unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art50d
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2020
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Suizidalität von trans*-Jugendlichen und die Verantwortung von Fachkräften in der Jugendhilfe
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2020
Moritz Prasse
Die hohen Zahlen über Suizidversuche von trans*-Jugendlichen können so abschreckend wirken, dass auch (Sozial-)Pädagog*innen Transidentität lieber verleugnen, als sich damit auseinanderzusetzen. Doch gerade wir als Fachkräfte können großen Einfluss darauf nehmen, suizidale trans*-Jugendliche wieder Hoffnung verspüren zu lassen, dass ihr Leben irgendwann besser wird.
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313 unsere jugend, 72. Jg., S. 313 - 320 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art50d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Moritz Prasse Jg. 1986; Sozialpädagoge (MA), Mitarbeiter im „Track Münster - LSBTI-Jugendzentrum und Beratung“ Suizidalität von trans*-Jugendlichen und die Verantwortung von Fachkräften in der Jugendhilfe Die hohen Zahlen über Suizidversuche von trans*-Jugendlichen können so abschreckend wirken, dass auch (Sozial-)Pädagog*innen Transidentität lieber verleugnen, als sich damit auseinanderzusetzen. Doch gerade wir als Fachkräfte können großen Einfluss darauf nehmen, suizidale trans*-Jugendliche wieder Hoffnung verspüren zu lassen, dass ihr Leben irgendwann besser wird. Besondere Herausforderungen gendervarianter Jugendlicher Gendervariante Jugendliche sind mit einer Fülle von Herausforderungen, die gleichaltrige dyacis- (dya = nicht inter, cis = nicht trans) Jugendliche nicht oder nicht in der Intensität bewältigen müssen, konfrontiert. Das betrifft die Identitätsfindung, die Auseinandersetzung mit dem persönlichen und weiteren Umfeld, gegebenenfalls medizinische Bedarfe und - bei gewünschten Namens- und Personenstandsänderungen - auch eine Auseinandersetzung mit Behörden und Gerichten. Identitätsfindung und Biografiearbeit Die Geschlechtsidentität eines Menschen entwickelt sich in der Regel zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr. Dies trifft auch auf transidente und intergeschlechtliche Kinder zu, die sich zum Teil entsprechend früh darin mitteilen, dass ihr geschlechtliches Empfinden nicht den Erwartungen ihres Umfeldes entspricht. Kinder, die in ihrer Performance von den heteronormativen Vorstellungen abweichen, stoßen auf vielfältige Probleme. Sie lernen bereits sehr früh, dass sie so, wie sie sind, nicht in Ordnung sind (Brill/ Pepper 2011, 47). Negative Äußerungen über transgeschlechtliche Menschen nehmen sie auf und verinnerlichen diese, was die eigene Identitätsfindung und das zu sich Stehen erschwert. Aus der Forschung zu Homosexualität ist bekannt, dass negative Haltungen zu Homosexualität, die die meisten schon in der Kindheit erlernen, verinnerlicht werden und so zu internalisierter Homosexuellenfeindlichkeit führen (Meyer 2003, 688). Es ist anzunehmen, dass das Minoritätenstressmodell und damit auch Stressoren, wie internalisierte Trans- und Interfeindlichkeit ebenfalls auf gendervariante Personen zutrifft, auch wenn es bisher wenig Forschung dazu gibt (Plöderl 2016, 145). 