eJournals unsere jugend 72/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art49d
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2020
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Regenbogenkompetenz in der Kinder- und Jugendhilfe

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2020
Ulrike Schmauch
Ziel des Beitrages ist es, das Konzept der Regenbogenkompetenz darzustellen und seine Praxisrelevanz für die Kinder- und Jugendhilfe deutlich zu machen. Es werden zwei ausführliche Fallbeispiele mitgeteilt und mit Anregungen für das Handeln im pädagogischen Alltag verknüpft.
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306 unsere jugend, 72. Jg., S. 306 - 312 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art49d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Regenbogenkompetenz in der Kinder- und Jugendhilfe Ziel des Beitrages ist es, das Konzept der Regenbogenkompetenz darzustellen und seine Praxisrelevanz für die Kinder- und Jugendhilfe deutlich zu machen. Es werden zwei ausführliche Fallbeispiele mitgeteilt und mit Anregungen für das Handeln im pädagogischen Alltag verknüpft. von Prof. (i. R.) Dr. Ulrike Schmauch Jg. 1949; Dipl.-Heilpädagogin, Frankfurt University of Applied Sciences, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit In diesem Beitrag geht es um die berufliche Handlungsfähigkeit sozialer Fachkräfte im Hinblick auf sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Die dem Konzept der Regenbogenkompetenz zugrunde liegende Idee habe ich seit den 1990er Jahren im Kontext von Aus- und Fortbildung in der Sozialen Arbeit entwickelt und durch die Auseinandersetzung mit neuen Erfahrungen in der Praxis sowie mit politischen und fachlichen Debatten weiter ausgearbeitet (zu Vorgeschichte und politischem Kontext vgl. Schmauch 2015 b; Schmauch 2019 a). In der folgenden Darstellung liegt der Schwerpunkt auf der Anwendbarkeit in der Praxis, um so zu zeigen, wie das Konzept sozialen Fachkräften dazu dienen kann, berufliche Erfahrungen besser zu verstehen und im Handeln sicherer zu werden. Vor dem Einstieg möchte ich einige Überlegungen zu sexuellen und geschlechtlichen Kategorien, die ich in der Erörterung der Regenbogenkompetenz gebrauche, mitteilen. Aus der vergleichenden Sexualforschung ist bekannt, dass die Verbreitung von Homosexualität in allen Gesellschaften und Epochen gleichbleibend gering ist. Das Spektrum der Schätzungen reicht von unter 2 % bis 10 %, sodass sich ein Durchschnittswert nehmen und schätzen lässt, dass der Anteil gleichgeschlechtlich liebender Menschen an der Bevölkerung bei etwa 5 % liegt. In der Perspektive auf den prozentualen Anteil erscheint Homosexualität damit als etwas Fixes, Eingegrenztes, das eine kleine Minderheit betrifft, sei es als diskriminiertes Kollektiv, sei es als frei gewählte Gruppe. Dies gilt in noch höherem Maß für geschlechtliche Minderheiten, deren Anteil auf unter 1 % geschätzt wird. Aus einer dynamischen Perspektive aber wird ebenso deutlich, dass sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität zum Teil bewegliche, sich verändernde Phänomene sind, sowohl als Gefühl wie auch in biografischer und historischer Hinsicht. Sollten wir also die sexuellen Kategorien gänzlich abschaffen? Aus meiner Sicht muss mit dem Widerspruch umgegangen werden, dass die Kategorien - je nach Kontext - zum Teil zu verwerfen und zum Teil notwendig sind. Sie sind notwendig, um die Realität der Diskriminierung zu benennen und zu bekämpfen, um stärkende Erfahrungen positiver Zugehörigkeit zu lesbisch-schwulen Szenen und Gruppen