eJournals unsere jugend 72/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art51d
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2020
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Sexuelle Bildung, Diversität und partizipative Schutzprozesse

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2020
Tom Fixemer
Der Beitrag basiert auf der Trias sexuelle Bildung, Diversität und partizipative Schutzprozesse und zeigt aktuelle diskursive Verhältnisbestimmungen und konzeptionelle Fluchtlinien auf. Handlungspraktische Empfehlungen werden hier in organisationalen, konzeptionell-methodischen als auch alltagspraktischen Sichtweisen differenziert und für die Praxis der Jugendarbeit dargestellt.
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321 unsere jugend, 72. Jg., S. 321 - 327 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art51d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Sexuelle Bildung, Diversität und partizipative Schutzprozesse Konzeptionelle Fluchtlinien und handlungspraktische Empfehlungen für die Jugendarbeit Der Beitrag basiert auf der Trias sexuelle Bildung, Diversität und partizipative Schutzprozesse und zeigt aktuelle diskursive Verhältnisbestimmungen und konzeptionelle Fluchtlinien auf. Handlungspraktische Empfehlungen werden hier in organisationalen, konzeptionell-methodischen als auch alltagspraktischen Sichtweisen differenziert und für die Praxis der Jugendarbeit dargestellt. Diskursive Verhältnisbestimmungen Sexuelle Bildung steht im Spannungsfeld zu sexpositiven Ansätzen, Gewaltprävention, Diskriminierungskritik, (digitalen) partizipativen Schutzkonzeptentwicklungen und Diversität. Die Pluralität und Anerkennung von Beziehungs- und Liebesformen, Lebensweisen, Sexualitäten, Körpern, Intimitäten und Identitätspositionen erzeugen auch Kontroversen, Kritiken als auch Gewalt. In gender- und sexualspezifischen Beratungsstellen, in sexualpädagogischen Workshops in Schule und Jugendarbeit, in sozialen Netzwerken, auf YouTube und in (Online-)Beratungen können Kinder und Jugendliche heute ihre Fragen rund um Beziehungen, Verliebtsein und körperliche Entwicklungen thematisieren. In digitalen Communities zeigen sich unterschiedlichste Sichtweisen und Gruppenkonstellationen und stechen aus vorher angenommenen Nischenthemen durch enorme Follower*innenzahlen hervor. Zudem finden sich durch digitale Kontexte Gleichgesinnte für Sexualität zusammen oder Beziehungskonstellationen ergeben sich über ein Kennenlernen mit Dating-Portalen und Apps (Sigusch 2013; Henningsen/ Tuider/ Timmermanns 2016; Döring 2019). von Tom Fixemer Jg. 1989; Soziale Arbeit M. A., Projektmitarbeit am Fachgebiet der Soziologie der Diversität; Universität in Kassel: BMBF-Verbundprojekt „SchutzNorm“ Alina Marlene Schmitz Jg. 1992; Soziale Arbeit B. A., Intercultural Conflict Management M. A., Projektmitarbeit am Fachgebiet der Soziologie der Diversität, Universität in Kassel: BMBF-Verbundprojekt „SchutzNorm“ 322 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Bildung, Diversität, partizipative Schutzprozesse Mit dem Erstarken der Alternative für Deutschland (AfD) in der parlamentarischen Demokratie in Deutschland kritisieren rechtspopulistische, antifeministische und fundamentalistische Bewegungen den professionellen Umgang mit Sexualität und Geschlecht in Kindheit und Jugend und stellen die höchstpersönlichen Rechte von Kindern als auch Jugendlichen als fraglich dar. Als „Besorgte Eltern“ machen sie Formate der sexuellen Bildung dafür verantwortlich, Kinder zu