eJournals unsere jugend 72/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art42d
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2020
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Möglichkeiten und Grenzen des Jugendamtes bei sexuellem Missbrauch

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2020
Susanne Heynen
Die Jugendämter tragen maßgeblich neben den Eltern Verantwortung für das Wohl von Kindern und Jugendlichen, auch in ihren Familien. Im folgenden Beitrag wird am Beispiel der Landeshauptstadt Stuttgart der Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt dargestellt.
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265 unsere jugend, 72. Jg., S. 265 - 272 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art42d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Möglichkeiten und Grenzen des Jugendamtes bei sexuellem Missbrauch Die Jugendämter tragen maßgeblich neben den Eltern Verantwortung für das Wohl von Kindern und Jugendlichen, auch in ihren Familien. Im folgenden Beitrag wird am Beispiel der Landeshauptstadt Stuttgart der Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt dargestellt. von Dr. Susanne Heynen Jg. 1960, Ergotherapeutin und Dipl.-Psychologin, seit 2016 Leiterin des Jugendamtes der Landeshauptstadt Stuttgart Wer im Kinderschutz engagiert ist, ist dies vor dem Hintergrund des aktuellen fachlichen und öffentlichen Diskurses. Dieser wiederum ist das Ergebnis komplexer Erkenntnisprozesse darüber, dass sehr viele Kinder und Jugendliche Opfer von sexuellem Missbrauch werden, dass dieser verschiedene Formen der Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen und systematischer kommerzieller Ausbeutung und Menschenhandel umfassen kann, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen die Taten begehen und dass die meisten Taten nicht durch Fremde, sondern im vertrauten familiären Kontext und in Institutionen verübt werden. Aktuelle Beispiele sind der Fall eines 9-jährigen Jungen aus dem Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald, der von seiner Mutter und ihrem Partner vergewaltigt und über das Internet anderen Männern zur Vergewaltigung verkauft wurde (s. hierzu Geschäftsstelle der Kommission Kinderschutz, Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg, 2019 a, b) sowie sexualisierte Gewalthandlungen bis zu Vergewaltigungen an 32 Kindern durch einen Pflegevater und einen weiteren Täter in Lügde (s. hierzu u. a. Landtag NRW). Seit den 1980er Jahren haben Veröffentlichungen, Forschungsarbeiten, Praxisberichte, persönliche Schilderungen und Autobiografien über die verschiedenen Kontexte sexuellen Missbrauchs in der Familie, im sozialen Nahbereich und in Institutionen wie Kindertageseinrichtungen, Schulen und Heimen, im Sport, auf Freizeiten, in kirchlichen, aber auch in reformpädagogischen Einrichtungen stetig zugenommen. Mit den „Geschichten die zählen“ liegen beispielsweise Ergebnisse der durchgeführten vertraulichen Anhörungen sowie der eingesendeten schriftlichen Berichte der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (2019) vor. Auch wenn es, trotz aller Erwartungen, nicht gelingen mag, die Gewalt gegen Kinder, insbesondere in der Privatheit der Familie, in jedem Fall zu verhindern, hat sich dennoch sehr Vieles in den letzten Jahrzehnten zum Positiven gewendet. Sowohl Angebote und Maßnahmen zur Stärkung der Prävention und Intervention, zur Unterstützung betroffener Kinder, Jugend- 266 uj 6 | 2020 Möglichkeiten und Grenzen des Jugendamtes licher und ihrer Angehörigen als