zu ermöglichen und um die Entwicklung positiver geschlechtlicher Identitätsgefühle zu unter- 307 uj 7+8 | 2020 Regenbogenkompetenz stützen. Andererseits sind die Kategorien zurückzuweisen, wo sie zu einzwängenden Schubkästen für lebendige, auch widersprüchliche Gefühle und zum stigmatisierenden Aussonderungsmerkmal werden (vgl. Schmauch 2015 b). In jedem Fall ist die Klärung von Begriffen und Kategorien auf den Austausch mit aktuellen politischen und wissenschaftlichen Diskursen angewiesen. Daher halte ich sexuelle und geschlechtliche Kategorien für sinnvolle Denk- und Arbeitsmittel, wenn sie transparent und im Wissen um ihre Vorläufigkeit, Mehrdeutigkeit und Kontextabhängigkeit verwendet werden. Regenbogenkompetenz - Begriff und Konzept Regenbogenkompetenz bezeichnet die Fähigkeit einer sozialen Fachkraft, mit den Themen der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität professionell, vorurteilsbewusst und möglichst diskriminierungsfrei umzugehen. Die Bezeichnung wurde analog zu den Begriffen der Genderkompetenz und der Interkulturellen Kompetenz gebildet. In den drei Begriffsbildungen kommt zum Ausdruck, dass die Soziale Arbeit durch Emanzipationsbewegungen immer wieder mit eigenen blinden Traditionen, Ausschlüssen und Tabus konfrontiert und dazu herausgefordert wird, sich explizit auf bisher unterdrückte Themen und auf Menschen mit spezifischen Ausgrenzungserfahrungen neu einzustellen. Dieser Prozess hat für die Soziale Arbeit jeweils sowohl politische und ethische als auch fachliche Dimensionen, und er zwingt die Profession dazu bzw. ermöglicht ihr dadurch, sich kontinuierlich mit ihrem gesellschaftlichen Auftrag, dem Einsatz für soziale Gerechtigkeit und für die Grundrechte benachteiligter Menschen, selbstkritisch auseinanderzusetzen. Aus der Frauenbewegung heraus wurde seit den 1980er Jahren das Konzept der Genderkompetenz entwickelt, das heute als unverzichtbarer Standard für die Qualität guter Sozialer Arbeit gilt (Böllert/ Karsunky 2008). Etwa gleichzeitig entstand das Konzept der Interkulturellen Kompetenz (Gaitanides 2003; Auernheimer 2002), das für eine Einwanderungsgesellschaft die entsprechend notwendige Professionalisierung der Fachkräfte ausformuliert. In beiden Konzepten geht es um institutionelle Prozesse der Öffnung und des Abbaus von Schwellen und Diskriminierungsrisiken, andererseits um Qualifizierung in den Bereichen des Wissens, der Methoden und der professionellen Haltung, der Reflexions- und Handlungsfähigkeit. In Anlehnung an diese Entwicklungen suchte ich seit den 1990er Jahren im Kontext meiner Aus- und Fortbildungserfahrungen nach einer Möglichkeit, für das Thema der sexuellen Orientierung in der Sozialen Arbeit ein spezifisches Konzept zu entwickeln (das Thema der geschlechtlichen Identität kam später hinzu). Es ging dabei auch um die Frage, wie eine diskriminierungskritische, politische Überzeugung in berufliche Handlungsfähigkeit übertragen werden kann. Ich habe das von Peter Löcherbach entwickelte, auf vier Ebenen ausdifferenzierte Kompetenzkonzept (vgl. Löcherbach 2009) aufgegriffen und auf das Thema geschlechtlicher und sexueller Vielfalt zugeschnitten: ➤ Sachkompetenz: Wissen über die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft, über sexuelle und geschlechtliche Minderheiten, ihre Lebenslagen, Diskriminierungen und Ressourcen ➤ Sozialkompetenz: Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit im Bereich sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ➤ Methodenkompetenz: Handlungsfähigkeit und Verfahrenswissen im Bereich sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identitäten ➤ Selbstkompetenz: Reflexion eigener Gefühle, Werte und Vorurteile in Bezug auf sexuelle Vielfalt 308 uj 7+8 | 2020 Regenbogenkompetenz Die Kompetenzen beziehen sich auf die soziale Fachkraft als Individuum. Sie sind jedoch immer zusammen zu denken mit einem institutionellen Rahmen, einem Kontext, der ihre Entwicklung erst ermöglicht. Individuelle Regenbogenkompetenz einzelner sozialer Fachkräfte kann ohne eine LSBT*I-akzeptierende Institution nicht wirksam werden, wie auch umgekehrt eine solche Institution ohne regenbogenkompetente Fachkräfte sich nicht erfolgreich für die KlientInnen einsetzen kann. Zum institutionellen Rahmen für die Entwicklung von Regenbogenkompetenz gehören z. B. ➤ Teamfortbildungen zu Themen wie sexuelle Vielfalt, Prävention sexualitätsbezogener Diskriminierung, Homosexualität und Familie ➤ die Entwicklung gemeinsamer Haltungen (Team, Leitung, Konzeption, Leitbild) und die Auseinandersetzung mit Differenzen ➤ die Bereitstellung eines möglichst angstfreien Raums zur Reflexion der Gefühle und Einstellungen hetero- und nichtheterosexueller Fachkräfte (Teambesprechung und Supervision) ➤ Absprachen zum Umgang mit homo- und transfeindlichem Mobbing und Comingout-Prozessen ➤ Kooperation mit spezialisierten LSBT*I- Einrichtungen und Lernen von ihnen ➤ Entwicklung eigener zielgruppenspezifischer Angebote ➤ Herstellung von Sichtbarkeit gleichgeschlechtlicher Lebensweisen und vielfältiger geschlechtlicher Identitäten in der Institution (Aushang von Plakaten, Infos etc. von LSBT*I-Einrichtungen; Überarbeitung eigener Medien wie Flyer, Plakate, Website). Die Zusammengehörigkeit der beiden Ebenen, die der Institution und der individuellen Fachkraft, muss immer im Blick bleiben. Die Regenbogen-Selbstkompetenz fügt sich sinnvoll in die sozialarbeiterische Berufsrolle und die ihr zugehörige professionelle Selbstreflexion ein. Auch die Regenbogen-Sozialkompetenz lässt sich gut mit der allgemeinen beruflichen Aufgabe verknüpfen, Nähe und Distanz immer wieder kommunikativ auszubalancieren und Widersprüche gelten zu lassen. Diese Verknüpfungen, hier aus Platzgründen nicht dargestellt, werden an anderem Ort ausgeführt (Schmauch 2019 b). Praxisbeispiele Im Folgenden werden zwei Beispiele vorgestellt, die soziale Fachkräfte in meinen Supervisionsgruppen eingebracht haben. Alle Angaben zu Personen und Einrichtungen sind anonymisiert. Praxisbeispiel aus der Jugendverbandsarbeit Der Sozialarbeiter, Herr M., berichtet über eine Gruppe von 12bis 15-jährigen Jungen, die im Verlauf von etwa drei Monaten einen neu in den Jugendtreff kommenden 14-jährigen Jungen auf homonegative Weise mobben; dieser, hier Onur genannt, bleibt schließlich den Treffen fern. Zu Beginn ist Onur eher schüchtern, aber allmählich, so Herrn M.’s Bericht, „erkämpfte er sich auch immer mehr die Anerkennung der ‚cooleren‘ Kinder, versuchte, sich mit ihnen zu messen und zeigte sogar, dass er stärker als einige Kids war. In dieser Zeit begannen manche Kinder, Onur als ‚schwul‘ oder ‚Schwuchtel‘ zu bezeichnen, oft auch, wenn sie sich ihm unterlegen fühlten oder es tatsächlich zum Beispiel bei einem Ringkampf oder einem Billardspiel waren“. Neben den Hänseleien gibt es wiederholt Fragen an den Betreuer, „ob oder was mit dem Jungen sei, ob er so oder so sei“. Die Antworten und Interventionen des Sozialarbeiters sind „darauf gerichtet, dass jeder so oder so sein könne (…) und dass alle anderen Kinder und Jugendlichen selbst unterschiedlich seien. Trotzdem hielten das Mobbing und die Verdächtigungen 309 uj 7+8 | 2020 Regenbogenkompetenz an. Da ich auch nur vermuten konnte und nicht sicher wusste, ob Onur homosexuell war oder nicht, versuchte ich, in meinen Antworten einen Raum für jede Möglichkeit zu schaffen. Ich sagte also deutlich, dass auch homosexuelle Jugendliche mit den anderen zusammen in Frieden in unserer Einrichtung sein können. Einige der Jungen verwirrte diese Ansage oder sie taten so, als ob. Es vergingen noch einige Wochen und plötzlich sahen wir den Jungen nie wieder“ (…) Sein Wegbleiben kann, so Herr M., „selbstverständlich … auch andere Ursachen haben“. Herrn M.’s Bericht enthält die Beschreibung eines individuellen und eines Gruppenprozesses. Ein Junge kommt neu in den Jugendtreff, und nach einer Phase der Schüchternheit gelingt es ihm, sich dort neben den gleichaltrigen Jungen einen Platz und Anerkennung zu verschaffen, sodass manche der ‚coolen‘ Jungen sich ihm jetzt unterlegen fühlen. „In dieser Zeit“, so der Bericht, beginnen die „Schwul“- und „Schwuchtel“-Hänseleien gegen Onur - und sie sind aus meiner Sicht somit deutlich als Mittel der bisher dominanten, ‚coolen‘ Jungen zu erkennen, den Konkurrenten herabzusetzen, indem sie ihm seine Männlichkeit absprechen. Die Beleidigungen sind wirksam, nicht, weil sie auf eine vermeintliche oder reale Homosexualität zielen, sondern weil sie Onur mit dem Label des Weibischen, Unmännlichen angreifen, um die Kränkung der eigenen Unterlegenheit wettzumachen. Die Funktion der Hänseleien wird jedoch in den weiteren Interaktionen, die Herr M. beschreibt, nicht thematisiert. Stattdessen beziehen sich die Gespräche auf die Identitätsebene: in den Fragen an den Sozialarbeiter, ob Onur „so oder so sei“, in seinen Antworten, die für Akzeptanz gegenüber Verschiedenheit und auch gegenüber homosexuellen Jugendlichen werben, ebenso in seinen eigenen Gedanken darüber, ob der Junge evtl. homosexuell sei. Ich glaube jedoch, dass die sexuelle Orientierung hier für das Geschehen keine Rolle spielt. Meine Hypothese ist, dass das Mobbing anhält, weil es in seiner Bedeutung nicht angesprochen wird. Die ‚coolen‘ Jungen erringen einen Punktsieg in der Verteidigung ihres Terrains und ihrer Männlichkeit, Onur verlässt das Terrain nach einer schmerzlichen Lektion, der Sozialarbeiter ist ratlos - hat er der Gruppe nicht klar vermittelt, dass im Jugendtreff die Akzeptanz von Unterschieden, damit auch von Homosexualität gilt? Meine Vermutung lässt sich durch die empirische Studie von J. C. Pascoe stützen, deren Ergebnisse die Forscherin unter dem Titel „Du bist so’ne Schwuchtel, Alter“ - Männlichkeit in der Adoleszenz und der ‚Schwuchteldiskurs‘„ vorgestellt hat (Pascoe 2006). Darin geht sie davon aus, dass „Homophobie“ ein zu einfaches Konzept sei, um die allgemein verbreitete Verwendung von „Schwuchtel“ als Schimpfwort zu verstehen (Pascoe 2006, 3). Das Schimpfwort ziele in diesem Zusammenhang nicht, so die Autorin, auf eine reale oder zugeschriebene sexuelle Orientierung. Vielmehr sei die wesentliche Funktion des „Schwuchteldiskurses“ für adoleszente Jungen, Männlichkeit und männliche Geschlechtsidentität herzustellen. „,Schwuchtel‘ kann als Waffe gebraucht werden, mit der man sich eine Zeitlang seiner Männlichkeit vergewissern kann, indem man sie anderen abspricht“ (Pascoe 2006, 13). Wahrzunehmen, dass es in einer Situation nicht um Homosexualität geht, obwohl es so scheint, kann auch zur Regenbogenkompetenz gehören. Aus meiner Sicht kann es für soziale Fachkräfte nützlich sein, theoretische Beiträge wie den von Pascoe über den „Schwuchteldiskurs“ zum Verständnis ihrer Praxis