314 uj 7+8 | 2020 Suizidalität von trans*-Jugendlichen Nach der frühen Kindheit ist die nächste wichtige Phase der transidenten Identitätsfindung der Beginn der Pubertät. Cisgeschlechtliche Jugendliche, die in ihrer Kindheit durch geschlechtsabweichendes Verhalten auffielen, legen dieses Verhalten in der Regel mit Beginn der Pubertät ab und orientieren sich zunehmend an dem typischen Rollenverhalten ihrer gleichaltrigen Freund*innen. Bei transgeschlechtlichen Jugendlichen ist das anders. Sie versuchen entweder den Erwartungen zu entsprechen und verleugnen sich damit selbst oder sie rebellieren nun vollständig gegen Rollenklischees. Sie erfahren mit Beginn der Pubertät zudem körperliche Veränderungen, die in eine andere Richtung verlaufen, als sie es sich für ihren Körper wünschen. Die körperliche Entwicklung in der Pubertät ist für viele Jugendliche unabhängig vom Geschlecht eine konfliktbehaftete und schwierige Zeit, da sie das Ende der Kindheit bedeutet und die hormonellen Veränderungen erst verarbeitet werden müssen. Für transidente Jugendliche können die Entwicklungen allerdings „Vorboten für Depressionen, Selbstverleugnung und selbstzerstörerische Verhaltensweisen sein“ (Brill/ Pepper 2011, 76). Besonders schwierig ist die Identitätsfindung für nicht-binäre Jugendliche, also diejenigen, die weder (eindeutig und ausschließlich) männlich bzw. weiblich sind. Noch stärker als binären trans*-Jugendlichen fehlt es ihnen an Worten für ihr geschlechtliches Erleben, an Role Models und an gesellschaftlicher Akzeptanz. In der medizinischen Versorgung werden sie erst seit wenigen Jahren überhaupt bedacht und das bisherige Rechtssystem schließt sie weiterhin vollständig aus. Auseinandersetzung mit der Umwelt/ gesellschaftliche Schwierigkeiten Haben die Jugendlichen eine Idee ihrer geschlechtlichen Identität entwickelt, steht meist die Auseinandersetzung mit der Umwelt an. Im schwul-lesbischen Kontext ist dafür der Begriff des (äußeren) Coming-out geprägt worden, der das Öffentlichmachen der eigenen sexuellen Orientierung bezeichnet. Diesen Prozess durchlaufen auch transgeschlechtliche Jugendliche. Im Unterschied zur sexuellen Orientierung können insbesondere diejenigen trans* Jugendlichen, die für ihr bei Geburt dokumentiertes Geschlecht untypische Kleidung tragen oder die medizinische Maßnahmen zur körperlichen Angleichung an ihr Identitätsgeschlecht ergreifen, sich nicht mehr entscheiden, ihre Geschlechtsidentität für sich zu behalten. Wenn ein Mädchen sich in ein anderes Mädchen verliebt, kann sie selbst entscheiden, wem sie diese Tatsache mitteilt. Wenn ein (vermeintliches) Mädchen jedoch in den Stimmbruch kommt und der Bartwuchs einsetzt, ist diese Veränderung für alle sichtbar und bedarf auch für Außenstehende ein gewisses Maß an Erklärung. Trans*-Jugendliche müssen sich entsprechend zwangsläufig irgendwann outen. Selbst für psychisch stabile Jugendliche ist dieser Schritt keinesfalls leicht, da sie mit Zurückweisung und Ausgrenzung rechnen müssen. Kinder und Jugendliche, die sich outen, rufen in ihrer Umgebung Irritationen hervor, die in unterschiedlichem Ausmaß auf sie zurückfallen, wobei das Spektrum von ungewolltem übermäßigem Interesse bis zu Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Gewalt reichen kann (Rauchfleisch 2009, 90f ). Bestenfalls treffen sie auf verständnisvolle und unterstützende Eltern und Freund*innen, die sie auf ihrem Weg begleiten und unterstützen. Über 80 % der homosexuellen und transidenten Schüler*innen geben an, aufgrund ihrer geschlechtlichen oder sexuellen Identität in der Schule Belästigungen ausgesetzt zu sein und 70 % fühlen sich in der Schule sogar unsicher (Brill/ Pepper 2011, 165). Lehrer*innen sind häufig nur bedingt willens und in der Lage selbst angemessen mit gendervarianten Jugendlichen umzugehen, Diskriminierungen wahrzunehmen und dagegen vorzugehen. Offizielle