sexualisieren, ohne Didaktiken und Ethiken zu sexualisierten Grenzverletzungen zu berücksichtigen oder an den Sichtweisen von Jugendlichen zu Sexualitäten und Gewalt anzuknüpfen (Henningsen/ Tuider/ Timmermanns 2016; demofüralle.blog). Debatten um einen Schwangerschaftsabbruch sind kontrovers, an dessen rechtlicher wie sozialer Legitimierung der Stellenwert der sexuellen Selbstbestimmung einer Person mit Gebärmutter gemessen wird. Im Jahr 2018 skandalisiert der Paragraf 219 a, der den Informationszugang für (gewollt oder ungewollt) schwangere Menschen zu Abbruchsmethoden, -kosten und -fristen gewährleistet. Dabei wird die Debatte durch gesellschaftliche Narrative der Gegner*innen reproduktiver Selbstbestimmung verkürzt dargestellt und schwangeren sowie zeugungsfähigen Männern* und Frauen* wird die Kompetenz, für sich selbst sprechen zu können, abgesprochen (Busch/ Hahn 2014). Unter ähnlichen Themenschwerpunkten propagieren seit einigen Jahren antifeministische und rechtskonservative Bewegungen in verschiedenen europäischen Ländern, auch in osteuropäischen Nationen, eine zunehmende Abschaffung der Geschlechterstudien/ Gender Studies sowie diversitätsorientierter Positionierungen (Hark/ Villa 2015). In digitalen Kontexten ist eine Zunahme von Hate-Speech zu verzeichnen, wodurch insbesondere marginalisierte Gruppen zur Zielscheibe von sogenannten Hass-Kommentaren und Gewalt werden (Tuider 2017) und sexualisierte Gewalt mittels digitaler Medien aktuell ist (Vobbe/ Kärgel 2019). Sexuelle Bildung und partizipative Schutzprozesse spiegeln sich im öffentlichen Diskurs in Kontroversen und Problematisierungen. Nichtsdestoweniger ist entlang von Selbstbestimmung die Diversität und Heterogenität von Menschen in der sexualpädagogischen Praxis als Ausgangspunkt anzunehmen und in den konzeptionellen Ansätzen der sexuellen Bildung für die verschiedenen pädagogischen Handlungsfelder auszudifferenzieren (siehe ethische Standards der Gesellschaft für Sexualpädagogik 2019). Aktuelle Perspektivierungen in der Jugendarbeit Für den Kontext der Jugendarbeit folgen aktuelle fachliche Fluchtlinien durch konzeptionelle Perspektivierungen, um aktuelle Debatten und Forschungsperspektiven aufzuzeigen und handlungspraktische Ableitungen zu ermöglichen. Historische Perspektivierungen Erste professionelle, handlungsweisende und praxisorientierte Ansätze der Sexualpädagogik entwickelten sich aus (schulischer) Sexualerziehung. Mit einer Abkehr bestehender schulischer Konzepte sexueller Aufklärungsarbeit wurden gleichzeitige pädagogisch-liberalere Konzepte der 1968er Bewegung in öffentlich-politische Räume und Diskurse getragen. In Werte- und Haltungskämpfen zwischen Emanzipation, Repression und Gewalt (Tuider et al. 2012, 12) sowie den AIDS-Bewegungen in den 1990er Jahren in Auseinandersetzungen um Gefahren durch STI (sexuell übertragbare Infektionen) und HIV, wurde ein „defizitorientierter Blick des präventionspolitischen Diskurses“ deutlich (ebd., 15). Neben der Prävention ungewollter Schwangerschaften oder dem gesellschaftlichen Kampf gegen sexuellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt an Mädchen und Frauen im Fokus (Schmidt/ Sielert/ Henningsen 2017), setzte sich eine „Sexualität bejahende Haltung in der Sexualpädagogik durch“ (Tuider et al. 2012, 15). 