heranzuziehen. Auch ist für Gruppenprozesse, wie sie der Sozialarbeiter schildert, Wissen über Gruppendynamik in der Jugendarbeit, über männliche Adoleszenz und über Jungenarbeit von grundlegender Bedeutung (Sachkompetenz). Zur Sozialkompetenz: Für einen Jungen, der wie Onur mit dem „Schwuchteldiskurs“ angegriffen wird, wäre es wichtig, vom Sozialarbei- 310 uj 7+8 | 2020 Regenbogenkompetenz ter persönlich angesprochen zu werden - mit Fragen danach, wie es ihm gehe, wie er sich im Jugendtreff und in der Gruppe fühle und wie ihn die Hänselei berühre, auch, ob er Unterstützung und Vermittlung wünsche (vgl. Rauchfleisch 2002). Onur selbst auf seine sexuelle Orientierung anzusprechen, wäre an dieser Stelle aus meiner Sicht unpassend - was Herr M. dem Bericht zufolge auch nicht in Betracht zog. Im Blick auf die Gruppe könnte der Sozialarbeiter versuchen, die „Identitätsebene“ eher zu vermeiden. Es könnte helfen, vor den Hinweisen auf die notwendige Akzeptanz von Verschiedenheit zuerst mit den Jungen in der Gruppe über die in Jugendtreffs wohlbekannten Spannungen zwischen „alten“ und „neuen“ Teilnehmern zu reden, über Ärger und Befürchtungen, Rivalität und Revanche (zwischen Jungen), hier dann auch über die Wahl der verletzendsten Worte. Im Blick auf die Ebene der Methodenkompetenz könnten zum Beispiel diskussionsanregende dokumentarische Videos mit Jugendlichen eingesetzt werden, wie sie insbesondere das Medienprojekt Wuppertal zu geschlechtsspezifischen und sexualpädagogischen Themen produziert (Medienprojekt Wuppertal; Zugriff am 26. 11. 2019). Auf der einen Seite empfinde ich Herrn M.‘s Antworten als sensibel und „regenbogenkompetent“. Auf der anderen Seite tragen diese Antworten insofern zu einer „schwierigen“ Situation bei, als sie dem „Schwuchteldiskurs“ normativ und auf der „Identitätsebene“ begegnen. Somit gelangen sie aus meiner Sicht mit einem wichtigen Teil des Konflikts nicht in Kontakt; auch Onur, der gemobbte Junge, kann zuletzt emotional nicht erreicht werden. Im Blick auf ähnliche zukünftige Situationen könnte eine Reflexion des Sozialarbeiters darüber sinnvoll sein, wie er die Diskrepanz zwischen abstrakten Normen (z. B. „Akzeptanz“) und konkreten Gefühlen erlebt - bei den Kindern und Jugendlichen und bei sich selbst (Selbstkompetenz). Praxisbeispiel aus der Jugendwohngruppe Die Sozialarbeiterin, Frau C., berichtet in der Supervision aus ihrer Arbeit in einer Jugendwohngruppe: „Als Lena uns gesagt hat: ,Ich bin lesbisch! ‘ - da war das für uns ganz normal. Das Team ist offen, wir haben kein Problem mit Homosexualität. Aber dann hat mich ihre Mutter angerufen. Sie sagte, sie sei total verzweifelt. Lena hätte ihr gesagt, dass sie lesbisch ist, und das hätte sie total geschockt. Das sei ja entsetzlich. Sie müsse es dem Stiefvater sagen, und der werde dann erst recht ausrasten. Was sie nun machen solle? - Ich sagte der Mutter, dass ich über ihre Frage nachdenken und sie in Kürze zurückrufen würde. Denn ich wusste erst mal keine Antwort. Dann habe ich im Internet gegoogelt: Was tun beim Coming-out und so weiter und sie dann zurückgerufen. Ich weiß ja, die Familie kommt aus Osteuropa, und da tun sie sich oft schwer mit Homosexualität. Ich habe der Mutter geraten, es ihrem Mann nicht zu sagen, sondern es Lena zu überlassen, ob und wann sie mit ihrem Stiefvater darüber reden will, dass sie lesbisch ist. Am Ende ist es eigentlich ein tolles Gespräch geworden.