unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art45d
61
2020
726
Rezension
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2020
Maria Kurz-Adam
Brachmann, Jens (Hrsg. 2019): Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 560 Seiten, € 33,90
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uj 6 | 2020 283 Rezension Nahezu lautlos gingen die jüngsten Missbrauchs-Skandale in Lügde und Staufen an der Fachwelt der Sozialen Arbeit und der Kinder- und Jugendhilfe vorbei. Selbst als die Medienberichterstattung - dem Muster der Skandale folgend - den Zenit erreicht hatte, blieb die ansonsten so diskussionsfreudige Kinder- und Jugendhilfe eigentümlich stumm. Keine Tagungen, keine Fachbeiträge, keine Forschungsaufträge erschütterten die Landschaft. Gab es nichts zu lernen? Es schien - und scheint - wohl so, als hätte man sich darauf geeinigt, dass diese Missbrauchsverbrechen an Kindern und die darin verwickelten Behörden ein Einzelfall bleiben sollten, den dortigen Jugendämtern, den Familiengerichten, der Polizei, die den Missbrauch der ihnen anvertrauten Kinder übersehen hatten oder nicht sehen wollten, überlassen, ein Geschehen, weit ab von allen Fachdiskussionen, ein Missgeschick in der Provinz. Das Gespenst des Schweigens und des Wegsehens lastet noch vielfach über den Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Es kann viele Gestalten annehmen, Aktennotizen, die in den Archiven der Behörden verschwinden, Briefe, die nie abgeschickt wurden, Gebete, die zu nichts geführt haben, Rituale des Alltags, die schnell wieder ihre dünne Decke über das Schreckliche legen, endlose dürre Wortwiederholungen in den Erklärungen der Verantwortlichen. Im öffentlichen Raum hat das Gespenst des Schweigens die Form des Einzelfalls. Das hat nichts mit uns zu tun, das könnte bei uns nie passieren, wir haben hier ganz andere Standards, sagen die anderen Jugendämter, die Sozialbehörden, die Polizeibehörden, die Kindergärten, die Schulen, die anderen Gemeinden, Städte, Länder. Das Vergessen beginnt, noch bevor der Gedanke zu Ende gedacht ist. Aber die Geschichte eines sexuellenMissbrauchs ist immer auch die Geschichte eines Systems, das diesen Missbrauch zulässt, ihn vielleicht sogar ermöglicht. „Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu missbrauchen“ sagt der Opferanwalt Mitchell Garabedian im preisgekrönten Film „Spotlight“, der die Missbrauchsskandale der Katholischen Kirche in Boston und ihre journalistische Aufdeckung aufarbeitet. Jens Brachmann und seine Mitarbeiter Andreas Langfeld, Bastian Schwennigcke und Steffen Marseille haben diesen Satz wie eine Spur in ihr Buch „Tatort Odenwaldschule“ gelegt. Allein für die Erkenntnis, dass es niemals nur Einzeltäter und Einzelfälle sind, allein für die Erkenntnis, dass immer ein System, ein ganzes Dorf dazugehört, um den Missbrauch, das Dulden, das Wegsehen und das spätere Schweigen zu ermöglichen, ist das Buch Pflichtlektüre für alle Lehrenden, für alle Erzieherinnen und Erzieher, für alle Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in den Schulen, den Kindertageseinrichtungen, den Freizeiteinrichtungen, den Jugendämtern und allen Hilfeformen in der Kinder- und Jugendhilfe, denen der Satz „Das hat nichts mit uns zu tun“ schon einmal durch den Kopf ging. „Tatort Odenwaldschule“ ist im Jahr 2019 erschienen, neun Jahre nach dem medialen Aufbrechen der Skandale an den renommierten Internaten, dem Canisius Kolleg in Berlin, dem Klosterinternat Ettal oder dem Bonner Aloisiuskolleg und vier Jahre nach der Schließung der Odenwaldschule. Das Buch gründet auf dem Auftrag des Trägervereins der Odenwaldschule und im Einvernehmen mit dem Betroffenenverein Glasbrechen, die „Vorkommnisse sexualisierter Gewalt an der Odenwaldschule, deren Vorbedingungen sowie den institutionellen Brachmann, Jens (Hrsg. 2019): Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 