auch zur Therapie von Tätern und Täterinnen wurden und werden ausgebaut. Darüber hinaus hat sich der rechtliche Rahmen verbessert. Der Fokus des vorliegenden Beitrags liegt auf den Möglichkeiten und Grenzen der am Kinderschutz beteiligten Institutionen sowie den rechtlichen Grundlagen und den Handlungsstrategien der öffentlichen Jugendhilfe am Beispiel des Jugendamtes Stuttgart. Rechtliche Rahmenbedingungen und die Entwicklung der Jugendhilfe Entsprechend der wachsenden gesellschaftlichen Sensibilität und der zunehmenden fachlichen Kenntnisse über Folgen und Bewältigung von Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend gab es in den letzten Jahrzehnten nicht nur im Sexualstrafrecht, sondern auch in anderen Rechtsgebieten erhebliche Veränderungen, die sich auf Infrastruktur und Arbeitsweise der Jugendhilfe auswirken. Sie erleichtern es den Jugendämtern, den freien Trägern der Jugendhilfe und den angrenzenden Systemen, ihre jeweiligen Aufgaben im Kinderschutz besser wahrzunehmen. Wichtige Meilensteine waren: ➤ Artikel 19 „Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung“ der 1989 von der UN-Generalversammlung angenommenen UN-Kinderrechtskonvention, ➤ § 1631 „Inhalt und Grenzen der Personensorge“ des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), Abs. 2 „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“, im Jahre 2000, ➤ § 8 a „Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“, Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII), welcher 2005 im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) ins SGB VIII eingefügt wurde sowie ➤ Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG), gültig seit 2012. Jugendämter erfahren von einer Kindeswohlgefährdung auf verschiedenen Wegen, weil sich zum Beispiel ein Kind jemandem anvertraut (nicht gewalttätigem Elternteil, Verwandte, Freundin, deren Eltern, Erzieherin oder Lehrer etc.), Bezugspersonen aufgrund von Beobachtungen beunruhigt sind oder eine Sexualstraftat vom Täter gefilmt und übers Internet verbreitet wird. Eine Vielzahl von Meldungen erfolgt im Rahmen von Polizeieinsätzen bei häuslicher Gewalt (in Stuttgart die sogenannte Stuttgarter Ordnungspartnerschaft: https: / / stuttgart-gegengewalt.de/ stop-brintervention.html). Erhält das Jugendamt Kenntnis, hat es entsprechend § 8 a SGB VIII folgende Handlungsschritte zu beachten: 1. Einschätzung des Gefährdungsrisikos im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte, Hilfsangebote für die Erziehungsberechtigten, wenn das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig hält; 2. Anrufung des Familiengerichts, wenn erforderlich, bei dringender Gefahr Inobhutnahme des Kindes bzw. der oder des Jugendlichen; 3. Hinwirken auf die Inanspruchnahme anderer Leistungsträger, der Gesundheitshilfe oder der Polizei durch die Erziehungsberechtigten, Einschaltung dieser Dienste durch das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung; 4. (…) 5. Mitteilung von Daten, deren Kenntnis zur Wahrnehmung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung durch den zuständigen örtlichen Träger erforderlich ist. Von großer Bedeutung für die Arbeit der Jugendämter ist auch das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG), ein Artikelgesetz, welches die Ergebnisse der runden Tische Heimerziehung und Sexueller Missbrauch sowie des Aktionsprogramms Frühe Hilfen aufgriff. Es ergänzte den § 8 a SGB VIII und integrierte weitere Para- 267 uj 6 | 2020 Möglichkeiten und Grenzen des Jugendamtes grafen ins SGB VIII. Außerdem wurde