eJournals unsere jugend 72/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art47d
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2020
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Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen

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Nora Gaupp
Claudia Krell
Wie wachsen junge Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans* und queere Menschen in einer Gesellschaft auf, in der einerseits eine Liberalisierung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt stattfindet, andererseits eine zunehmende Retraditionalisierung deutliche Spuren hinterlässt? Dieser Beitrag beleuchtet zentrale Bereiche im Aufwachsen und (Er-)Leben von LSBT*Q-Jugendlichen.
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290 unsere jugend, 72. Jg., S. 290 - 298 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art47d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen Wie wachsen junge Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans* und queere Menschen in einer Gesellschaft auf, in der einerseits eine Liberalisierung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt stattfindet, andererseits eine zunehmende Retraditionalisierung deutliche Spuren hinterlässt? Dieser Beitrag beleuchtet zentrale Bereiche im Aufwachsen und (Er-)Leben von LSBT*Q-Jugendlichen. von Nora Gaupp Jg. 1975; Diplom-Psychologin, Fachgruppenleiterin LSBT*Q Jugendliche - Jugendliche wie „alle anderen“ auch? ! Lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und queere (LSBT*Q) Jugendliche (im Folgenden sind damit junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren gemeint) sind auf der einen Seite und in erster Linie Jugendliche mit alterstypischen Lebensstilen, Wünschen und Zielen (Gaupp/ Krell 2019). Sie teilen sich mit allen Jugendlichen in Deutschland die gesellschaftlichen Bedingungen des Aufwachsens, leben also im selben politischen System, erleben gesellschaftliche Krisen und Strömungen. Ihre individuellen Lebenssituationen sind dabei so unterschiedlich wie bei ihren Peers auch: Sie wachsen in verschiedenen sozialen Gesellschaftsschichten auf, die ihren Alltag prägen und den Besuch bestimmter Schulformen mehr oder weniger wahrscheinlich machen. Sie engagieren sich in verschiedenen Jugendorganisationen und verfügen über politisch-gesellschaftliche und religiöse Einstellungen und Werthaltungen. Je nach ihrer Herkunft definieren sie sich als Bürger*innen Deutschlands, als junge Europäer*innen oder mit einem bestimmten Land verwurzelt und sie gehören verschiedenen Jugendszenen an (Gaupp 2015). Diese Reihe von Beschreibungen ließe sich beliebig fortsetzen. Gemeinsam mit allen Jugendlichen stehen LSBT*Q-Jugendliche vor vielfältigen alterstypischen Entwicklungsaufgaben. Zu diesen zählen aus jugendpsychologischer und -soziologischer Perspektive z. B. die Ausbildung intellektueller und sozialer Kompetenzen sowie eines ethisch und politischen Bewusstseins, die Entwicklung eines inneren Bildes der eigenen sexuellen Identität, die Bewältigung von Anforderungen im Bildungs- und Arbeitsbereich, das Ausprobieren von Bezie- Claudia Krell Jg. 1975; Diplom-Psychologin, wissenschaftliche Referentin 291 uj 7+8 | 2020 Lebenssituationen von LSBT*Q-Jugendlichen hungen oder die Ablösung vom Elternhaus (z. B. Hurrelmann 2013; Oerter/ Montada 2002). Festzuhalten bleibt, dass die Lebensphase Jugend wesentlich durch eine Vielfalt an Zugehörigkeiten, Identitäten und Entwicklungen gekennzeichnet ist (Gaupp 2015). Auf der anderen Seite leben LSBT*Q-Jugendliche in einer besonderen Lebenssituation, die vom gesellschaftlichen Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt geprägt ist. Sie durchleben meist ein inneres und äußeres Coming-out, müssen mit möglichen Diskriminierungserfahrungen umgehen und Strategien entwickeln, wie sie als junge LSBT*Q-Person in einer heteronormativ geprägten Umwelt leben wollen bzw. können (Krell/ Oldemeier 2017). Eine Konsequenz aus dieser Situation ist, dass jugendtypische Anforderungen, die Nicht- LSBT*Q-Jugendliche beschreiben, wie z. B. Sorgen bezogen auf Schule oder Ausbildung, finanzielle Probleme oder Unsicherheiten über ihr Aussehen und Erscheinungsbild, bei LSBT*Q- Jugendlichen durch Aspekte in den Hintergrund gedrängt werden, die mit ihrem Aufwachsen in einer heteronormativen Umwelt in Zusammenhang stehen (HRC 2012). Herausforderungen, wie beispielsweise Probleme in der Familie oder der Schule, die sich bezogen auf ihre sexuellen Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit ergeben, erleben sie zusätzlich zu alterstypischen Fragen. Dies führt in der Folge bei einem Teil von LSBT*Q-Jugendlichen zu einer deutlich höheren persönlichen Belastung (Plöderl 2016). LSBT*Q - was? Eine kurze Begriffsklärung zu Anfang Sexuelle Orientierung Die sexuelle Orientierung bezeichnet das fortbestehende individuelle Interesse einer Person mit Blick auf die geschlechtliche Zugehörigkeit möglicher Partner*innen. Sie umfasst Aspekte von emotionaler, romantischer und/ oder sexueller Attraktion. Lesbisch, schwul, hetero-, bi-, pan- oder asexuell sind mögliche Selbstbezeichnungen im breiten Spektrum sexueller Orientierungen. Geschlechtliche Zugehörigkeit Die geschlechtliche Zugehörigkeit bezeichnet die individuelle Selbstverortung einer Person als weiblich, männlich, keinem, beiden oder einem weiteren Geschlecht zugehörig. „Gender“ stellt hierbei die Dimension des sozialen Geschlechtes dar und ermöglicht eine Abgrenzung zu körperlichen geschlechtlichen Merkmalen („sex“). Trans*, inter*, cis, genderqueer und nicht-binär sind nur einige von vielen möglichen Selbstbeschreibungen für die eigene geschlechtliche Zugehörigkeit. Bei trans*- (transsexuellen/ transgeschlechtlichen) Jugendlichen stimmt ihr zugewiesenes Geburtsgeschlecht nicht mit ihrer individuellen geschlechtlichen Zugehörigkeit überein. Bei cis (cisgeschlechtlichen) Personen entspricht die geschlechtliche Zugehörigkeit dem zugewiesenen Geschlecht. Bei inter* (intersexuellen/ intergeschlechtlichen) Menschen erfüllen u. a. die sogenannten „primären Geschlechtsmerkmale“ häufig nicht die medizinisch definierten, ausschließlich männlichen oder weiblichen Formen von Geschlecht. LSBT*Q LSBT steht als Akronym für lesbisch, schwul, bisexuell und trans* (im internationalen Raum LGBT für lesbian, gay, bisexual, transgender). In den letzten Jahren fand eine Ausdifferenzierung bzw. Ergänzung statt, beispielsweise durch I* für inter* oder Q für questioning/ queer. Der Begriff „queer“, was so viel wie „anders“, „verrückt“ oder „seltsam“ bedeutet, war lange Zeit, ähnlich wie „lesbisch“ oder „schwul“ nega- 292 uj 7+8 | 2020 Lebenssituationen von LSBT*Q-Jugendlichen tiv konnotiert. Inzwischen wurde er von Aktivist*innen positiv besetzt und dient als stolze Eigenbezeichnung. Im vorliegenden Beitrag steht der Begriff queer als Oberbegriff für Selbstbeschreibungen der sexuellen Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit, die über die Kategorien lesbisch, schwul, bisexuell und trans* hinausgehen - deshalb wird im Folgenden LSBT*Q als Akronym verwendet. Ein ausführliches Glossar findet sich in Krell/ Oldemeier (2017) sowie im Internet unter queer-lexikon.net. Coming-out Die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse stammen, soweit nicht anders gekennzeichnet, aus zwei Studien bzw. Publikationen, die am DJI zu den Lebenssituationen von LSBT*Q-Jugendlichen veröffentlicht wurden: „Coming-out - und dann …? ! “ (Krell/ Oldemeier 2017) und „Queere Freizeit“ (Krell/ Oldemeier 2018). Inneres Coming-out - Prozess der Bewusstwerdung Das innere Coming-out, also die Bewusstwerdung über und die Auseinandersetzung mit der eigenen sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Zugehörigkeit, beginnt häufig schon früh. Bereits während der Grundschulzeit oder mit Beginn der Pubertät etabliert sich ein Gefühl des „Anders-Seins“. Oft haben Heranwachsende keine passenden Begriffe für ihre Empfindung, ihre Selbstdefinition und -identifikation findet deswegen über die Abgrenzung von dem statt, was sie kennen: Ich bin nicht heterosexuell oder ich bin kein Mädchen oder kein Junge. „Da denkt man sich immer ,Ok, es ist vielleicht nicht wie bei der Mehrheit der anderen‘, aber dass einem das nicht bewusst ist, weil man einfach den Begriff nicht kennt.