560 Seiten, € 33,90 284 uj 6 | 2020 Rezension Umgang mit diesbezüglichen Hinweisen weiter aufzuklären“. Bemerkenswert an diesem Auftrag ist die Ausweitung des Zeitraums - es sollte nicht allein um Aufarbeitung der Zeit zwischen 1968 und 1988 gehen, sondern „insbesondere auch die Phase von 1998 bis 2010, in der die Vorfälle zunehmend öffentlich bekannt wurden“, berücksichtigt werden. Noch bemerkenswerter aber ist die Ausweitung des Zeitraums, die dem Gang der Dinge nach der Schließung geschuldet war - die Odenwaldschule wurde 2015 insolvent und musste schließen, die Auftragslage wurde selbst prekär und konnte erst durch die finanzielle Unterstützung des Landes Hessen zu Ende geführt werden. Damit aber öffnete sich eine weitere Perspektive, die das Buch „Tatort Odenwaldschule“ aus der mit großem investigativem Mut geschriebenen Kriminalgeschichte herausführt. Denn es geht nicht mehr allein um die Aufarbeitung der Geschichte der Taten und der Täter, sondern vor allem um einen diskursanalytischen Zugang zu den späteren Figuren der Aufarbeitung. Das Buch zeigt, wie sich die Gestalt der Diskurse der Aufarbeitung selbst in der Zeitgeschichte dieser Jahre verändert hat und - dies vor allem - selbst zum Scheitern und der Schließung der Schule beigetragen hat. Es mündet in der Erkenntnis, dass die Figuren der Aufarbeitung selbst Teil des Wegsehens sind, indem sie das Geschehen des Missbrauchs immer wieder aufs Neue zu einem exotischen Ort machen, der einmal Kirche heißt und ein andermal Reformpädagogik. „Tatort Odenwaldschule“ kratzt an den Knochen der pädagogischen Eliten in der Bundesrepublik Deutschland. Das Netzwerk des Unterstützerkreises des hessischen Internates war gewaltig, ein Kompendium der linksliberalen Bildungselite in Deutschland - Hellmut Becker, der Direktor des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung, der Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig, dessen Bücher fast als Bibel moderner Schulentwicklung verehrt wurden (und immer noch werden), Richard von Weizsäcker, der sich vielfach auch als Politiker für die Odenwaldschule eingesetzt hat, Martin Bonhoeffer, Gallionsfigur der Heimerziehungsreform in den 1970er Jahren, der beste Verbindungen zur Berliner Senatsverwaltung und der von ihr verantworteten Jugendhilfe hatte, Politiker des Landes Hessen, die gerne zu Jubiläumsfeiern gekommen sind, Vorstände des Trägervereins, denen der gute Ruf der Schule sehr am Herzen lag. Die Recherche ist erbarmungslos. Kein berühmter Name wird ausgelassen, kein Dokument bleibt ungelesen, kein Protokoll verschwindet, keine Notiz, kein Brief fällt unter den Tisch. Allein das Quellenverzeichnis umfasst mehr als dreißig Seiten: unveröffentlichte Quellen, Internetquellen, Zeitungsartikel, zusammengefasst unter der Rubrik „Quellenkorpus Diskursanalyse“, werden akribisch aufgeführt. Es gibt vier Hauptteile. Nach dem Teil Täter und Tätersysteme werden Sozialökologische Faktoren der Ermöglichung und Legitimation von sexualisierter Gewalt herausgearbeitet, die ihre Wurzeln in der Geschichte der Jugendbewegung und den Paradoxien der sexuellen Revolution haben. Im dritten Teil wird die Odenwaldschule im Kontext der öffentlichen Aufklärungskampagne als Produzentin einer schleppend-vertuschenden Phase aufgearbeitet, die sich von 1999, als die ersten Opfer sich öffentlich zu Wort meldeten, bis zur großen Welle der öffentlichen Auseinandersetzung im Jahr 2010 erstreckt hat. Fast unerträglich laut erscheint das Schweigen der Medien in den Jahren nach der Veröffentlichung des ersten Opferbriefes in der Frankfurter Rundschau im November 1999, das Stillhalten, der schmierige Schutzfilm, den die Unterstützer dieser Schule und ihrer pädagogischen Ideen bundesweit ausgebreitet haben, ist greifbar. Im vierten Teil schließlich widmet sich das Buch dem Scheitern der Odenwaldschule, das