“ In dem Beispiel wird ein Widerspruch deutlich: einerseits ist Homosexualität für das Team und die Sozialarbeiterin selbst „kein Problem“, andererseits zeigen sich in der konkreten Umsetzung durchaus Schwierigkeiten. Frau C. hat nicht das Gefühl, auf verfügbares Handlungswissen zurückgreifen zu können - weder in der eigenen beruflichen Erfahrung oder Ausbildung noch bei den KollegInnen des Teams. Da es im Internet viele Websites zum Comingout gibt, findet sie dort hilfreiche Anregungen für das Gespräch mit der Mutter. Insgesamt geht sie mit der Situation - den Gefühlen der Mutter und der eigenen Unsicherheit - gut um. Die Frage ist aber: warum hat die Sozialarbeiterin keine Anregung in ihren eigenen professionellen Ressourcen gefunden, sei es im Team, sei es in Ausbildung und Berufserfahrung? 311 uj 7+8 | 2020 Regenbogenkompetenz Welche Regenbogenkompetenz würde Frau C. in dieser Situation brauchen? Auf der Sachebene geht es um Wissen über Phasen und Konflikte des Coming-out, über damit verbundene Bedarfe, Diskriminierungsrisiken, und Unterstützungsmöglichkeiten, hier speziell bezogen auf weibliche Jugendliche. Nützlich ist Verweisungswissen, d. h. die Kenntnis von aktuellen und regional gut erreichbaren lesbischen bzw. queeren Netzwerken, Gruppen, Treffs u. a., um für Lena auf diese Möglichkeiten hinweisen zu können. Denn für nicht wenige Jugendliche ist das Coming-out zu Anfang mit Unsicherheiten und Isolierung verbunden, und das Angebot, gleichaltrige „Gleichgesinnte“ zu treffen, kann eine ermutigende Erfahrung sein. Auf der Ebene der Sozialkompetenz geht es um Kommunikation mit den KlientInnen, d. h. mit Lena und mit ihren Eltern, zum anderen um Gespräche und Kooperation mit Frau C.’s Team. Wichtig wäre, dass die Sozialarbeiterin Lena gegenüber aktive Gesprächsbereitschaft zeigt. Viele Lesben und Schwule machen die irritierende Erfahrung, dass nach ihrem Comingout so etwas wie „ein Schweigen im Walde“ herrscht. Sie bekommen - im „positiven“ Fall - Antworten wie „das ist okay“, „kein Problem“, „nicht schlimm“. Was sehr vermisst wird, sind in der Situation und in der nachfolgenden Zeit zugewandtes Interesse und freundliche Nachfragen. So könnte Frau C. Lena fragen, wie es ihr jetzt mit dem Coming-out geht, was sie MitbewohnerInnen oder FreundInnen mitgeteilt und welche Reaktionen sie erlebt hat und was sie zur Zeit sonst noch beschäftigt. Im Wissen um den nicht selten krisenhaft verlaufenden Coming-out-Prozess könnte sie der Jugendlichen aktiv ihre Unterstützung anbieten. Das Thema sollte in den pädagogischen Förderprozess, die Hilfeplanung und die Elternarbeit sinnvoll integriert werden. Es ist wichtig, sich auch den Gründen für elterliches Verzweifeln und Ausrasten im Zusammenhang mit dem Coming-out der Tochter zuzuwenden. Unverzichtbar für die Sozialarbeiterin wäre, mit Team und Leitung zu sprechen - im Sinne der Transparenz und für die notwendige Rückenstärkung - sowohl über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Allgemeinen bzw. in der Jugendhilfeeinrichtung als auch über Lena im Besonderen. Im Blick auf methodische Kompetenz lässt sich hier zum Beispiel auf Konzepte der Comingout-Beratung und ihre Verknüpfung mit Methoden der lebensweltorientierten Jugendberatung verweisen (vgl. Schulze/ Höblich/ Mayer 2018). Das Beispiel von Lena und ihren Eltern könnte Frau C. dazu anregen, sich im Sinne der Selbstkompetenz zu fragen: „Was heißt denn eigentlich: ‚Ich bin offen, ich habe kein Problem mit Homosexualität‘ konkret für meine Arbeit? Ist das möglicherweise ein billiger Allgemeinplatz? Habe ich vielleicht ein Bild von mir, dass ich als Sozialarbeiterin sozusagen automatisch offen und vorurteilsfrei bin und mich darauf bequem ausruhe? Wie können meine