Anweisungen, wie mit gendervarianten Schüler*innen zum Beispiel in Bezug auf die Toilet- 315 uj 7+8 | 2020 Suizidalität von trans*-Jugendlichen tennutzung oder die Umkleiden beim Sportunterricht zu verfahren ist, fehlen bisher bundesweit. Es ist entsprechend von der einzelnen Schule und dem dortigen Lehrpersonal abhängig, ob und wie trans*-Jugendliche in ihrer Geschlechtsidentität akzeptiert werden. Trans*-Menschen müssen situativ (z. B. beim Besuch eines Schwimmbades oder sexuellen Kontakten, also in Situationen, in denen der unbekleidete Körper für andere deutlich sichtbar wird) und zudem auch dauerhaft immer damit rechnen, erkannt zu werden, da ihre sekundären Geschlechtsmerkmale (noch) erkennbar sind und sie als transident „verraten“. Selbst Jahre nach Abschluss der Transition werden sie immer mal wieder mit dem Thema und ihrer Geschichte konfrontiert, wenn auch in deutlich abgeschwächter Häufigkeit und Intensität im Vergleich zum Beginn ihres Weges. Familiäre Probleme Die Mitteilung der Transidentität des Kindes wirkt auf die Eltern teilweise wie ein Schock (Rauchfleisch 2009, 73) und kann große, lang andauernde Krisen hervorrufen (Brill/ Pepper 2011, 52). Fast die Hälfte aller Familien reagiert zunächst ablehnend auf das Coming-out eines trans*-Kindes oder Jugendlichen. Die Konflikte um das Thema können so massiv werden, dass die Eltern nicht nur den neu gewählten Namen und das passende Pronomen verweigern, sondern ihren minderjährigen Kindern auch medizinische Transitionsmaßnahmen, wie Hormonersatztherapien und Operationen untersagen. Damit zwingen sie ihre Kinder bis zur Volljährigkeit eine falsche Pubertät zu durchleben und verwehren die Möglichkeit, irreversible Veränderungen zumindest durch Hormonblocker zu verzögern. In einigen Familien eskalieren die Konflikte um die Transidentität des Kindes so stark, dass ein Zusammenleben nicht weiter möglich ist und das Kind oder der*die Jugendliche in eine Wohngruppe umziehen muss oder schlimmstenfalls in der Wohnungslosigkeit landet. Medizinische Veränderungen Viele gendervariante Jugendliche wollen den Weg einschlagen, ihren Körper durch medizinische Maßnahmen den Vorstellungen anzupassen, die sie selbst von ihrer Geschlechtsidentität entwickelt haben. Für Kinder und Jugendliche besteht die Möglichkeit, körperliche Veränderungen mit pubertätsverzögernden Hormonen übergangsweise zu unterbinden (Brill/ Pepper 2011, 200ff ). Nur eine geringe Anzahl der trans*-Jugendlichen erhält jedoch diese Möglichkeit, da sie sehr voraussetzungsvoll ist: Der*Die Jugendliche muss sich bereits in einem frühen Alter geoutet haben und dabei auf verständnisvolle Eltern und gut informierte Kinderärzt*innen gestoßen sein. Unabhängig davon, ob bereits pubertätsverzögernde Hormone eingesetzt wurden, besteht die Möglichkeit der Hormonsubstitution mit Testosteron bei trans*-Jungen und Männern und mit Östrogen und Testosteronblockern bei trans*-Mädchen und Frauen. Nach der Einnahme von Hormonen kann zudem eine Vielzahl geschlechtsangleichender Operationen folgen, angefangen bei Brustaufbau oder -entfernung, über die Bildung einer Neovagina oder eines Penis, bis hin zu chirurgischen Veränderungen des Gesichts. Entscheiden sich trans*-Jugendliche für diesen Weg, befinden sie sich jahrelang im medizinischen System, da sie psychiatrische Gutachten erbringen müssen, die Operationen bei den Krankenkassen beantragen und bewilligen lassen müssen und mehrere Operationen, insbesondere wenn es Komplikationen gibt, auf sich nehmen. Dieser Prozess führt zwar gegebenenfalls zum erwünschten Körper, ist