323 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Bildung, Diversität, partizipative Schutzprozesse Seit den 2000er Jahren durchzieht sich ein Paradigmenwechsel von der Sexualpädagogik hin zur sexuellen Bildung. Die sexuelle Bildung konstatiert verstärkt Zusammenhänge zu politisch relevanten Themen, setzt jene reflexive Betrachtung auf verschiedenen Ebenen voraus und verhandelt aktiv und gesellschaftspolitisch eine lebendige Sexualkultur (Schmidt/ Sielert/ Henningsen 2017). Diversitätsorientierte Perspektivierungen Vielfalt von Lebens- und Beziehungsformen, Biografien und plurale Normalitätskonstruktionen in den Fokus zu nehmen, eröffnet neue Themenfelder für die sexuelle Bildungspraxis. Themenbereiche wie Körper, Beziehungsformen oder Kommunikation erhalten so ergänzende als auch neue Betrachtungsweisen (Tuider et al. 2012). Eine Sexualpädagogik der Diversität schafft Optionen und Möglichkeitsräume, vielfältige gesellschaftliche Realitäten und Dimensionen inhaltlich wie methodisch abzubilden. Dabei spielen weltweite Flucht- und Migrationsbewegungen ebenso eine wichtige Rolle wie Perspektiven auf Geschlechter und Sexualitäten der LGBTIQA*-Bewegungen. Diese tragen jeweils zur „Diversifizierung aller Beziehungs- und Lebensbereiche und zur Ausdifferenzierung der Theoriebildung bei“ (Tuider et al. 2012, 16). Dadurch lässt sich ein intersektionales Verständnis von Differenzen in den Mittelpunkt stellen, dass die Verwobenheit und Mehrdimensionalität von sich unterscheidenden Diversitäten verdeutlicht. Rassismus- und diskriminierungskritische Perspektivierungen Differenzen wie Herkunft, Hautfarbe, Migration/ Flucht sind historisch sowie aktuell wirkungsmächtige Differenzlinien, die in Methodik und Praxis sexueller Bildung und Schutzaspekten von Belang sind. Über die persönliche Ansprache, in Anleitung von sexualpädagogischen Methoden oder durch die Repräsentationssichtweisen der Workshopinhalte können sich Teilnehmende ausgeschlossen oder nicht adressiert fühlen. Während über Zuschreibungen wie ,fremd‘, ,nicht-normal‘ oder ,anders‘ diskriminierende Normalitätskonstruktionen reproduziert werden, transportiert diese Form der Projektion zudem Mechanismen der Auf- oder Abwertung und der In- und Exklusionsprozesse. Diese Praxen - als Othering bezeichnet - verfestigen Stereotype in Verflechtungen mit sexistischen, klassistischen und rassistischen Denk- und Umgangsweisen. Ein ressourcenorientierter Umgang mit Diversität ermöglicht es, rassismus- und diskriminierungskritische Kompetenzen zu erhalten und umzusetzen. Für eine diversitätssensible, rassismuskritische und intersektionale sexualpädagogische Arbeit ist es hilfreich, die eigene Haltung, die eigenen Privilegien und die eigenen Subjektpositionierungen machtreflexiv im professionellen Handeln zu leben (Voss 2019). Partizipativ gewaltpräventive und schutzorientierte Perspektivierungen Sexualisierte Gewalt fängt nicht erst bei körperlichen Grenzüberschreitungen an, sondern umfasst auch psychische Aspekte, wie erdrückende Liebe, Kompensationen von Sehnsüchten nach Zärtlichkeit und Nähe und wird zudem in strafrechtlichen Perspektiven gerahmt (Schmidt/ Sielert/ Henningsen 2017). Die umsichtige Thematisierung von institutionellem sexuellen Missbrauch und sexualisierten Grenzverletzungen in pädagogischen Einrichtungen seit den vergangenen Aufdeckungsprozessen im Jahr 2010 haben zur erneuten Sensibilität als auch Forschungen und Praxisprojekten als Gegenpraktiken geführt und auch durch digitale movements wie #metoo als internationales Thema an öffentlicher Präsenz und Bedeutung zugenommen. Vor allem für die pädagogische Forschung und Praxis werden derzeit grundlegend Verständnisse reaktualisiert. Schutzkonzepte auf Basis gemeinsam verhandelter Partizipationsprinzipien sind in pädagogischen