenenalter (Monahan 1997) Scham- und Schuldgefühle, da sie ihrem Geschwister nicht glaubten, nicht halfen oder nicht helfen konnten oder erleichtert darüber waren, selbst nicht betroffen zu sein. Zum anderen sind Geschwister oft wütend auf ihr Geschwister, da die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs unter Umständen zu gravierenden Veränderungen im Familienleben, wie dem Auszug des Täters und damit dem ‚Verlust‘ eines Elternteils, geführt hat (Baker et al. 2001; Hill 2003). So können sie in einen Loyalitätskonflikt zwischen dem missbrauchenden Elternteil und dem betroffenen Geschwister geraten (Baker et al. 2001; Hill 2003). Wird in der Familie ein ‚Schweigegebot‘ über den sexuellen Missbrauch ausgesprochen, so kann dies zur Belastung von Geschwistern beitragen (Baker et al. 2001). Dies gilt auch, wenn es sich um ein Verbot innerhalb der Familie handelt: So wurde in einem von Hill (2003) beschriebenen Fall dem älteren Bruder zwar von dem sexuellen Missbrauch der Schwester erzählt, jedoch sollte er vor dieser so tun, als ob er nichts davon wüsste. In anderen Familien ahnen Geschwister oft nur, dass es einen sexuellen Missbrauch gab, sind aber durch diese Ungewissheit belastet (Monahan 1997). Geschwister von sexuell missbrauchten Kindern haben ein erhöhtes Risiko für internalisierendes und externalisierendes Problemverhalten in der Kindheit (Lipovsky/ Saunders/ Hanson 1993; Pogue et al. 2014). Das Miterleben von sexueller Gewalt gegen das Geschwister beeinflusst zudem die Einstellung gegenüber sich selbst, der eigenen Familie und die Weltsicht negativ (Monahan 1997). Die Welt wird als unsicherer und ungerechter Ort mit einer ständig drohenden Gefahr wahrgenommen, die eigene Familie als chaotisch und dysfunktional (Monahan 1997). 253 uj 6 | 2020 Geschwister und sexueller Missbrauch Bei Brüdern von sexuell missbrauchten Schwestern zeigten sich in Einzelfallstudien Probleme im Umgang mit der eigenen Geschlechtsidentität sowie Ängste, selbst zum Täter zu werden (Hill 2003). Verschiebung von Macht in der Geschwisterbeziehung Die Machtverteilung zwischen Geschwistern beruht in der Kindheit normalerweise auf der kognitiven und körperlichen Überlegenheit des älteren Geschwisters. Im Rahmen von familiären Belastungen kann es zu einer Verschiebung von Macht und Dominanz in der Geschwisterbeziehung kommen. Bei chronischen Erkrankungen eines Geschwisters (Dallas et al. 1993) und bei einer Scheidung der Eltern kommt es häufig zu einem bestimmteren Auftreten eines Geschwisters (Roth et al. 2014). Bei sexuellem Missbrauch innerhalb der Familie argumentiert de Young (1981) aufbauend auf Einzelfällen, dass der sexuell missbrauchten Tochter die Rolle der Mutter übertragen wird. Aufgrund ihres Alters kann sie noch nicht effektiv Autorität ausüben. Dies führt dann zu Abneigung zwischen den Geschwistern, Rollenverwirrung und Disziplinproblemen. In der Studie von Witte (2018) zeigten sich unterschiedliche Effekte auf die relative Macht in der Geschwisterbeziehung bei älteren Geschwistern in Abhängigkeit der Schwere des sexuellen Missbrauchs. Leichter sexueller Missbrauch ging mit einer erhöhten relativen Macht des sexuell missbrauchten Geschwisters in der Geschwisterbeziehung einher, schwerer bis extremer sexueller Missbrauch mit einer Verringerung der relativen Macht in der Geschwisterbeziehung. Konflikte, Neid und Rivalität Heftig ausgetragene Konflikte zwischen Geschwistern sind in den meisten Familien keine Seltenheit (Witte et al. 2019). Im Kontext von sexuellem Missbrauch innerhalb der Familie wird von einem hohen Ausmaß von Neid, Eifersucht und Rivalität (z. B. Monahan 1997), vermehrten Konflikten (Gomes-Schwartz et al. 1990) und einem erhöhten Aggressionspotenzial unter Geschwistern (Baker et al. 2001) berichtet. Vor allem jüngere Geschwister, die sexuell missbraucht wurden, berichten vermehrt von negativen Verhaltensweisen in der Geschwisterbeziehung (Witte et al. 2018 a). Berry (1975) fasst dieses Phänomen unter dem Begriff des ‚incest envy‘ zusammen. Die ursprüngliche Annahme Berrys, dass um den sexuellen Kontakt mit dem Vater rivalisiert wird, wurde jedoch empirisch nicht bestätigt. Vielmehr handelt es sich um Eifersucht in Bezug auf die emotionale Zuwendung und Aufmerksamkeit durch den Vater und Neid auf Geschenke und Privilegien, die die sexuell missbrauchten Kinder als Teil der Täterstrategie erhalten (de Young 1981; Meiselman 1978; Monahan 1997). Auch muss berücksichtigt werden, dass emotionale Misshandlung, die häufig mit sexuellem Missbrauch einhergeht, mit zu einem hohen Ausmaß an negativen Verhaltensweisen zwischen Geschwistern beitragen kann (Witte et al. 2018 a). Geschwister als Vertraute und Unterstützer Geschwister sind oft bedeutsame Vertraute und unterstützen sich in vielerlei Hinsicht wechselseitig. Im Kontext von sexuellem Missbrauch kommt es jedoch im Allgemeinen zu einer Abnahme von Nähe und Kameradschaft unter Geschwistern (Witte et al. 2018 a). Dies gilt besonders für jüngere Geschwister und kann teilweise durch zudem auftretende Erfahrungen von emotionaler Vernachlässigung erklärt werden (Witte et al. 2018 a). Nichtsdestotrotz gibt es Hinweise darauf, dass Geschwister bei einem sexuellen Missbrauch eine wichtige positive Rolle spielen können. Sie können vor allem im Jugendalter eine Vertrauensperson sein, der von einem sexuellen Missbrauch erzählt wird (Gomes-Schwartz et al. 1990). Vor allem wenn keine 254 uj 6 | 2020 Geschwister und sexueller Missbrauch emotionale Vernachlässigung in der Familie vorliegt, entspricht die Öffnungsbereitschaft zwischen Geschwistern bei sexuellem Missbrauch dem von Geschwistern ohne Erfahrung von Gewalt und Vernachlässigung (Witte, im Druck). Arbeiten Fachkräfte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe mit beiden Kindern, vertrauen Kinder sich ihrem Geschwister häufig nur mit gemischten Gefühlen an. Sie befürchten, dass diese den Fachkräften davon erzählen (Leichtentritt 2013). Bei intrafamiliärem sexuellen Missbrauch berichteten einige ältere Schwestern, dass sie versuchten die jüngere Schwester zu unterstützen, den sexuellen Missbrauch zu beenden oder sich zu schützen (Meiselman 1978). Verhalten der Eltern gegenüber der Geschwisterbeziehung Das elterliche Verhalten in Bezug auf die Geschwisterbeziehung bildet den Rahmen für die Ausgestaltung der Geschwisterbeziehung. In Familien, in denen es zu Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung kommt, fördern Eltern die Geschwisterbeziehung weniger (Witte 2018). Zudem behandeln sie die Geschwister ungleicher (Witte 2018). In einigen Fällen kann das Untergraben der Geschwisterbeziehung eine Täterstrategie sein: So beschrieben beispielsweise Schwesternpaare in der Studie von Monahan (1997), dass ihre Väter, welche eine oder beide Schwestern sexuell missbraucht hatten, den Geschwistern vermittelten, dass sie eine enge Beziehung zu dem Geschwister nicht duldeten. Auch, wenn die Eltern nicht die Täter sind, kann es in der Folge zu einer Benachteiligung eines Geschwisters kommen (Mosser 2009). Die Vermutung liegt nahe, dass sich die Situation der Geschwister von außerhalb der Familie sexuell missbrauchten Kindern nach der Aufdeckung in ähnlicher Weise gestaltet wie die von Geschwistern chronisch kranker Kinder. Die nicht-missbrauchten Kinder müssen möglicherweise mehr Aufgaben im Alltag übernehmen, die Gestaltung des Alltags an die Bedürfnisse des Geschwisters anpassen und erhalten weniger elterliche Zuwendung. Hilfs- und Unterstützungsangebote für Geschwister Nach der Aufdeckung eines sexuellen Missbrauchs sollte für betroffene Kinder entsprechende Hilfs- und Unterstützungsangebote eingeleitet werden. Auch die Eltern benötigen häufig Unterstützung. Im Hinblick auf die oben dargelegten familiären Dynamiken muss davon ausgegangen werden, dass Geschwister, obwohl sie selbst nicht sexuell missbraucht wurden, ebenfalls Unterstützung benötigen (Schreier et al. 2016). In der internationalen Fachliteratur wurden bis jetzt fünf verschiedene Angebote vorgestellt (Baker et al. 2001; Barrett et al. 1986; Grosz et al. 2000; Hill 2003; Schreier et al. 2016). Diese wurden noch nicht auf ihre Wirksamkeit hin überprüft. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über wiederkehrende Elemente in den Angeboten gegeben. Den nicht-betroffenen Geschwistern wird altersangemessen Wissen über sexuellen Missbrauch und dessen Folgen vermittelt. Es werden nicht nur die individuellen Folgen, sondern auch Auswirkungen auf die Familie thematisiert. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Reaktionen bezüglich des Auszugs oder gar der Inhaftierung des Vaters, wenn dieser der Täter ist. Da die körperlichen und psychischen Folgen des sexuellen Missbrauchs bei dem betroffenen Kind eine Belastung für das Geschwister darstellen können (Baker et al. 2001), bietet es sich an, auch diesbezüglich Wissen zu vermitteln. Die Geschwister sollten die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen, und ihnen sollte - wie auch bei chronischen Erkrankungen von Geschwistern (Strohm 2001) - zu mehreren Zeitpunkten Informationen angeboten werden. Insbesondere im Kontext akuter Krisen ist es wichtig, Geschwisterkinder nicht zu vergessen und ihnen Informationen anzubieten. Ein weiterer Baustein der Angebote ist die Vermittlung von Strategien zur Vorbeugung von sexuellem Missbrauch. So wird beispielsweise bei Baker et al. (2001) den Geschwistern vermit- 255 uj 6 | 2020 Geschwister und sexueller Missbrauch telt, wie sie sich bei einem sexuellen Übergriff verhalten sollen. Auch wenn es sehr wichtig ist, Kindern präventive Strategien zu vermitteln, so muss doch darauf geachtet werden, dass es nicht zu einer Schuldzuschreibung gegenüber Betroffenen kommt, die sich ‚nur hätten richtig verhalten müssen‘. Ergänzend werden zum Teil Einheiten zur Sexualaufklärung angeboten. Weitere Schwerpunkte sind der Umgang mit Scham- und Schuldgefühlen gegenüber dem Geschwister, aber auch in Bezug auf das soziale Umfeld. Hier zeigen sich auch Vorteile eines Gruppensettings. Dies kann dem Gefühl, als einzige Familie so etwas zu erleben, entgegenwirken. Im Hinblick auf Schuldgefühle bezüglich unterlassener Hilfeleistung kann beispielsweise noch einmal die Schuld des Täters oder der Täterin betont werden. Weiter ist die Verbesserung der Emotionsregulation, insbesondere der Umgang mit Wut und Ärger auf das Geschwister, ein wichtiger Baustein der Angebote. Kinder lernen ihre Gefühle in Bezug auf den sexuellen Missbrauch zu äußern (Barrett et al. 1986). Ein verbesserter Umgang mit Wut und Ärger ist auch wichtig für den Umgang mit dem Geschwister. Nicht-missbrauchte Geschwister erleben, ähnlich wie Geschwister von chronisch kranken Kindern, sehr viele Belastungen durch psychische und körperliche Folgen bei dem betroffenen Kind und durch eingeleitete Hilfen. Folglich können Angebote, die nicht-betroffenen Kindern einen Freiraum für sie selbst bieten und positive Aktivitäten beinhalten, sehr hilfreich sein. Bei der Planung von Unterstützungsangeboten sollten die Eltern mit einbezogen werden. Eltern sollten dazu angeleitet werden, wie sie mit den unterschiedlichen Gefühlen ihrer Kinder umgehen, wie sie Konflikte zwischen Kindern angemessen und gewaltfrei lösen und wie sie die Geschwisterbeziehung zwischen ihren Kindern fördern können. Ein wichtiger Punkt ist, auf eine gerechte Behandlung aller Kinder hinzuwirken. Während es sinnvoll ist, Geschwister bei der Hilfeplanung im Blick zu haben, kann dies nicht ohne eine hinreichende Abwägung im Einzelfall erfolgen (Schreier et al. 2016). Auch sollten Geschwister nicht zur Teilnahme an Angeboten von Fachkräften oder Familienmitgliedern gezwungen werden. Wichtige Aspekte, wie die Vertraulichkeit der Informationen, sind zu klären. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die gleiche Fachkraft mit mehreren Familienmitgliedern arbeitet. Dr. Susanne Witte Deutsches Jugendinstitut Nockherstr. 2 81541 München E-Mail: witte@dji.de Literatur Baker, J. N., Tanis, H. J., Rice, J. B. 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