im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) die Verbesserung der Kinderschutznetzwerke geregelt. Darüber hinaus sind die Voraussetzungen für den Entzug der elterlichen Sorge zu beachten. Laut § 1666 „Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) kann die elterliche Sorge nur entzogen werden, wenn für das geistige, seelische oder körperliche Wohl des Kindes eine Gefahr besteht und die Eltern nicht in der Lage sind, diese abzuwenden. Das Familiengericht hat sich hierbei auf geeignete und erforderliche Maßnahmen zu beschränken. Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss die Schwere eines Eingriffs in das Elternrecht in einem angemessenen Verhältnis zum Wohl des Kindes stehen. Die Verbesserung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt in der Familie ist eingebunden in einen quantitativen und qualitativen Ausbau der Infrastruktur für Familien. Hierzu gehören unter anderem die sogenannten Frühen Hilfen für Schwangere und Eltern mit Kindern unter drei Jahre, Fachberatungsstellen, die Unterstützung für Opfer sexualisierter Gewalt anbieten, Kindertageseinrichtungen, Jugendhilfeeinrichtungen zur Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII sowie vielfältige ambulante und stationäre Hilfen zur Erziehung (§§ 27ff SGB VIII, s. z. B. http: / / www.hzemonitor.akjstat. tu-dortmund.de/ ). Wichtige Bestandteile der Leistungen sind aber auch Kinder- und Jugendhäuser, Jugendsozialarbeit, Ganztagesschulen in Kooperation mit Trägern der Jugendhilfe, Schulsozialarbeit sowie die Beratungsleistungen des Allgemeinen Sozialen Dienstes (bzw. der Bezirkssozialarbeit) des Jugendamtes selbst (www.unterstuetzung-die-ankommt.de). Es wurden Rufbereitschaften und Krisennotfalldienste eingeführt, damit auch außerhalb der regulären Arbeitszeiten in der Krisenintervention erfahrene Fachkräfte oder Mitarbeitende des Jugendamtes erreichbar sind und unmittelbar Hilfe gewährt werden kann. Reichen zur Vermeidung einer Kindeswohlgefährdung Angebote nicht mehr aus und werden Hilfen von Eltern nicht angenommen, ringen Fachleute um professionelles Handeln im Spannungsfeld zwischen Vertrauensschutz gegenüber Kindern und Jugendlichen (die meist auch im Falle ihrer Gefährdung loyal gegenüber ihren Familien sind), Kinderschutz und Elternrechten. Dabei sind sie darauf angewiesen, dass Kinder und Jugendliche sich Fachleuten, aber auch Ehrenamtlichen und Personen aus dem sozialen Netzwerk anvertrauen, die Signale einer Gefährdung wahrnehmen können. Diese müssen sensibilisiert und qualifiziert sein und als Teil eines komplexen Hilfesystems adäquat handeln. Qualitätsentwicklung im Kinderschutz, ein weiterer wichtiger Baustein, umfasst Fort- und Weiterbildung, die kritische Reflexion der Praxis sowie Vernetzung mit allen beteiligten Akteurinnen und Akteuren. Zur Qualifizierung der Fachleute gehört die Vermittlung von kinderschutzrelevanten Informationen, systemischen Methoden und Kenntnissen der Psychotraumatologie und über die Situation spezifischer Zielgruppen, wie psychisch kranke, gewalttätige oder inhaftierte Eltern. Eine professionelle Reflexion wird unterstützt durch Teambesprechungen, Supervision, interdisziplinäre, institutionenübergreifende Fallkonferenzen, abschließende Fallbetrachtungen im Team und mit Vorgesetzten und strafrechtliche Aufarbeitungen. Wichtig sind ebenfalls Bereitschaft und Methoden, um aus gelungenen, aber auch problematischen Kinderschutzverläufen zu lernen und die Praxis gemeinsam und institutionenübergreifend weiterzuentwickeln. Weiterentwicklung