Kontex- 324 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Bildung, Diversität, partizipative Schutzprozesse ten gefordert und umfassen auch die Aushandlungen zu Nähe-Distanz-Verhaltensweisen, Beziehungsgestaltungen und Intimität sowie Sensibilisierungen zu (digitalen) Grenzbereichen sowie digitaler (Peer-)Gewalt (Wolff/ Schröer/ Fegert 2017; Tuider 2017). Digitale Perspektivierungen Durch Digitalisierung, Digitalität und digitale Räume verändert sich der Umgang mit Sexualität (Döring 2018). Aktuelle Studien zeigen, dass Jugendliche ihre Fragen rund um Sexualität im Internet stellen und Antworten recherchieren (BZgA 2015). Angebote der sexuellen Bildung und Sexualpädagogik differenzieren sich durch digitale Räume in adressat*innenspezifische Angebote wie Chatberatungen, YouTube-Videos oder Apps. Neben der sexualpädagogischen Methodenerweiterung im digitalen Raum müssen auch Schutzaspekte zur Gewaltprävention gegen Hate-Speech, Cyber- Grooming und sexualisierte Gewalt mittels digitaler Medien zum Einsatz kommen. Angebote der sexuellen Bildung und Gewaltprävention sind aktuell weder strukturell installiert noch sind Förderstrukturen für dezentrale digitale Angebote ausgelegt. Im Bereich der Fort- und Weiterbildung für (sexual-)pädagogische Fachkräfte gewinnen Formate wie E-Learning, Webinare, Podcasts oder Apps zu Themen wie Kinderschutz und sexueller Bildung an Aktualität. Die Digitalität geht mit transnationalen und hybriden Verschiebungen und Transformationen einher, sodass auch in digitalen Kontexten zu Sexualitäten und Diversitäten auf die jeweiligen digitalen Grenzbereiche mit kontext- und situationsdynamischen Schutzprozessen reagiert werden kann. Konkreter sind in den bestehenden Grenzbereichen und Grauzonen die Themen von Sexting und Pornografie im Kontext Jugend zu diskutieren. Neben Chancen und Risiken sind die unterschiedlichen Bedürfnisse und die aktuellen Verschiebungen durch die Digitalität zu Intimität, Bildkommunikation, Solosexualitäten und digitaler Nacktheit insbesondere in Umgangsweisen zu thematisieren und die Sichtweisen Jugendlicher dabei einzubeziehen. Durch digitale Communities und Jugendnetzkulturen sowie durch das Prostituiertenschutzgesetz (2017) steht Sexarbeit als Thema zwischen Regulierung, Tabuisierung und digitaler Normalität und ist auch über die Thematisierung von popkulturellen Phänomenen wie ASMR oder Hiphop möglich. Die digitale Pluralität von Normalitätskonstruktionen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist im Kontext Jugendarbeit zu berücksichtigen. Professionalisierung sexueller Bildung Die Neukonzeptualisierung der Sexualpädagogik als sexuelle Bildung brachte einen Perspektivwechsel zwischen Lehrenden und Lernenden der sexuellen Bildungsarbeit mit sich. Neben den Erweiterungen der sexual- und bildungspädagogischen Methodenpraxis auch durch beginnende Diversifizierung von (digitalen) Perspektiven zu Behinderungen und Queerness sowie psychosozialem Wohlbefinden, werden die Themen durch die Teilnehmenden im Setting gesetzt. Die sexualpädagogische Praxis wird dadurch dynamischer und flexibler, sodass soziale und kommunikative Komponenten wesentlich in sexualpädagogischer Gruppenarbeit sind (Schmidt/ Sielert/ Henningsen 2017). Sexuelle Bildung sieht die kommunikative Beziehung zwischen den Lernenden und Lehrenden als wechselseitig und in Aushandlungsprozessen zu spezifischen situativen Themeninhalten. Dabei werden pädagogische Fachkräfte in deren gesellschaftlicher Positionierung als kritisch-reflexiv verstanden und in einem sexualpädagogischen Setting agierend, „dessen Steuerung eher bilateral verhandelt wird“ (Schmidt/ Sielert/ Henningsen 2017, 125). Settings sexueller Bildung konstituieren sich demnach in (hybriden) Räumen und Zeit des situationsdynamischen Anspruches der sexuellen Bildung und ermöglichen zugleich diesen situativen Kontext. Zentral dabei sind die Themen und Interessen der Workshopteilnehmenden und die methodisch-didaktische Begleitung an diesen auszurichten. 