jedoch langwierig und belastend. Vornamens- und Personenstandsänderung Trans*-Personen können auf Grundlage des Transsexuellengesetzes (TSG) eine Vornamens- und Personenstandsänderung bei Gericht be- 316 uj 7+8 | 2020 Suizidalität von trans*-Jugendlichen antragen, wofür sie zwei psychiatrische Gutachten erstellen lassen müssen. Dieser Schritt dauert insbesondere für Jugendliche zu lang. Es besteht daher die Möglichkeit von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti e.V.), einen offiziell anerkannten, sogenannten Ergänzungsausweis zu bekommen, auf dem bereits der neue Name vermerkt ist und der vor allem in der Übergangsphase genutzt werden kann, um sich gegenüber verschiedenen Stellen auszuweisen. Beratungsstellen betonen seit Jahren, wie aufwendig der Transitionsweg ist und wie unverhältnismäßig lang er dauert. Schon der bürokratische Aufwand ist aus ihrer Sicht für Jugendliche oftmals erschlagend, da sie den Umgang damit nicht gewohnt sind. Suizidalität von trans*-Jugendlichen Suizidversuche Studien über suizidales Verhalten von trans*- Personen, insbesondere von trans*-Jugendlichen sind rar und liefern unterschiedliche Zahlen, die allerdings alle darauf hindeuten, dass die Suizidalität noch höher liegt als bei dya, cis, lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen. In einer umfassenden Auswertung globaler Studien zur Nachuntersuchung von transsexuellen Patient*innen kamen Pfäfflin und Junge (1992) zu dem Schluss, „daß Suizidversuche bei Patienten mit transsexueller Symptomatik häufig sind und etwa jeder fünfte Patient vor Behandlungsbeginn mindestens einen Suizidversuch gemacht hat. […] Im Verlauf der Behandlung nimmt nach übereinstimmendem Urteil der Autoren, die hierzu differenzierte Äußerungen machen, die relative Zahl von Suizidversuchen ab“ (ebd., 431). In der Studie des National Transgender Discrimination Survey (Grant et al. 2011, 2) gaben sogar 41 % der Befragten an, bereits einen Suizidversuch unternommen zu haben. Auch eine Studie von Mathy (2002, 47) ergab, dass signifikant mehr Transgender Suizidgedanken und -versuche angaben als jede Vergleichsgruppe. In der aktuellsten populationsbasierten Studie gaben 19,8 % der trans*-Jugendlichen an, in der Vergangenheit einen Suizidversuch unternommen zu haben (Clark et al 2013, 98). Bisher deuten keine aktuellen Studien darauf hin, dass das Risiko, in suizidale Krisen zu geraten, in den letzten Jahren signifikant abgenommen hätte. Vollzogene Suizide Die Zahl der vollzogenen Suizide wird mit Blick auf die Suizidversuchsrate ebenfalls alarmierend hoch sein, auch wenn sie nicht zuverlässig ermittelt werden kann, da der Grund für einen Suizid zum einen nur durch die Person selbst mitgeteilt werden kann und zum anderen nicht im Totenschein auftaucht. Untersuchungen können daher lediglich diejenigen berücksichtigen, die bereits als trans* geoutet und in Behandlung waren. Ungeoutete Trans* Personen, die sich suizidieren, tauchen entsprechend in keinen Statistiken auf. Trans*-Personen, insbesondere nicht-binäre trans* Personen, die zwar geoutet, aber - gewollt, oder weil ihnen der Zugang verweigert wurde - nicht in medizinischer Behandlung waren, fehlen in den Statistiken ebenfalls. Das verzerrt die Statistik über vollzogene Suizide vor allem deswegen, weil die meisten Suizidversuche vor dem äußeren Coming-out und vor geschlechtsangleichenden Maßnahmen stattfindet und daher anzunehmen ist, dass bei den meisten Suiziden niemand erfährt, dass die Person trans* war. Aktuellere Langzeitstudien zu vollzogenen Suiziden von trans*-Personen in psychiatrischer Behandlung kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Sie reichen von keiner erhöhten Suizidrate und keinen Unterschieden zwischen trans*-Männern und trans*-Frauen, die geschlechtsangleichende Maßnahmen erhalten haben, bis hin zu einer sechsfach erhöhten Suizidrate vor allem bei trans*-Frauen (Marshall et al. 2016, 66). 