und kontinuierliche Pflege der Vernetzung und Kooperation mit der Polizei, den Familiengerichten und Fachberatungsstellen, dem Gesundheitswesen und Bildungsbereich, aber auch mit Ehrenamtlichen erleichtern den Kinderschutz. Regelungen zur Weitergabe gefährdungsrelevanter Informationen unter Berücksichtigung des Datenschutzes, Koope- 268 uj 6 | 2020 Möglichkeiten und Grenzen des Jugendamtes rationsvereinbarungen und Standardisierungen geben Orientierung, dienen der Reflexion, aber auch der Kontrolle der Arbeitsweisen (s. u. a. BkiSchG, Munro, 2009). Insgesamt lässt sich feststellen, dass in den letzten Jahrzehnten bundesweit vielfältige Maßnahmen zur Verbesserung des Kinderschutzes ergriffen wurden. Entsprechend kann eine höhere Inanspruchnahme der Jugendhilfe nachgewiesen werden: „Die über die Statistiken zu beobachtenden Veränderungen zwischen 2006 und 2016 zeigen, dass in diesen Zeiträumen insbesondere in der zweiten Hälfte der 2000er- Jahre die Zahl der Inobhutnahmen, die der familienersetzenden Hilfen zur Erziehung sowie mit Abstrichen auch die der Sorgerechtsentzüge durch die Familiengerichte gestiegen sind.“ (Informationsdienst der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik, AKJStat 2018, 24). Strategien zum Kinderschutz am Beispiel des Jugendamtes Stuttgart Im nachfolgenden Abschnitt wird am Beispiel des Jugendamtes der Landeshauptstadt Stuttgart (613.520 Einwohnerinnen und Einwohner mit Hauptwohnsitz, 31. 1. 2019) die konkrete Arbeitsweise beschrieben. Dabei wird der Fokus auf das Vorgehen der elf Beratungszentren in der Rolle des Allgemeinen Sozialen Dienstes (kurz BZ, s. www.stuttgart.de/ beratungszentrenjugend-familie) gelegt. Auf die umfassende Präventionsarbeit in den über 180 städtischen Kindertageseinrichtungen (www.einsteinstutt gart.de) sowie in den ambulanten und stationären Hilfen zur Erziehung des Jugendamtes im Rahmen der jeweiligen pädagogischen Konzeptionen wird aus Kapazitätsgründen nicht eingegangen. Die gesamte Arbeit des Jugendamtes wird in jährlichen Geschäftsberichten ausführlich beschrieben (2018 s. www. stuttgart.de/ img/ mdb/ publ/ 25357/ 108709. pdf ). Die Fachkräfte des Jugendamtes Stuttgart durchlaufen eine verbindliche Grundqualifizierung für die Arbeit in den Beratungszentren. Diese wird zweimal jährlich von dem jugendamtsinternen Sachgebiet „Qualität & Qualifizierung“ im Rahmen eines umfassenden Fortbildungsprogramms für das gesamte Jugendamt angeboten. Die Einführung in die Arbeit der Beratungszentren von elf Tagen beinhaltet eine 5 ½-tägige Einarbeitung zum Kinderschutz für alle Mitarbeitenden in den Bereichen Sozialarbeit/ -pädagogik und Psychologie in den Beratungszentren, aber auch für die Fachleute des städtischen Trägers für die Erziehungshilfen. Teilnehmen können auch wichtige Kooperationspartnerinnen und -partner aus dem Gesundheitsamt oder dem Krankenhaussozialdienst. Das Thema sexueller Missbrauch und die Unterstützung durch das Hilfeprozessmanagement, welches unten beschrieben wird, sind fester Bestandteil. Darüber hinaus erhalten die Mitarbeitenden der Beratungszentren die Möglichkeit, eine systemische Weiterbildung mit einem Umfang von 25 Tagen zu absolvieren, die alle drei Jahre angeboten wird. Vielfältige weitere Fortbildungsveranstaltungen, die regelmäßig ausgewertet werden und jährlich auf die Fortführung und Ergänzung durch aktuelle Themen hin überprüft und entsprechend geplant werden, ergänzen das feststehende Programm. Die konkrete Einarbeitung vor Ort im Beratungszentrum wird durch die Bereichsleitung