“ (Manuel, 20 Jahre, cis-männlich, schwul) Für viele LSBT*Q-Jugendliche ist das innere Coming-out, das oft mehrere Jahre dauert, eine ambivalente bis schwierige Zeit, in der sie zum Teil eine starke soziale Isolation erleben. LSBT*Q- Jugendliche können im Gegensatz zu heterosexuellen, cisgeschlechtlichen Jugendlichen nicht mit dem gleichen Selbstverständnis über ihre Empfindungen sprechen, die sie vielleicht als verwirrend, beängstigend, bedrohlich oder auch schön erleben, ohne dass ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit zum Thema wird. Während des inneren Coming-outs entwickeln viele Jugendliche zudem Befürchtungen vor einem möglichen äußeren Coming-out: Bei drei Viertel der Jugendlichen (74 %) ist dies die Sorge, von Freund*innen abgelehnt zu werden, wenn diese erfahren, dass sie lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder queer sind. Sieben von zehn jungen Menschen (70 %) haben Angst vor Ablehnung durch Familienmitglieder, zwei Drittel befürchten verletzende Bemerkungen oder Blicke (66 %). Weit über die Hälfte der Jugendlichen (61 %) nimmt an, dass ein Coming-out zu Problemen im Bildungs- und Arbeitsbereich führt. Für trans*- und queere Jugendliche steht die Angst im Vordergrund, nicht ernstgenommen zu werden (73 %). Viele Jugendliche fühlen sich während des inneren Coming-outs belastet. Äußeres Coming-out - Going public Das Bedürfnis, über die eigenen Gefühle sprechen zu können und sich nicht mehr verstellen zu müssen, ist oft ausschlaggebend für ein äußeres Coming-out. Um über das eigene Erleben sprechen, Unterstützung erhalten und authentisch sein zu können, müssen die Jugendlichen benennen, dass sie lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder queer sind und damit klarstellen, dass sie in ihrem Empfinden nicht heteronormativen Erwartungen entsprechen. Vielfach beschreiben die jungen Menschen die Reaktionen auf das erste äußere Coming-out als positiv, was daran liegt, dass sich die Jugendlichen hierfür eine Vertrauensperson, meist aus dem Freundeskreis, suchen. 293 uj 7+8 | 2020 Lebenssituationen von LSBT*Q-Jugendlichen „Es war lustigerweise eigentlich das nicht schlimmste Coming-out, aber so das schwerste, weil es halt das erste war.“ (Emil, 17 Jahre, cis-männlich, schwul) Die überwiegend positiv beschriebenen Reaktionen nehmen den oft langen und schwierigen Verläufen des inneren Coming-outs und den damit verbundenen Befürchtungen jedoch nicht ihre Bedeutung. Diese waren real und werden durch positive Reaktionen nicht ungeschehen gemacht, sondern bleiben Teil der Biografie und prägen diese. Im weiteren Verlauf werden die Reaktionen heterogener, teils auch negativer, weil vermehrt Menschen involviert sind, die ggf. keine enge oder positive Beziehung zu den Jugendlichen haben. Coming-out bleibt ein individueller Prozess, es gibt hier keinen Maßstab, wie ein „gelungenes“ Coming-out aussieht. Coming-out bleibt zudem eine lebenslange Aufgabe - in jeder neuen sozialen Situation muss eine Person entscheiden, wie sie mit ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Zugehörigkeit umgehen möchte. Mit der Zeit entwickeln viele Jugendliche hierbei eine gewisse „Routine“, was negative Reaktionen, Ausgrenzung oder Diskriminierungserfahrungen jedoch nicht „weniger schlimm“ macht. Bei trans* oder genderqueeren Jugendlichen ist der Coming-out-Prozess oftmals von individuellen Transitionsschritten begleitet. Hierzu gehören beispielsweise eine rechtliche Namens- und Personenstandsänderung oder