317 uj 7+8 | 2020 Suizidalität von trans*-Jugendlichen Ursachen für suizidale Krisen Die Gründe für (para)suizidales Verhalten von trans*-Jugendlichen scheinen vielfältig zu sein. Gendernonkonformes Verhalten - oder genauer gesagt die soziale Sanktionierung dieses Verhaltens - stellt eines der Kernrisiken für Selbstverletzung und Suizidalität von lsbti-Jugendlichen dar (Liu/ Mustanski 2012, 226). Die Wahrscheinlichkeit, einen Suizidversuch zu begehen, steigt zudem zum Beispiel bei Verlust des Jobs, Mobbing in der Schule, geringem Haushaltseinkommen und physischer und/ oder sexualisierter Gewalt (Grant et al. 2011, 2). Die meisten aktuellen Studien ergaben, dass die Suizidalität von trans*-Personen nach medizinischen geschlechtsangleichenden Maßnahmen deutlich abnimmt, die psychische Gesundheit steigt und sich jener der Allgemeinbevölkerung angleicht (Plöderl 2016, 142). Es lässt sich deutlich erkennen, dass Suizidalität bei lsbti-Jugendlichen neben der individuellen vor allem auch eine gesellschaftliche Ebene aufweist. Sie kann als beinahe kollektive Reaktion auf die alltäglich erlebte Homo- und Transfeindlichkeit, Diskriminierung und Viktimisierung überforderter Jugendlicher gesehen werden. Hier scheinen die Eltern oft Teil des Problems zu sein. Dass lsbti-Jugendliche die höchste (Para)Suizidrate in dem Jahr haben, in dem sie sich ihren Familien gegenüber outen, ist kein Zufall, sondern eine Auffälligkeit und ein Gefährdungspotenzial für Jugendliche. Auch wenn der Großteil der Eltern im Laufe der Zeit die Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung ihrer Kinder akzeptiert, ist hervorzuheben, dass 40 % zunächst abweisend reagieren (Diamond et al. 2011, 132) und diese Reaktion massive emotionale Krisen bei den Jugendlichen hervorruft. Wenn Eltern ihre Kinder zurückweisen, sich von ihnen distanzieren, die Orientierung negieren oder anderweitig ihre Ablehnung über die sexuelle oder geschlechtliche Identität ihres Kindes ausdrücken, erhält dieses die Botschaft, dass mit ihm etwas falsch ist (ebd.). Diese Botschaft von den wichtigsten Personen im Leben der Jugendlichen kann zu Selbsthass, Depressionen und Hoffnungslosigkeit führen, welche wiederum Suizidalität befördern. Familiäre Zurückweisung hat somit einen deutlich negativen Einfluss auf (para)suizidales Verhalten. 51 % derjenigen Jugendlichen, die von ihrer Familie Ablehnung erfahren haben, berichteten von Suizidversuchen, im Vergleich zu 32 % derjenigen, deren Eltern akzeptierend waren (Grant et al. 2011, 101). Des Weiteren lehrt familiäre Zurückweisung die Jugendlichen, dass sie niemanden haben, an den sie sich bei Übergriffen, Mobbing und Gewalt aufgrund ihrer Genderperformance, ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellem Orientieren wenden können (vgl. ebd., 132). Resilienzfaktoren Alle Studien stimmen darin überein, dass neben der medizinischen Versorgung vor allem die soziale und familiäre Unterstützung und die Anerkennung der Transidentität nach dem inneren und äußeren Coming-out Schutzfaktoren gegen psychische Erkrankungen, selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität darstellen (Dhejne et al. 2016, 54). Neben der familiären Anerkennung und der Zuwendung anderer