und kollegiale Beratung gewährleistet. Neue Mitarbeitende arbeiten im Kinderschutz zunächst im Tandem mit einer erfahrenen Fachkraft zusammen. In einer verbindlichen Gruppensupervision müssen Kinderschutzfälle zur Qualitätssicherung eingebracht werden. Darüber hinaus werden komplexe Kinderschutzverläufe im Rahmen eines runden Tisches oder von Fallanalysen ausgewertet. Jugendamtsintern kommen Standards, Materialien und Schutzkonzepte zum Einsatz, wie der Stuttgarter Kinderschutzbogen (s. hierzu Reich 269 uj 6 | 2020 Möglichkeiten und Grenzen des Jugendamtes & Heynen, im Druck), die sogenannten Ankerbeispiele, das Hilfeprozessmanagement und der Leitfaden „Fach- und Führungskräfte in besonderer Verantwortung“ (Landeshauptstadt Stuttgart, 2019) zum Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen. In einem Fachzirkel Kinderschutz sowie in der Internen Steuerungsrunde Kinderschutz werden die bestehenden Standards reflektiert und kontinuierlich weiterentwickelt (zur grundsätzlichen Arbeit im Kinderschutz vgl. Heynen & Neudörfer, 2019; Heynen, Kiefl, Neudörfer & Reich, 2019). Weitere Maßnahmen der Qualitätssicherung im Kinderschutz werden trägerübergreifend im Netzwerk der Stuttgarter Akteurinnen und Akteure realisiert. Hierzu gehören unter anderem eine Große Steuerungsrunde Kinderschutz, Kooperationsvereinbarungen und Qualitätsstandards sowie Fachtagungen. Grundlage für die Arbeit des Stuttgarter Jugendamtes im Gefährdungsbereich sexualisierter Gewalt sind die „Leitlinien und § 8 a-Verfahren zum Umgang mit dem Thema sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ mit Stand von 2014. Sie umfassen eine Definition „Sexueller Missbrauch“, fokussieren auf die Bedeutung der Enttabuisierung, Versachlichung und der interdisziplinären Zusammenarbeit und beschreiben die Leistungen der Jugendhilfe und Beratungsstellen, aber auch die Möglichkeiten der Familiengerichte und eines Strafverfahrens. „Die konkrete Vorgehensweise gemäß § 8 a SGB VIII - im Umgang mit dem Thema sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen gültig für alle Fachbereiche des Jugendamtes“ (ebenfalls Stand 2014) wurde für alle Mitarbeitenden verbindlich eingeführt. Der erste Schritt beinhaltet die Selbstreflexion, Dokumentation und Planung von Handlungsschritten anhand einer Checkliste. Diese hilft dabei, Beobachtungen, Gefühle, Hypothesen, Ziele und Strategien voneinander zu trennen. Als notwendige Vorgehensweisen sind festgelegt: ➤ Kollegiale Beratung unter Einbezug direkter Vorgesetzter ➤ Anforderung einer/ eines Hilfeprozessmanagers/ -in (HPM) in der Rolle der insoweit erfahrenen Fachkraft nach § 8 a SGB VIII und Führen eines ausführlichen Erstgesprächs: Der/ die Hilfeprozessmanager/ -in ist im Beratungsprozess verantwortlich für das Herstellen von Klarheit in den Rollen und der Arbeitsaufträge aller beteiligten Helfenden sowie für die verbindliche Einhaltung der gemeinsamen Hilfestrategie. Die/ der HPM ist keinesfalls fallverantwortlich, sondern beratend, unterstützend und prozesssteuernd im Sinne eines effektiven Kinderschutzes tätig. Angesiedelt sind die Fachkräfte bei „Qualität & Qualifizierung“. Die Qualitätssicherung erfolgt unter anderem über eine monatliche Arbeitsgruppe, einen Klausurtag, ggf. Supervision, aber auch quantitative und qualitative Auswertungen. ➤ Hilfekonferenz/ -en zur Gefährdungseinschätzungen und zur Erstellung eines Schutzkonzepts: Diese haben das Ziel, Vereinbarungen zum Schutz des Kindes zu schließen. Zur Arbeitsweise gehören die Informationssammlung bzgl. Kind, Familie