KlientInnen wirklich etwas davon haben? “ Schluss Die Idee der „sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt“, findet - so allgemein formuliert - bei SozialarbeiterInnen inzwischen, nach meinen Eindrücken in der Aus- und Fortbildung, vermehrt Zustimmung. Das war vor drei, vier Jahrzehnten noch sehr anders, als Homosexualität - das initiale Thema des Vielfalts-Diskurses - und das Reden darüber in der Kinder- und Jugendarbeit sowie in der Ausbildung überwiegend als heikel empfunden wurde. Die heutige allgemeine Zustimmung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass für soziale Fachkräfte oft abstrakt bleibt, was „Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ eigentlich im beruflichen Alltag bedeutet. Hier will das Konzept der Regenbogenkompetenz konkrete Anregungen und Hinweise zu mehr Handlungssicherheit geben. Prof. Dr. (i. R.) Ulrike Schmauch Frankfurt University of Applied Sciences E-Mail: schmauch@fb4.fra-uas.de 312 uj 7+8 | 2020 Regenbogenkompetenz Literatur Auernheimer, G. (Hrsg.) (2002): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Leske und Budrich, Opladen, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-322- 93251-8_10 Böllert, K., Karsunky, S. (Hrsg.) (2008): Genderkompetenz in der Sozialen Arbeit. Professionalitätsmerkmal: Genderkompetenz. VS, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-90916-5 Gaitanides, S. (2003): Interkulturelle Kompetenz als Anforderungsprofil in der Jugend- und Sozialarbeit. Sozialmagazin 3, 42 - 48 Löcherbach, P. (2009): Qualifizierung im Case Management - Bedarf und Angebote. In: Löcherbach, P., Klug, W., Remmel-Faßbender, R., Wendt, W.-R. (Hrsg.): Case Management. Fall- und Systemsteuerung in der Sozialen Arbeit. Ernst Reinhardt, München, 201 - 226 Medienprojekt Wuppertal: https: / / www.medienprojekt-wuppertal.de/ home (Zugriff am 26. 11. 2019) Pascoe, C. J. (2006): „Du bist so ’ne Schwuchtel, Alter“ - Männlichkeit in der Adoleszenz und der „Schwuchteldiskurs“. Zeitschrift für Sexualforschung, 19, 1 - 14, https: / / doi.org/ 10.1055/ s-2006-921502 Rauchfleisch, U. (2002): Gleich und doch anders: Psychotherapie und Beratung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ihren Angehörigen. Klett-Cotta, Stuttgart, https: / / doi.org/ 10.13109/ 9783666401701.89 Schmauch, U. (2015 a): Sexuelle Abweichungen oder sexuelle Vielfalt? Zur Verschiedenheit im Bereich sexueller Orientierungen und Identitäten. In: Bretländer, B., Köttig, M., Kunz, T. (Hrsg.): Vielfalt und Differenz in der Sozialen Arbeit - Perspektiven auf Inklusion. Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 100 - 110 Schmauch, U. (2015 b): Vielfalt und Regenbogenkompetenz in der Sozialen Arbeit. In: Bretländer, B., Köttig, M., Kunz, T. (Hrsg.): Vielfalt und Differenz in der Sozialen Arbeit - Perspektiven auf Inklusion. Kohlhammer, Stuttgart Schmauch, U. (2019 a): Längst normal? Zwei Perspektiven auf sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Deutschland. In: Toens, K., Benz, B. (Hrsg,): Schwache Interessen? Politische Beteiligung in der Sozialen Arbeit. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 192 - 210 Schmauch, U. (2019 b): Regenbogenkompetenz in der Sozialen Arbeit. In: Timmermanns, S., Böhm, M. (Hrsg.): Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Interdisziplinäre Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 308 - 325 Schulze, H., Höblich, D., Mayer, M. (Hrsg.) (2018): Macht - Diversität - Ethik in der Beratung: Wie Beratung Gesellschaft macht. Barbara Budrich, Opladen, https: / / doi.org/ 10.2307/ j.ctvddzpb9