medizinische hormonelle und/ oder operative Maßnahmen. Diese sind für die jungen Menschen oft sehr zeit- und kostenaufwendig. Angesichts fehlenden allgemeinen Wissens müssen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen häufig zu Expert*innen in eigener Sache werden, um ihren individuellen Weg gehen zu können. Familie - immer etwas Besonderes Für die meisten Jugendlichen ist die Familie ein zentraler Lebensbereich, von dem sie in hohem Maße emotional, finanziell und bis zu einem gewissen Alter auch rechtlich abhängig sind und dem sie sich kaum entziehen können. Ein Coming-out in diesem bedeutsamen Lebenskontext ist deshalb zum einen für die meisten Jugendlichen ein besonderes Ereignis, zum anderen hat es nicht selten Auswirkungen auf das Zusammenleben der Familienmitglieder. Die Reaktionen von Eltern reichen von unterstützenden oder neutralen Haltungen bis hin zu angedrohten oder vollzogenen Beziehungsabbrüchen. LSBT*Q-Jugendliche haben zudem seltener als heterosexuelle und cisgeschlechtliche Jugendliche eine Person in ihrem familiären Umfeld, die ihnen zur Seite steht und an die sie sich bei Problemen wenden können (HRC 2012). Im Gegensatz zu Jugendlichen, die beispielsweise aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Hautfarbe oder ihrer Religionszugehörigkeit soziale Ausgrenzung oder Diskriminierung erfahren, gibt es im Familienverbund meist keine Person, mit der die jungen LSBT*Q-Menschen ihr „Stigma“ teilen. Anders als bei Jugendlichen der genannten gesellschaftlichen Gruppen beginnen für LSBT*Q-Jugendliche die Probleme oft schon zu Hause (ILGA- Europe 2006). „Aber ich hab‘ halt gewusst, dass meine Mutter und ihr Freund, dass die halt nicht so cool drauf sind. Auch eigentlich fast nie drüber gesprochen haben, aber das, was ich dann halt gehört habe, da habe ich mir natürlich Sorgen gemacht, weil zum Beispiel ihr Freund hat mal irgendwie ,Schwulsein‘ mit ,Pädophilie‘ gleichgestellt. Oder meine Mutter hat irgendwann mal gesagt, dass es halt nicht ok ist - und dieser eine Satz ist halt in meinen Kopf praktisch eingebrannt.“ (Andi, 17 Jahre, cis-männlich, schwul) Etwa die Hälfte aller befragten LSBT*Q-Jugendlichen hat in der engeren Familie Diskriminierung erlebt. Von ihnen berichten 65 %, dass ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit nicht ernstgenommen und 47 %, dass diese absichtlich ignoriert wurde. Mehr als jede*r zehnte Jugendliche hat soziale Ausgrenzung in der Familie erlebt (11 %), 17 % wurden 294 uj 7+8 | 2020 Lebenssituationen von LSBT*Q-Jugendlichen beleidigt, beschimpft oder lächerlich gemacht. Negative Erfahrungen führen zu einem hohen Belastungserleben der jungen Menschen und fehlende familiäre Unterstützung erschwert den Coming-out-Prozess. Eine enge und unterstützende Beziehung zu der Familie ist zudem einer der wichtigsten Faktoren bei der Prävention von Suiziden von LSBT*Q-Jugendlichen (Eisenberg/ Resinek 2006). Schule - ein ambivalenter Ort Jugendliche, die sich nicht als heterosexuell oder cisgeschlechtlich definieren, erleben in ihrem Schulalltag häufig eine widersprüchliche Situation: Auf der einen Seite sind die Themen sexuelle Orientierung und geschlechtliche Zugehörigkeit im Schulalltag omnipräsent. Spätestens mit Beginn der Adoleszenz gewinnt die Frage nach der eigenen geschlechtlichen Rolle sowie das damit verbundene Begehren und die sexuelle Entwicklung an Bedeutung. Dies alles spielt sich jedoch meist in einem heterosexuellen Zwei-Geschlechter-System ab. LSBT*Q-Lebensweisen, die sich außerhalb dieses Rahmens bewegen, tauchen oft lediglich in Form von Schimpfworten und Diskriminierung in Schulhöfen oder Klassenzimmern auf (Stonewall 2017; Klocke 2012). Auf der anderen Seite sind sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Lerninhalt selten Thema und in Unterrichtsmaterialien sowie im Schulalltag unsichtbar. Schule richtet ihr Handeln und ihre Wissensvermittlung implizit an heterosexuellen und cisgeschlechtlichen Alltagswelten aus. „Wir hatten ,Sexualkunde‘, da ging es nur um Mann und Frau. Wir hatten in ,Ethik‘ das Thema ,Liebe und Partnerschaft‘, da ging es nur um Mann und Frau. Und mir ist das so im Nachhinein mal aufgefallen, dass es so völlig außen vor war, dass es irgendwie nie darum ging, Frau und Frau oder Mann und Mann oder auch transgender, also irgendwie ist es in der Schule völlig weggeblieben. […] Hätte ich das damals in der Schule schon mitgekriegt, dann hätte ich vielleicht nicht so eine Angst davor gehabt, das irgendwem zu sagen.