die Autoren auch als Scheitern eines Aufarbeitungsdiskurses verstehen, der den Ort der Odenwaldschule nie verlassen hat. Herzstück des Buches sind die erschütternden Darstellungen der Haupttäter, ihrer Lebensgeschichten, ihrer Verortung und ihres ungestöruj 6 | 2020 285 Rezension ten verbrecherischen Treibens an der Schule. Diese Schilderungen verzichten auf jede voyeuristische Trübung - im Wissen um die Taten legen die Tätergeschichten nicht den Akzent auf eine endlose Wiederholung intimster Details, sondern auf die Frage eines Tätersystems und eines dazugehörigen Unterstützernetzwerkes, dem es über lange Jahre gelingen konnte, durch Lügen, Leugnen, Vertuschen, Bagatellisieren und Manipulieren einen unablässig geschehenden Missbrauch zu ermöglichen. Die Autoren spüren im Teil Sozialökologische Faktoren der Ermöglichung den Bedingungen der Verbrechen an der Odenwaldschule nach. Der Spur der Dorf-Metapher folgend, unterteilen sie diese Suche nach „systemimmanenten Bedingungen“ und dem „gesellschaftlichen Bezugsrahmen“. Im Inneren des Systems identifizieren sie vor allem zu der Zeit des Haupttäters Gerold Becker eine chaotisch scheinende Organisation, deren Deprofessionalisierung und Entgrenzung vom Leiter der Schule systematisch betrieben wurde. In einer Art pädagogischem Laissez-faire war es den Lehrenden überlassen, wie sie mit ihrer Macht umgehen wollten. Der Weg von der Kumpelei zum sexuellen Übergriff ist unter diesen Bedingungen nicht weit. Zugleich aber war dieses vorgeblich chaotisch organisierte System ein autokratisches Machtsystem - unter der Leitung von Gerold Becker und dem Schutz seines Unterstützerkreises der Bildungseliten der Bundesrepublik wurde jeder Protest gegen diese Entgrenzung erbarmungslos verhöhnt und sanktioniert. Das Dorf, das den Missbrauch ermöglicht und weggesehen hat, war immer größer als die Odenwaldschule selbst, die Macht der Täter wurzelte in der Macht der Elitenkreise, der Netzwerke, der politischen Unterstützer. Dagegen aufzubegehren war fast aussichtslos - es hat mehr als zehn Jahre gedauert, bis die Stimmen der Opfer das Schweigesystem des bundesdeutschen Bildungshimmels übertönen konnten. Die Tapferkeit, mit der die Opfer diese langen Jahre ertragen haben, ist kaum vorstellbar. Den „Paradoxien der sexuellen Revolution“ schreiben die Autoren eine wesentliche Rolle zu bei der Ermöglichung sexuellen Missbrauchs gegen Kinder. Zu lesen ist, wie die Grundzüge der „sexuellen Revolution“, die die vorgebliche Freiheit des Körpers, die Freundschaft zu den eigenen Trieben, die Loslösung der Sexualität von moralischen Zwängen - auch die zwischen Erwachsenen und Kindern - propagiert hat, den Boden bereitet haben, um Missbrauch zu legitimieren. Selbst Vertreter der Kinder- und Jugendpsychiatrie hatten sich dieser vorgeblichen Befreiung verschrieben: „Ein gesundes Kind“, so wird der Arzt, Psychiater und Sexualforscher Eberhard Schorsch zitiert, „in einer intakten Umgebung verarbeitet nicht gewalttätige sexuelle Erlebnisse mit Erwachsenen ohne negative Dauerfolgen“. Die Spur des Missbrauchs ist mit solchen Sätzen gelegt, der Weg der Verharmlosung wurde frei, er zieht sich hinein bis heute, wenn es um Fragen der Entschädigung, der Anerkennung vom Leid der Opfer, der strafrechtlichen Bewertung von Taten geht. „Tatort Odenwaldschule“ zeigt, dass es keinen machtfreien Raum zwischen Erwachsenen und Kindern gibt. Gerade dort, wo die Macht geleugnet wird, wie es in den Diskursen der „sexuellen Revolution“ geschehen ist, zeigt sie ihre gierige Grimasse umso mehr. Das Buch ist keine Trauerarbeit. Es ist vielmehr ein Dokument eines langen Abschieds. Verabschiedet werden die reformpädagogischen Ideologien, die Idealisierung männlicher Pädagogen, die wichtigtuerische akademische Überhöhung pädagogischer Ideengeschichte, die sich letztlich als ziemlich unbedeutende Randerscheinung der Modernisierung der westlichen Gesellschaft erweist. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass es ausreicht, wenn es freundliche (Sozial)Pädagoginnen und (Sozial)Pädagogen gibt, die fest in ihrem Wissen und ihren moralischen Werten stehen und mit Anstand und ohne Eitelkeit in der für sie vorgesehenen Zeit und dem für sie vorgesehenen Raum ihre Arbeit machen. 286 uj 6 | 2020 Rezension Aber ohne deren Mut ist alles nichts. Das schweigende Dorf wird weitermachen wie bisher, wenn es nicht konkrete Personen gibt, die sich gegen das Dorf stellen. Das ist die Essenz der beiden letzten Teile des Buches, die sich mit den Diskursformen der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs und dem Scheitern der Odenwaldschule befassen. Alle formalen Strategien des Kinderschutzes zur Verhinderung und zur Aufdeckung von Missbrauch machen nur dann Sinn, wenn es diesen Mut von einzelnen Menschen gibt, rückhaltlos den Kindern zur Seite zu stehen. Die heute überall etablierten Konzepte und Strategien eines Qualitätsmanagements in den Institutionen des Aufwachsens, die seit den letzten Gesetzesänderungen im Kinderschutz Einzug genommen haben, können selbst zum Teil des Schweigens werden. Denn die Odenwaldschule hatte, so schreiben es die Autoren, in den Jahren nach 2010 eigentlich ihre Hausaufgaben gemacht - ein umfassendes Präventionskonzept wurde ausgearbeitet, eine Ombudsstelle wurde eingerichtet, ein Schutzkonzept mit externen Kooperationspartnern wurde etabliert, selbst der Auftrag, dem das Buch sein Entstehen verdankt, wurzelt in dem Bemühen, alles richtig zu machen. Aber die Odenwaldschule ist gescheitert. Wieder gab es Hinweise auf sexuelle Übergriffe eines Lehrers, wieder gab es Meldungen, Beschwerden, Auflagen, Gespräche. Die Spur des Schweigens zog sich weiter. Das System der Schule hat auch auf diesen Vorfall mit der ihm eigenen Trägheit und den Mitteln der Geschlossenheit reagiert. Alles sollte intern verhandelt und geregelt werden, nichts sollte nach außen dringen. Das System, gut geschützt durch sein internes Loyalitätsmanagement, hat die Prävention bloß inszeniert, den Kindern wieder nicht geglaubt, die Erwachsenen erneut geschützt. Auf Meldungen der Übergriffe hat die Schule mit Auflagen und Gesprächen für den Täter reagiert, statt entschieden für die Sicherheit der Kinder zu sorgen. All die Meldesysteme, die Beschwerdemanagementauflagen, die Regelungen und Vorschriften sind wirkungslos, wenn die Institutionen des Aufwachsens dem Mut keinen Platz einräumen. Zur Aufdeckung, Verhinderung, zur Prävention sexuellen Missbrauchs brauchen Institutionen nicht nur Konzepte und geregelte Zuständigkeiten. Sie brauchen Menschen, die sich nicht fürchten - vor dem Skandal, den Medien, den Tätern, dem Team, den Vorgesetzten, den Behörden. „Es braucht Persönlichkeiten“, schreibt Jens Brachmann in seinem Fazit, „die im existenziellen Bewältigungsfall Zivilcourage zeigen, sich furchtlos einsetzen, angstoffen aufbegehren, sich im Interesse des Kinderschutzes mit aller Konsequenz und ohne Rücksicht auf persönliche Loyalität oder geforderte Systemtreue gegen solidarische Verpflichtungen, gegen die Trägheit des Systems, gegen das in vermeintlich guter Tradition Überlieferte einer Institution stellen.“ Kinderschutz ist existenzielle Störung, er stört die Ideen, die Ideologien, die Überzeugungen, die Loyalitäten, das Zusammenhalten in Systemen. Diese Störung anzunehmen braucht auch den Mut der Einzelnen. Zivilcourage ist lernbar. Sie muss möglich sein, sie muss in den Institutionen geschützt werden. Das wäre ein Lernziel, das könnte den Hochschulen, den Beraterteams, den Bildungs- und Hilfesystemen in Deutschland, den Parteien und Regierungen, die sich die großen Worte der Bildungsideen auf die Fahne schreiben, zu denken geben. Maria Kurz-Adam E-Mail: kurz.adam@t-online.de DOI 10.2378/ uj2020.art45d