und ggf. die Erstellung eines Genogramms, Klärung offener Fragen und Hypothesen, Gefährdungseinschätzung, Protokoll über Ergebnis und Vereinbarungen der nächsten Schritte, Umsetzung und Überprüfung der Wirkungen und der Sicherung des Kinderschutzes. ➤ Beteiligung der Familie, wenn dadurch das Kindeswohl nicht gefährdet wird. ➤ Umsetzung von Schutzmaßnahmen, z. B. durch den nicht missbrauchenden Elternteil, Inobhutnahme des Kindes, Untersuchungshaft des/ der Tatverdächtigen. Die Hilfsangebote umfassen: geschlechtsdifferenziertes Beratungs- und Hilfeangebot, z. B. durch eine Fachberatungsstelle für Kinder und Jugendliche, spezifische Informations- und Beratungsangebote für den nicht missbrauchenden Elternteil, 270 uj 6 | 2020 Möglichkeiten und Grenzen des Jugendamtes Angebote für den verdächtigten/ missbrauchenden Elternteil (beschützter, begleiteter Umgang, Beratung, Auflagen durch das Familiengericht), keine Anzeigepflicht, aber Information über die Möglichkeit einer Strafanzeige; ggf. Prozessbegleitung. Zum Ende des Prozesses werden das Hilfeverfahren, die Unterstützung durch das Hilfeprozessmanagement und die Maßnahmen zum Kinderschutz mithilfe eines anonymen und standardisierten Auswertungsbogens reflektiert. Die Verantwortung für die Auswertung und die Rückmeldung an die im Kinderschutz Beteiligten trägt eine Mitarbeiterin mit dem Schwerpunkt Kinderschutz im Sachgebiet „Qualität & Qualifizierung“. Die wichtigsten intern ausgewerteten und veröffentlichten Ergebnisse zeigen: ➤ Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch wird vornehmlich von Familienangehörigen dem Beratungszentrum mitgeteilt, gefolgt von Kindertageseinrichtungen und Schulen sowie den Trägern der Hilfen zur Erziehung. Weitere Meldungen erfolgen durch die Polizei, die Minderjährigen selbst oder durch eine Flüchtlingsunterkunft. ➤ Die Altersspanne der betroffenen Kinder und Jugendlichen umfasst das gesamte Spektrum vom Kleinkindalter bis zur Volljährigkeit. ➤ Dabei geht es bei den Fällen sowohl um Übergriffe durch Minderjährige, im Rahmen von Kindertageseinrichtungen, Schulen, Schülerhäusern (Stuttgarter Form der Schulkindbetreuung), Wohngruppen (Hilfe zur Erziehung), als auch innerhalb der Familie und im sozialen Umfeld. ➤ Richtet sich der Verdacht gegen Erwachsene, handelt es sich in den meisten Fällen um Väter, gefolgt von männlichen Verwandten, Stiefvätern oder Bekannten der Mutter und anderen männlichen Personen aus dem sozialen Nahbereich sowie vereinzelt um Mütter. ➤ Die jährlich schwankende Fallverteilung auf die sozialräumlich zuständigen Beratungszentren variiert von einem bis zu 15 Fällen. Im Verhältnis zu den sonstigen bearbeiteten Kindeswohlgefährdungen wird ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch selten geäußert, sodass die einzelnen Mitarbeitenden im Laufe ihrer Berufstätigkeit nur vereinzelt unmittelbar selbst fallzuständig werden. Eine Auswertung über einen Zeitraum von 2014 - 2017 von 135 abgeschlossenen Beratungen in der Rolle der insoweit erfahrenen Fachkraft zeigt, dass in der Hälfte der Fälle der Verdacht auf sexuellen Missbrauch vage blieb (71). Weitere Kategorien (keine Mehrfachnennungen) waren: sexueller Missbrauch liegt in der Vergangenheit (neun), sexueller Missbrauch/ sexueller Übergriff (24), andere Gefährdung (vier), keine Kindeswohlgefährdung, aber Hilfe-/ Unterstützungsbedarf (zehn), keine Kindeswohlgefährdung, kein Unterstützungsbedarf (sieben), Sonstiges. Auch in den Fällen, in denen der Verdacht nicht geklärt werden kann, sind sorgfältig