“ (Henrike, 27 Jahre, cis-weiblich, lesbisch) Eine Analyse von Schulbüchern zeigt, dass hier und in anderen Unterrichtsmaterialien in der Regel noch immer eine „natürliche“ Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität abgebildet wird und z. B. gleichgeschlechtliche Lebensweisen dadurch implizit zur „Abweichung vom Normalen“ werden (Bittner 2011). Allerdings gibt es verhaltene, positive Entwicklungen: So zeigt sich beispielsweise, dass im Vergleich zu früheren Jahren heute deutlich mehr Jugendliche in der Schule zumindest vom Thema Homosexualität im Aufklärungsunterricht hören (BZgA 2015). Begleitet wird eine Erwähnung, so sie denn erfolgt, allerdings häufig mit der Betonung, Homosexualität sei „nichts Schlimmes“ (Klocke 2016), eine positive und identitätsstiftende Darstellung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* oder queeren Lebensweisen erfolgt so gut wie nie. Ob und wenn ja in welcher Form sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Thema aufgegriffen wird, hängt zudem häufig vom Engagement einzelner Personen ab. Für LSBT*Q-Jugendliche hat dies mitunter gravierende Folgen, ein Teil von ihnen hat vor ihrem äußeren Coming-out Angst, dass sie dadurch Probleme in der Schule, Ausbildung oder Arbeit erleben. Dass diese Sorge nicht ganz unbegründet ist, zeigt sich beispielsweise daran, dass in 9. und 10. Jahrgangsstufen Berliner Schulen 54 % der männlichen Schüler nicht neben einem schwulen Mitschüler sitzen wollen und 43 % der weiblichen Schüler*innen dies über eine lesbische Mitschülerin sagen (Klocke 2012). Knapp die Hälfte der LSBT*Q-Jugendlichen (41 %) hat in der Schule bereits Diskriminierung erlebt, die sich häufig in der Nutzung von LSBT*Q-feindlichen Schimpfworten und Witzen zeigt: 295 uj 7+8 | 2020 Lebenssituationen von LSBT*Q-Jugendlichen „Dass ein fremdes Mädchen einfach dazugekommen ist und mich halt gefragt hat ,Bist Du lesbisch‘. Und in dem Moment hatte ich mich noch als heterosexuell identifiziert und hatte dann halt gesagt ,Nein‘. Und dann kam die Frage, ob ich denn ein Mädchen sei - ,Ja‘. ,Also bist Du lesbisch‘ - ,Nein! ‘, ,Aber Du bist mit einem Mädchen zusammen‘. Also, das ging mehrere Minuten lang. Bis sie dann weggegangen ist mit den Worten ,Scheiß Lesbe‘.“ (Becca, 16 Jahre, cis-weiblich, lesbisch) Dass die sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Zugehörigkeit überbetont wird (41 %) oder die jungen Menschen von anderen ausgeschlossen werden (34 %), erleben sie ebenso wie körperliche Übergriffe (10 %) oder die Zerstörung von Eigentum (12 %). Allerdings zeichnet sich auch mit Blick auf Diskriminierungserfahrungen im Schulkontext eine Veränderung ab: Auch, wenn noch immer knapp jede*r zweite Jugendliche (45 %) negative Erfahrungen macht (Stonewall 2017, 8), ist dies im Vergleich zu den vergangenen Jahren eine deutliche Verbesserung: Im Jahr 2012 lag die Zahl noch bei 55 %, 2007 bei 65 % (ebd.). Auf die Unterstützung von Lehrkräften können LSBT*Q-Jugendliche bei Diskriminierung nur bedingt hoffen, da diese häufig dann passiert, wenn kein*e Lehrer*in anwesend ist oder weil diese nicht eingreifen (Klocke 2012; Krell/ Oldemeier 2017). Ein weiterer Aspekt der Lebenswelt Schule ist, dass Lehrkräfte, die selber nicht heterosexuell oder cisgeschlechtlich sind, meist nicht offen an ihrer Schule auftreten, wodurch es wiederum kaum Rollenvorbilder für