325 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Bildung, Diversität, partizipative Schutzprozesse Handlungspraktische Empfehlungen für die Jugendarbeit: Ein Ausblick Die dargestellten Perspektivierungen bewegen sich in aktuellen Fachdebatten zu sexueller Bildung, Diversität und partizipativen Schutzprozessen. Erste sexualpädagogische Ansätze wurden mit der Absicht geleitet, mit gesundheitsförderlichen und positiven Perspektiven auf Sexualität zu blicken und den Menschen zugänglicher zu machen als auch Diversitätsaspekte aufzufächern (Schmidt/ Sielert/ Henningsen 2017). Sexualität und Gewalt und deren Verhältnis zueinander ist historisch, politisch und im Alltag zu thematisieren und multiperspektivisch zu betrachten. Spätestens durch den „Sommer der Migrationen“ in 2015 sind intersektionale und interkulturelle Ansätze ebenso im pädagogischen Alltag aktuell und in der Trias von sexueller Bildung, Diversität und Schutz weiter zu differenzieren (Voss 2019). Für unterschiedlichste Kontexte der Jugendarbeit lassen sich demzufolge handlungspraktische Empfehlungen ableiten, die folglich in strukturell-organisationalen, konzeptionell-methodischen und alltagspraktischen Sichtweisen aufgezeigt werden. Die organisationalen Auseinandersetzungen zu sexueller Bildung, Diversität und partizipativen Schutzkonzeptionierungen beziehen sich auf unterschiedliche Facetten und Bereiche in pädagogischen Einrichtungen. Neben der strukturellen Konzeptionierung der Arbeit und der Angebotszugänge sind insbesondere pädagogische Beziehungen und die Ausgestaltungen dieser mittels Methodenpraxis im Fokus, sowie die Systeme und die jeweiligen Akteur*innen im Kontext Jugend (Wolff et al. 2017). Dabei sind Möglichkeiten der Beschwerde und Unterstützung für junge Menschen zu installieren und aufzuzeigen - auch über externe Angebote. Für den Bereich der Weiterbildungen sind theoretische Auseinandersetzungen, Reflexionsarbeit sowie anwendungsorientierte Methodenkenntnisse im Rahmen von sexueller Bildung, Diversität und partizipativer Schutzprozesse strukturell weiterhin auszugestalten und als Professionalisierungsangebote zu ermöglichen. In der konzeptionell pädagogischen Praxis ist dabei zentral, dass Jugendliche und junge Menschen partizipativ mitbestimmen können. Dabei sind Aushandlungen über Strukturen, Abläufe und Handlungsmöglichkeiten in den verschiedensten Angeboten der Jugendarbeit regelmäßig zu aktualisieren. In der Herstellung von Beteiligungsroutinen und Mitbestimmungsgelegenheiten sind insbesondere die subjektiven Sichtweisen von Jugendlichen und jungen Menschen in den Fokus zu stellen, auch wenn Austauschbedarf zu Fragen von Sexualitäten, Geschlechtern, Mehrfachzugehörigkeiten diskutiert werden möchten und partizipative Schutzräume definiert werden. Dabei stehen die Prinzipien von Selbstbestimmtheit, Freiwilligkeit, Mitbestimmung, Zustimmungspraxen und die Thematisierung von Grauzonen, Grenzen und ,no-goes‘ im Vordergrund; individuelle Schutzbedarfe werden dadurch ermöglicht. Diese sind jeweils weder zu determinieren noch zu tabuisieren. Mit