geplante Begleitung und Unterstützung der betroffenen Kinder, Jugendlichen und ihrer Familie wichtig. Außerdem zeigen wissenschaftliche Untersuchungen und Erfahrungen aus der Praxis, dass nicht nur Familien selbst, sondern auch familienähnliche Hilfen wie Verwandtenpflege (Heynen/ Zahradnik 2017), Vollzeitpflege und Tagespflege im Hinblick auf Gefährdungen in den Blick genommen werden müssen. Schlussfolgerungen Insgesamt hat sich das Problembewusstsein für Gefährdungen von Mädchen und Jungen entwickelt. Die Rechte von Kindern und Jugendlichen wurden verbessert, Präventions- und In- 271 uj 6 | 2020 Möglichkeiten und Grenzen des Jugendamtes terventionsstrategien sowie Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche ausgebaut. Trotzdem besteht weiterer Bedarf an einer kontinuierlichen Qualitätsentwicklung im Kinderschutz. Problematisch ist u. a. der Umgang mit nicht aufklärbaren Verdachtsfällen bei sexuellen Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Institutionen (Kavemann/ Rothkegel/ Nagel 2015). Hier fehlt es an Forschung, an Reflexion der Praxis und an Aufarbeitung der Fälle, in denen sich zu einem späteren Zeitpunkt der Verdacht bewahrheitet oder nachhaltig ausgeräumt wird. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass es nach wie vor sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gibt, ohne dass diese sich anvertrauen können und Unterstützung und Schutz erhalten. Als besondere Belastung für die Betroffenen kommt hinzu, dass Vergewaltigungen von Mädchen und Jungen über das Internet in Sekundenschnelle in der ganzen Welt verbreitet werden, im weltweiten Netz auf unbestimmte Zeit millionenfacher Zugriff auf Bilder und Filme besteht und die Täter und Täterinnen schwerer zu fassen sind. Das Lernen aus problematischen Kinderschutzfällen muss deshalb weiterhin gestärkt werden. Dies gilt insbesondere für das Verstehen von Entscheidungsprozessen, in denen gefährdungsrelevante Informationen, zum Beispiel von den zuständigen Mitarbeitenden aus Jugendamt und Familiengericht, nicht ausreichend berücksichtigt werden und kognitive Dissonanz zu Lasten des Kinderschutzes reduziert wird. Kontinuierliche Aufmerksamkeit, sorgfältige Einarbeitung neuer Mitarbeitender und eine umfassende Qualifizierung aller Beteiligten sind deshalb sehr wichtig. Dazu gehören nicht nur die Fachkräfte aus der Jugendhilfe, sondern auch aus dem Bildungssystem, dem Gesundheitswesen, der Polizei, genauso wie die Verantwortlichen im Strafverfahren und familiengerichtlichen Verfahren. Kinder und Jugendliche müssen vor Gericht angehört werden und durch einen Verfahrensbeistand vertreten werden. In gutachterlichen Stellungnahmen darf der Fokus nicht nur auf die Glaubwürdigkeit der kindlichen Zeuginnen und Zeugen sowie die Motivation, Glaubwürdigkeit und das Verhalten des nicht missbrauchenden und möglicherweise den Verdacht äußernden Elternteils gelegt werden. Begutachtet werden müssen auch unzureichende Schutzmöglichkeiten des nicht missbrauchenden, aber vom Täter abhängigen Elternteils sowie die Glaubwürdigkeit und die Motivation des verdächtigten Elternteils oder neuen Partners der Mutter. Jugendämter sind gefordert, sich aktiv mit ihrer Expertise im Kinderschutz im familiengerichtlichen Verfahren zu beteiligen und ggf. gegen familiengerichtliche Entscheidungen in die nächste Instanz zu gehen. Ein besonderes Augenmerk sollte auf Gelegenheitsstrukturen gelegt werden, die dazu beitragen, dass Kinder nur sehr schwer geschützt werden können. Hierzu gehören insbesondere kleine Kinder in