LSBT*Q-Jugendliche gibt (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2017). Gründe hierfür sind unter anderem, dass Lehrkräfte Stigmatisierung befürchten und Angst vor Respektverlust haben (ebd.). Zum Teil vermeiden sie einen offenen Umgang auch deshalb, weil sie ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit als Privatangelegenheit betrachten (ebd.). Ebenso wie Lehrkräfte vermeidet ein Teil der LSBT*Q- Jugendlichen zum eigenen Schutz ein Comingout während ihrer Schulzeit und wartet damit, bis sie die Schule verlassen haben. Freundeskreis - eine wichtige Ressource Eine zentrale Ressource für junge LSBT*Q ist ihr Freundeskreis. Dessen Wichtigkeit zeigt sich darin, dass die Befürchtung, Freundschaften zu verlieren, eine der größten Ängste vor einem Coming-out ist. Die beste Freundin oder der beste Freund sind häufig die erste Person, mit der über die eigene sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit gesprochen wird, weil sich junge LSBT*Q hier Verständnis und Unterstützung erhoffen. „Mein bester Freund, der hat perfekt reagiert, also der hat gesagt, da gibt’s jetzt für ihn keinen Unterschied zu vorher und nachher.“ (Eric, 21 Jahre, trans* männlich, heterosexuell) Trans* und gender*diverse Jugendliche haben besonders „queere“ Freundeskreise, was darauf hindeutet, dass für sie Schutzräume und der Kontakt zu Personen, die in einer ähnlichen Lebenssituation sind, sehr wichtig sind. Freundschaften sind sowohl offline wie online von großer Bedeutung. Wenn es im Freundeskreis zu negativen Erfahrungen kommt (z. B. durch übertriebene Neugier am Privatleben), sind diese für die jungen Menschen - im Vergleich zu negativen Erlebnissen in der Familie oder an Bildungsorten - am wenigsten belastend. Das Comingout ist in diesem Kontext am einfachsten. Zum Teil verändern sich Freundschaften nach einem Coming-out oder brechen ab, mehrheitlich bieten Freund*innen aber Stabilität und stellen ein großes Unterstützungspotenzial dar. Freizeit und Internet Freizeitkontexte sind für LSBT*Q-Jugendliche ebenfalls wichtige Bestandteile ihrer Lebenswelt, die sie in unterschiedlicher Intensität nut- 296 uj 7+8 | 2020 Lebenssituationen von LSBT*Q-Jugendlichen zen. In der Freizeit sind junge Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans* und queere Personen dabei einer täglichen Ambivalenz ausgesetzt: auf der einen Seite machen sie dort viele positive Erfahrungen, auf der anderen Seite findet dort häufig Diskriminierung, soziale Exklusion und LSBT*Q-Feindlichkeit statt. Dies gilt für den digitalen Raum ebenso wie für (jugend)kulturelle Orte (wie Kino, Bars, Cafés, Partys), Sportangebote, Öffentlichkeit oder Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit (wie Jugendgruppen und -zentren). Das Internet als Medium, über das LSBT*Q Jugendliche anonym und einfach an Informationen über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt kommen, spielt in ihrem Leben eine zentrale Rolle. Dies gilt insbesondere während des inneren Coming-outs, aber auch darüber hinaus: „… natürlich über das Internet. Das war so der Weg, wo man halt mal kucken konnte, ohne dass es jemand merkt.“ (Johanna, 25 Jahre, cis-weiblich, lesbisch) LSBT*Q-Jugendliche verbringen täglich 45 Minuten mehr online als ihre heterosexuellen, cisgeschlechtlichen Peers (GLSEN 2013) und geben an, dass sie online offener über sich und ihr Leben berichten können, als ihnen dies offline möglich ist (HRC 2012). Zudem beteiligen sich LSBT*Q-Jugendliche aktiver im Internet als Nicht-LSBT*Q-Jugendliche, stellen beispielsweise öfter selber etwas ins Netz, bloggen, twittern oder beteiligen sich an Diskussionen. Dadurch machen sie sich allerdings auch angreifbar, was auch dadurch sichtbar wird, dass das Internet der Freizeitbereich ist, in dem LSBT*Q-Jugendliche mit Abstand am häufigsten Diskriminierung erleben: „…ich hab versucht, sachlich zu argumentieren und irgendwie Fakten darzulegen und hab aber irgendwie immer mehr so verletzende Sachen zurückgekriegt.