Erwachsener gilt eine erfolgreiche Schullaufbahn als hilfreich. Zudem erhöhen die Zugehörigkeit zur lsbti-Gemeinschaft und der positive Blick auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt die psychische Stabilität (Haas et al. 2011, 26). Diese Erkenntnisse bieten Fachkräften der Jugendhilfe verschiedene Ansatzpunkte, um präventiv mit Gruppen oder Einzelpersonen zu arbeiten. Verantwortung der Fachkräfte in der Jugendhilfe Fachkräfte haben die Möglichkeit und damit auch die besondere Verantwortung trans*-Jugendliche auf ihrem Weg zu begleiten und sie 318 uj 7+8 | 2020 Suizidalität von trans*-Jugendlichen vor allem in krisenhaften Phasen zu unterstützen. Sie sollten sich nicht darauf verlassen, dass die Jugendlichen die benötigte Unterstützung bei ihren Eltern erhalten, sondern im Gegenteil mitbedenken, dass die Familie einen zusätzlichen Stressor darstellt. Checkup in der eigenen Einrichtung Bevor Fachkräfte trans*-Jugendliche tatsächlich unterstützen können, sollten sie sich damit auseinandersetzen, wie inklusiv ihre Einrichtung im weiteren Sinne ist. Welches Wissen über die Bedarfe von trans*-Jugendlichen ist vorhanden? Welche Vorurteile haben sie? Können alle die Einrichtung angstfrei nutzen, unabhängig ihrer Genderperformance oder ihrer sexuellen Orientierung? Werden trans*-Jugendliche - binär oder nicht-binär - und Schwule, Lesben, Bisexuelle mitgedacht und mitbenannt oder wird davon ausgegangen, dass alle cis und hetero sind, bis sie das Gegenteil äußern? Keine Duldung von Abwertungen Pädagog*innen sind Vorbilder und müssen dementsprechend Kindern und Jugendlichen mit dem Respekt begegnen, den sie auch sich selbst gegenüber erwarten. Da die soziale Sanktionierung gendernonkonformen Verhaltens eine der Kernrisiken für Selbstverletzungen und Suizidalität ist, besteht ein klarer Auftrag insbesondere an (Sozial)Pädagog*innen dahingehend, gendernonkonformes Verhalten selbst nicht abzuwerten und bei Diskriminierungen unmittelbar einzuschreiten. Kinder und Jugendliche müssen sich darauf verlassen können, dass Pädagog*innen einschreiten, wenn sie abwertendes Verhalten mitbekommen. Ein „Überhören“ von bspw. schwulen- oder transfeindlichen Witzen darf es nicht geben, schon gar kein Mitlachen. Queere Jugendliche sind dafür hochsensibel, sie testen Lehrer*innen und Sozialpädagog*innen in der Regel und achten ganz genau darauf, wie diese auf queere Themen reagieren, um abschätzen zu können, ob es sicher ist, sich bei ihnen zu outen. Wird bei Diskriminierungen oder „Witzen“ gegenüber Minderheiten nicht eingeschritten, dann können sich queere Jugendliche nicht darauf verlassen, dass ihnen jemand bei ihrem Comingout und gegebenenfalls negativen Reaktionen darauf beisteht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich mit ihrer Identität weiter verstecken und alleine fühlen, steigt dadurch - mit allen negativen Konsequenzen für das psychische Wohlbefinden. Nachfragen statt Rätselraten und Misgendern Gerade für pädagogische Fachkräfte ist eine Sensibilisierung dahingehend wichtig, dass man Menschen ihr Geschlecht nicht unbedingt ansehen kann. Sich anzugewöhnen, z. B. in Vorstellungsrunden in neuen Schulklassen auch das gewünschte Pronomen zu erfragen, ist eine sehr einfache und effektive Methode, um nicht versehentlich Menschen zu misgendern (ihnen ein falsches Geschlecht zuzuweisen). Ein schöner Nebeneffekt kann sein, die Auseinandersetzung und Positionierung dazu zu nutzen, mit Jugendlichen darüber ins Gespräch zu kommen, was Geschlecht eigentlich ausmacht, warum wir uns in unserer Geschlechtlichkeit