Formen von Handlungsbemächtigung und des Ernst-Nehmens werden Prozesse von Empowerment gestärkt. Mit Blick auf gegenläufige Positionierungen und Widerstandspraktiken sind die Umgangsweisen mit Widersprüchen produktiv zu machen sowie solidarisch gemeinsame Gegenpraktiken zu entwerfen, ohne weitere Ausschlüsse zu produzieren. Im pädagogischen Alltag können handlungspraktische Empfehlungen den Partizipationsprinzipien von Voice, Choice und Exit zugeordnet werden (Wolff et al. 2017). Diese Partizipationsprinzipien sind gemeinsam mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen für die pädagogischen Angebote entlang bestehender Strukturen, Interessen und Bedarfe zu formulieren und im Trias sexueller Bildung, Diversität und partizipativer Schutz auszugestalten. 326 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Bildung, Diversität, partizipative Schutzprozesse 1. Voice ➤ Können Jugendliche und junge Erwachsene die pädagogischen Angebote mitgestalten, Themen einbringen und auch verändern dadurch erleben? Besteht eine Angebotsvielfalt? ➤ Gibt es Hinweise und Zugänge zu mehreren (auch externen) Ansprechpersonen/ Bezugsbetreuer*innen für Jugendliche und junge Erwachsene und können diese auch selbstbestimmt gewechselt werden? ➤ Wird nach der Zustimmung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen gefragt, wenn Sexualitäten, Vielfalt und Gewalt zum Thema wird? Werden unterschiedliche Sichtweisen und Positionierungen ermöglicht? 2. Choice ➤ Besteht die Selbstverständlichkeit, dass Jugendliche und junge Erwachsene ihre eigenen Interessen und Bedarfe deutlich machen? ➤ Werden für Jugendliche und junge Erwachsene Angebote und Situationen ermöglicht, in denen Fragen rund um sexuelle Bildung, Diversitäten und (Peer-)Gewalt zum Thema gemacht werden können? ➤ Wird Jugendlichen und jungen Erwachsenen offengelassen, sich im pädagogischen Alltag zu Sexualitäten, Diversität und (Peer-)Gewalt auszutauschen? 3. Exit ➤ Können Jugendliche und junge Erwachsene alle Situationen problemlos verlassen und das Prinzip von Freiwilligkeit für sich beanspruchen? ➤ Bekommen Jugendliche und junge Erwachsene Gesprächsangebote und Unterstützung, nachdem sie die Situationen verlassen werden? ➤ Werden Jugendlichen und jungen Erwachsenen Alternativen aufgezeigt und werden sie begleitet bei Übergängen zu anderen Angeboten? Die Wirkungsfaktoren der Partizipationsprinzipien von Voice, Choice und Exit müssen in der Alltagspraxis des pädagogischen Settings reflexiv im Spannungsfeld der Trias betrachten werden; sowohl in formalisierten Settings und der Methodenpraxis sexueller Bildung, in ad-hoc-Gesprächssituationen zu diversitäts- und sexualpädagogischen Bildungsgelegenheiten als auch durch die gemeinsame Ausgestaltung von partizipativen Orten. Formalisierte Settings sind methodengestützt, in denen situations- und bedarfsspezifisch reagiert werden kann, um den Interessen der Teilnehmenden nachgehen zu können. Partizipative Arbeitsweisen mittels Freiwilligkeit, Mitbestimmung, Transparenz, Vielfalt von Sichtweisen und Aushandlungen sind in kritisch-machtreflexiven Ansätzen einer intersektional agierenden sexuellen Bildung zu verorten, auch um organisationale Hierarchiepraxen in den Blick zu nehmen und den Umgang mit innerwie außerorganisationalen Machtstrukturen auszuhandeln und partizipative Orte der Mitgestaltung für vielfältige Lebensrealitäten und Positionierungen zu ermöglichen. Sexuelle Bildung, Diversität und Schutz findet gestützt durch Didaktik und Methodik statt sowie in professionellem Handeln