“ (Clemens, 24 Jahre, genderfluid, asexuell) Strategien der Jugendlichen Um Herausforderungen aufgrund des gesellschaftlichen Umgangs mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt zu bewältigen, entwickeln LSBT*Q-Jugendliche unterschiedliche Strategien. Zum einen sind dies Strategien, bei denen die Jugendlichen aktiv handeln (Handlungsstrategien), zum anderen Strategien, mit denen sie in gedanklichen Auseinandersetzungen Dinge interpretieren, erklären und deuten (Deutungsstrategien). Handlungsstrategien sind beispielsweise die Suche nach emotionalem Rückhalt und Informationen, das Schaffen von Raum für eigenes Engagement und eine oftmals strategische Planung des Coming-outs. Auch die aktive Vermeidung z. B. von Situationen, die Diskriminierung zur Folge haben können, zählen dazu. Durch Deutungsstrategien finden LSBT*Q- Jugendliche Wege, negative Erfahrungen zu verarbeiten, indem sie diese z. B. relativieren, idealisieren oder legitimieren. Alle diese Strategien zielen darauf ab, den Coming-out-Prozess zu bewältigen und einen Platz im Leben zu finden, der ihnen ein möglichst konflikt- und diskriminierungsarmes Leben ermöglicht. Handlungsbedarfe Das Wissen über die Lebenssituationen von LSBT*Q-Jugendlichen ist Grundlage für Handlungsbedarfe, die aufzeigen, wo Veränderungen notwendig sind, damit LSBT*Q-Jugendliche Unterstützung, Beteiligung und Chancengleichheit in ihrem Aufwachsen erleben: Digitale Medien sollten als Ressource ausgebaut werden, da über das Internet meist der erste Zugang zum Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt hergestellt wird, Vernetzung mit anderen LSBT*Q-Jugendlichen erfolgt und sich die jungen Menschen online einbringen können. Gleichzeitig muss ein besserer und zielgerichteter gesellschaftlicher wie juristischer Umgang mit Anfeindungen im Internet etabliert werden. Freizeit- und Beratungsangebote für Jugendliche, sowohl mit als auch ohne LSBT*Q- 297 uj 7+8 | 2020 Lebenssituationen von LSBT*Q-Jugendlichen Bezug, sollten weiterentwickelt und ausgebaut werden. LSBT*Q-spezifische Einrichtungen wie z. B. queere Jugendzentren bieten einen geschützten Raum für queere junge Menschen, in dem sie sich kennenlernen, ausprobieren, informieren und engagieren können. Für allgemeine Freizeiteinrichtungen sollte es Ziel sein, sich für alle Zielgruppen zu öffnen. So können LSBT*Q-Jugendliche, die in deren Nähe keine spezifischen Angebote finden, auf jugendgerechte und kompetente Anlaufstellen in ihrer Nähe zugreifen. Hierfür ist es wichtig, Fachkräfte zum Thema LSBT*Q zu qualifizieren. Dies gilt zum einen für Personen, die indirekt mit LSBT*Q- Jugendlichen in Kontakt sind (z. B. Mitarbeiter*innen in medizinischen Kontexten, Behörden oder Krankenkassen) aber insbesondere für diejenigen, die direkt (pädagogisch) mit Jugendlichen arbeiten, z. B. Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Pädagog*innen und Lehrer*innen. An Freizeit-, Bildungs- und Arbeitsstätten kann so Diskriminierung abgebaut und Vielfalt gefördert werden. Dies gilt insbesondere für den Bereich Schule, in dem vielfältige Lebensentwürfe von Anfang an ein Thema sein und Diskriminierung, Homobzw. Trans*feindlichkeit klar entgegengetreten werden sollte, wozu es eine klare Haltung der Schule braucht. Darüber hinaus bedarf es realistischer Rollenvorbilder auf verschiedenen Ebenen. LSBT*Q- Lebensweisen abseits von klischeehaften, medialen Inszenierungen als alternative, gleichwertige Lebensformen darzustellen ist ein wichtiges Element, um zu einer „Entdramatisierung“ des Themas beizutragen. Ebenso gilt es, gesellschaftliche Entwicklungen hin zu einem offenen und wertschätzenden Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt weiter zu befördern. Hierzu trägt eine rechtliche Gleichstellung von nicht-heterosexuellen und nicht-cisgeschlechtlichen Lebensweisen bei, wobei hier insbesondere die Depathologisierung von