so sicher sind - oder auch nicht - und wie es sich anfühlt, wenn Menschen falsche Namen oder Pronomen nutzen. Insbesondere pädagogische Fachkräfte sollten darauf achten, dass selbstgewählte Namen und Pronomen nicht infrage gestellt oder lächerlich gemacht werden, und sollten sowohl in Jugendgruppen, als auch unter Kolleg*innen durchsetzen, dass die Selbstbezeichnung respektiert und benutzt wird. Fachkräfte können zur eigenen Auseinandersetzung mit dem Thema an Fortbildungen und Trainings teilnehmen, in denen sie sicherer und sensibler im Umgang mit trans*-Menschen werden. 319 uj 7+8 | 2020 Suizidalität von trans*-Jugendlichen Bedeutung der erhöhten Basissuizidalität Wenn davon ausgegangen werden muss, dass bis zu 40 % der trans*-Jugendlichen in suizidale Krisen geraten, muss das Konsequenzen für die pädagogische Arbeit haben, wenn einem trans*-Jugendliche dort begegnen. Das Risiko, dass diese*r Jugendliche unter so enormem psychischen Stress steht, dass er*sie überlegt, sich das Leben zu nehmen, ist hoch. Dieser Umstand erfordert einen sensiblen Umgang und vor allem eine Auseinandersetzung damit, Anzeichen für suizidale Krisen frühzeitig zu erkennen und entsprechend handeln zu können. Es bietet sich an, sich mit Suizidabklärung auseinanderzusetzen und lokale Anlaufstellen zu kennen, die im Bedarfsfall weiterhelfen können. Fachkräfte als Role Models Pädagog*innen sind auch mit ihren Lebensentwürfen Vorbilder. Noch immer gibt es beispielsweise kaum queere Lehrer*innen, die in ihrer Schule geoutet sind. Das ist einerseits verständlich, andererseits sorgt es dafür, dass queere Jugendliche weiterhin keine Role Models finden, an denen sie sich orientieren können. Wenn gewünscht ist, dass queere Lebensweisen selbstverständlich werden, müssen mehr Erwachsene mit gutem Beispiel vorangehen und sie selbstverständlich leben und offen zeigen. Auch wenn man selbst dyacisgeschlechtlich und heterosexuell ist, kann man dazu beitragen, als Ansprechperson für queere Themen wahrgenommen zu werden. Dazu reicht es, beispielsweise ab und an ein Armband in Regenbogen- oder Transfarben (hellblau, rosa, weiß) zu tragen. Diejenigen, die es betrifft, werden es erkennen und wahrnehmen. Kenntnis über lokale LSBTI-Anlaufstellen Viele queere Jugendliche, trans*-Jugendliche im Besonderen, fühlen sich in ihrer Jugend sehr allein, wenn sie keinen Kontakt zu anderen queeren Jugendlichen haben. Für Fachkräfte empfiehlt es sich also, sich darüber zu informieren, wo der nächste LSBTI-Jugendtreff ist, zu diesem Kontakt aufzunehmen und den*die Jugendliche gegebenenfalls beim ersten Mal auch dahin zu begleiten. Moritz Prasse Track Münster - LSBTI-Jugendzentrum und Beratung E-Mail: m.prasse@vse-nrw.de Literatur Brill, S., Pepper, R. (2011): Wenn Kinder anders fühlen - Identität im anderen Geschlecht. Ein Ratgeber für Eltern. Ernst Reinhardt, München Clark, T. C., Lucassen, Mathijs F. G., Bullen, P., Denny, S. J., Fleming, T. M., Robinson, E. M., Rossen, Fiona, V. (2013): The health and well-being of transgender high school students: Results from the New Zealand Adolescent Health Survey (Youth’12). 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Ihre kleine Tochter behauptet: „Ich bin nicht ,sie‘, ich bin ,er‘! “ Handelt es sich um eine Entwicklungsphase oder könnte Ihr Kind „transident“ sein, d. h. sich nicht seinem biologischen Geschlecht zugehörig fühlen, sondern dem anderen? Dieses Buch ist ein Ratgeber für Eltern und alle, die sich mit dem Phänomen der Transidentität von Kindern und Heranwachsenden befassen. a www.reinhardt-verlag.de