isolierten, instabilen und sich auflösenden Familien oder in Familien mit neuen Partnern. Die Vernetzung zwischen Jugendämtern, Polizei und Familiengerichten muss weiter verbessert werden. Auch die Strafgerichte und Strafvollzugsanstalten müssen die Gefährdungen, die durch Sexualstraftäter ausgehen, im Blick haben und ggf. die Jugendämter informieren. Von großer Bedeutung ist auch die Verknüpfung mit den Gewaltschutzeinrichtungen für Frauen, weil nach wie vor Gewalt gegen Kinder eng verknüpft ist mit häuslicher Gewalt. Dr. Susanne Heynen Landeshauptstadt Stuttgart Jugendamt E-Mail: Susanne.Heynen@stuttgart.de 272 uj 6 | 2020 Möglichkeiten und Grenzen des Jugendamtes Literatur Geschäftsstelle der Kommission Kinderschutz Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg (2019 a): Abschlussbericht der Kommission Kinderschutz Band I. Bericht und Empfehlungen. Stuttgart Geschäftsstelle der Kommission Kinderschutz Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg (2019 b): Abschlussbericht der Kommission Kinderschutz Band II. Materialien. Stuttgart. In: https: / / sozial ministerium.baden-wuerttemberg.de/ de/ service presse/ pressemitteilung/ pid/ kommission-kinder schutz-stellt-abschlussbericht-vor/ Heynen, S., Neudörfer, N. (2019): Die Schnittstellen der Kinder- und Jugendhilfe. Jugendhilfe 5 (57), 463 - 471 Heynen, S., Kiefl, B., Neudörfer, N., Reich, W. (2019): Kinderschutz aus der Perspektive des öffentlichen Jugendhilfeträgers am Beispiel des Jugendamtes Stuttgart. Lernen und Lernstörungen 8 (2), 77 - 86, https: / / doi.org/ 10.1024/ 2235-0977/ a000259 Heynen, S., Zahradnik, F. (2017): Innerfamiliäre Tötungsdelikte im Zusammenhang mit Beziehungskonflikten, Trennung beziehungsweise Scheidung - Konsequenzen für die Jugendhilfe. Beltz Juventa, Weinheim, https: / / doi.org/ 10.13109/ kind.2019.22.2.128 Informationsdienst der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik, AKJStat (2018): Aus dem Schatten der Dienstleistungsorientierung - der Kinderschutz und seine Wiederentdeckung. KOM DAT 1 (21), 22 - 25 Kavemann, B., Rothkegel, S., Nagel, B. (2015): Nicht aufklärbare Verdachtsfälle bei sexuellen Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt durch Mitarbeiter*innen in Institutionen. Nicht 100 Prozent Sicherheit, aber 100 Prozent Professionalität. Berlin. In: http: / / www.soffi-f.de/ files/ u2/ Nicht_aufkl__rbare_Verdachtsf__lle_final.pdf, 31. 5. 2018 Landeshauptstadt Stuttgart (2019): Fach- und Führungskräfte in besonderer Verantwortung: Verbindlicher Leitfaden zur Prävention von und Umgang mit grenzverletzendem Verhalten und sexualisierter Gewalt durch Mitarbeitende des Jugendamtes. Stuttgart. In: https: / / www.stuttgart.de/ img/ mdb/ publ/ 32697/ 144556.pdf, 31. 5. 2018 Munro, E. (2009): Ein systemischer Ansatz zur Untersuchung von Todesfällen aufgrund von Kindeswohlgefährdung. Das Jugendamt - Zeitschrift für Jugendhilfe und Familienrecht 3, 106 - 115 Reich, W., Heynen, S. (im Druck): Der Kinderschutzbogen, das Diagnoseinstrument des Jugendamts Stuttgart bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung. Jugendhilfe Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (2019): Geschichten die zählen: Bilanzbericht 2019 Band I/ II. Berlin. In: https: / / www. aufarbeitungskommission.de/ bilanzbericht_2019/ , 31. 5. 2018 Internetquelle Landtag NRW (o. J.): In: https: / / www.landtag.nrw.de/ portal/ WWW/ Webmaster/ GB_I/ I.1/ aktuelle_druck sachen/ aktuelle_Dokumente.jsp? m=1&wp=17&doc Typ=V&datumsart=he&von=&bis=&dokNum=L%FCg de&searchDru=suchen