trans* fokussiert werden muss. Weitere Beispiele für gesellschaftliche Entwicklungsbedarfe sind beispielsweise die Strukturen im Breitensport und ihre Nutzbarkeit für (junge) LSBT*Q-Personen sowie die konzeptionelle Weiterentwicklung von Lehr- und Bildungsmaterialien hin zu einer selbstverständlicheren Darstellung von vielfältigen Lebensformen - nicht nur bezogen auf das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, aber auch. Dr. Nora Gaupp Deutsches Jugendinstitut E-Mail: gaupp@dji.de Tel.: (0 89) 62 30 63 24 Dr. Claudia Krell Deutsches Jugendinstitut E-Mail: krell@dji.de Tel.: (0 89) 62 30 63 10 Literatur Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.) (2017): LSBTIQ*-Lehrkräfte in Deutschland. Diskriminierungserfahrungen und Umgang mit der eigenen sexuellen und geschlechtlichen Identität im Schulalltag. Verfügbar unter: http: / / www.antidiskriminierungsstelle.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ publikationen/ Umfra gen/ LSBTIQ_Lehrerkraeftebefragung.pdf? __blob= publicationFile&v=1, 19. 6. 2020 Bittner, M. (2011): Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI) in Schulbüchern. Eine gleichstellungsorientierte Analyse mit einer Materialsammlung für die Unterrichtspraxis. Frankfurt am Main Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.) (2015): Jugendsexualität. Die Perspektive der 14 - 25-Jährigen. Köln Eisenberg, M. E., Resnick, M. D. (2006): Suicidality among gay, lesbian and bisexual youth: the role of protective factors. In: Journal of Adolescent Health 39, 662 - 668, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.jadohealth.2006.04.024 298 uj 7+8 | 2020 Lebenssituationen von LSBT*Q-Jugendlichen Gaupp, N., Krell, C. (2019): Neu positionieren und öffnen - LSBT*Q Jugendliche in der Jugendarbeit. InfoDienst - Magazin für kulturelle Bildung, 133, 10 - 14 Gaupp, N. (2015): (Lebens-)Welten von Jugendlichen sind bunt - Jugendforschung und Jugendhilfe müssen diese Vielfalt abbilden. In: dreizehn. Zeitschrift für Jugendsozialarbeit. Heft 14: 10 - 14 Gay, Lesbian & Straight Education Network (GLSEN) (2013): Out online - The Experiences of Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Youth on the Internet. https: / / doi.org/ 10.4135/ 9781412963916.n157 Human Rights Campaign (HRC) (Hrsg.) (2012): Growing up LGBT in America. HRC Youth Survey Report. New York Hurrelmann, K. (2013): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Beltz, Weinheim ILGA-Europe/ IGLYO (2006): Social exclusion of young lesbian, gay, bisexual and transgender (LGBT) people in Europe. Brüssel Klocke, U. (2012): Akzeptanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen: Eine Befragung zu Verhalten, Einstellungen und Wissen zu LSBT und deren Einflussvariablen. Senatsverwaltung Berlin, https: / / www.psychologie. hu-berlin.de/ de/ prof/ org/ download/ klocke2012_1 Klocke, U. (2016): Homophobie und Transphobie in Schulen und Jugendeinrichtungen: Was können pädagogische Fachkräfte tun? Verfügbar unter: https: / / www.vielfalt-mediathek.de/ data/ formatiert_klocke_ 2016_homophobie_und_transphobie_in_schulen_ und_jugendeinrichtungen_vielfalt_mediathek_ ohne_demokratie_leben_1.pdf, 1. 7. 2020 Krell, C., Oldemeier, K. (2018): Queere Freizeit. Inklusions- und Exklusionserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und *diversen Jugendlichen in Freizeit und Sport. DJI Krell, C., Oldemeier, K. (2017): Coming-out - und dann …? ! Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Barbara Budrich, Opladen Oerter, R., Montada, L. (Hrsg.) (2002): Entwicklungspsychologie. Beltz, Weinheim Plöderl, M. (2016): Out in der Schule? Bullying und Suizidrisiko bei LGBTI Jugendlichen. In: Suizidprophylaxe 43, Heft 1, 6 - 13 Stonewall (2017): School report. The experiences of lesbian, gay, bi and trans young people in Britain’s schools in 2017. Verfügbar unter: https: / / www.stonewall.org. uk/ system/ files/ the_school_report_2017.pdf, 19.6.2020