in pädagogischer Beziehungsgestaltung und auf konzeptionell-organisationalen Ebenen. Neben den historischen Rückblicken zu Perspektiven auf die Geschichte der Sexualaufklärung sind durch diversitätsorientierte Ansätze die Berücksichtigung von Vielfalt und Queerness sowie weitere Differenzen und Positionen ermöglicht. Die interkulturellen Perspektivierungen zeigen insbesondere strukturelle Implementierungen von diskriminierungs- und rassismuskritischen Ansätzen auf. Perspektiven auf Barrierefreiheit und Behinderungen sind in diesem Beitrag als Leerstelle zu markieren - aktuelle Inklusionsdebatten bewegen sich von gewaltpräventiv fokussiertem Ansatz hin zu einer Betonung der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen, die Behinderungserfahrungen machen (Trübe/ Krüger/ Jennessen 2019). Digitale 327 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Bildung, Diversität, partizipative Schutzprozesse Perspektivierungen sind weiter auszudifferenzieren, in den relationalen Verhältnisbestimmungen grundlegend zu thematisieren und Akzentverschiebungen durch diese zu verdeutlichen. In den angeführten Sichtweisen zu gewaltpräventiven sowie beteiligungs- und schutzorientierten Kontexten sind die machtreflexiven Grundlagen der sexuellen Bildung weiterzutreiben sowie die Professionalisierungsperspektiven für die sexuelle Bildung strukturell anzulegen, damit diese in organisationaler Praxisentwicklung entfaltet werden können. Sexuelle Bildung, Diversität und partizipative Schutzprozesse sind integraler Bestandteil pädagogischer Arbeit in allen Bereichen der Jugendarbeit. Tom Fixemer Alina Marlene Schmitz Universität Kassel FB 05 - Soziologie der Diversität E-Mail: tom.fixemer@uni-kassel.de schmitz@uni-kassel.de Literatur Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2015): Jugendsexualität. Die Perspektive der 14 - 25-Jährigen. Köln Busch, U., Hahn, D. (Hg.) (2014): Abtreibung: Diskurse und Tendenzen. Transcript Verlag, Bielefeld, https: / / doi.org/ 10.14361/ transcript.9783839426029 Döring, N. (2019): Jugendsexualität heute: Zwischen Offline- und Online-Welten. In H.-J. Voß, M. Katzer (Hrsg.), Kulturelle Bildung zur Förderung geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung: Zur Relevanz von Kunst und Medien, 221 - 244. Psychosozial Verlag, Gießen, https: / / doi.org/ 10.30820/ 9783837974560-219 Gesellschaft für Sexualpädagogik (2019): Berufsethische Standards für sexualpädagogisch Tätige in der gsp. Online-Quelle: https: / / gsp-ev.de/ wp-content/ uploads/ 2019/ 12/ Ethische_Standards.pdf (zuletzt aufgerufen am 7. 3. 2020) Hark, S., Villa, P.-I. (Hrsg.) (2015): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. transcript Verlag, Bielefeld Henningsen, A., Tuider, E., Timmermanns, S. (2016): Einleitung: widersprüchliche Gleichzeitigkeiten und Sexualpädagogik in der Kontoverse. In: A. Henningsen, E. Tuider, S. Timmermanns (Hrsg.) (2016). Sexualpädagogik kontrovers, 7 - 16. Juventa, Weinheim und Basel Schmidt, R.-B., Sielert, U., Henningsen, A. (2017): Gelebte Geschichte der Sexualpädagogik. 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Landratsamt Burgenlandkreis/ Hochschule Merseburg Wolff, M., Schröer, W., Fegert, J. M. (2017): Schutzkonzepte in Theorie und Praxis. Ein beteiligungsorientiertes Werkbuch. Juventa, Weinheim und Basel Vobbe, F., Kärgel, K. (2019): Sexualisierte Gewalt mit digitalem Medieneinsatz. Herausforderungen und Handlungsfelder im fachpädagogischen Umgang. Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis (KJug), 2/ 2019, 48 - 52