unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art53d
71
2020
727+8
„Schon in der Kita?“
71
2020
Stephanie Nordt
Thomas Kugler
Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen prägen neben zahlreichen weiteren Vielfaltsaspekten das Leben von Kindern und ihren Familien. Fachkräfte können mithilfe von Praxisimpulsen ihr pädagogisches Handeln inklusiver gestalten und damit auch schon in der Kita allen Kindern gleichermaßen ihr Recht auf diskriminierungsfreie Bildung gewähren.
4_072_2020_7+8_0009
333 unsere jugend, 72. Jg., S. 333 - 340 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art53d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Stephanie Nordt Jg. 1965; Dipl.-Sozialpädagogin und Erzieherin. Seit 1999 Bildungsreferentin in der Erwachsenenbildung bei der Berliner Bildungseinrichtung KomBi e.V. und 2009 Mitbegründerin von QUEERFORMAT Fachstelle Queere Bildung „Schon in der Kita? “ Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Pädagogik Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen prägen neben zahlreichen weiteren Vielfaltsaspekten das Leben von Kindern und ihren Familien. Fachkräfte können mithilfe von Praxisimpulsen ihr pädagogisches Handeln inklusiver gestalten und damit auch schon in der Kita allen Kindern gleichermaßen ihr Recht auf diskriminierungsfreie Bildung gewähren. Menschenrechtliche Grundlagen für die Thematisierung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt In ihrem ergänzenden Bericht an die Vereinten Nationen zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland verweist die National Coalition Deutschland auf das Gleichheitsgebot und den Diskriminierungsschutz als „[…] Kernelemente des Menschenrechtsschutzes, die ihr Fundament in der Menschenwürde finden, die allen Menschen gleichermaßen zukommt“ (National Coalition Deutschland 2019, 20). Das Netzwerk zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention macht in diesem Zusammenhang auf Gruppen von Kindern aufmerksam, die erwiesenermaßen besonders stark von Diskriminierung, Benachteiligung oder Mobbing betroffen sind, und nennt neben Kindern mit Migrations- oder Fluchtgeschichte, Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien, Roma-Kindern und Kindern mit Behinderungen auch explizit die Situation von lesbischen, schwulen, transidenten und intergeschlechtlichen (LSBTI) Kindern und Jugendlichen, die einer erhöhten Gefahr von alltäglichen Diskriminierungen und Ausgrenzungen ausgesetzt sind (vgl. ebd., 21). Nicht nur in Schulen, sondern auch in frühpädagogischen Einrichtungen stoßen schon junge Kinder manchmal auf Ablehnung oder Unverständnis, wenn sie sich in ihrer Geschlechtsidentität, ihrem Rollenverhalten, ihrer sich entwickelnden sexuellen Orientierung oder ihrer Familienform von der Mehrheit der anderen Kinder unterscheiden. Fachkräfte begegnen immer wieder Thomas Kugler Jg. 1962; Dipl.-Sozialpädagoge. Seit 1993 Bildungsreferent in der Erwachsenenbildung bei KomBi e.V. und 2009 Mitbegründer von QUEER- FORMAT Fachstelle Queere Bildung 334 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Viefalt in der Kita Kindern, die sie als nicht geschlechterrollenkonform wahrnehmen oder die sich selbst nicht mit den an sie herangetragenen geschlechtsbezogenen Rollenerwartungen wohlfühlen. Zunehmend stellen Fachkräfte in Fortbildungen Fragen über intergeschlechtliche Kinder oder zum Umgang mit transgeschlechtlichen Kindern in der Kita. Zudem wachsen immer mehr Kinder in Regenbogenfamilien auf, in denen Themen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt auf der Elternebene repräsentiert sind. In einem bundesweiten Forschungsprojekt des Deutschen Jugendinstituts gaben 15,7 % der gleichgeschlechtlich liebenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, „schon immer“ gewusst zu haben, dass sie nicht heterosexuell sind (Krell/ Oldemeier 2017, 71). Aufgrund sozialer Ungleichheitsverhältnisse erfordert die Umsetzung von Gleichheit und Nicht-Diskriminierung eine norm- und diskriminierungskritische pädagogische Praxis, die Vielfalt wertschätzt, ungleiche Machtverhältnisse, Vorurteile und Einseitigkeiten erkennt und Barrieren für Lernen und Partizipation abbaut. Die Wohlfahrtsverbände in Deutschland verknüpfen daher mit gutem Grund in ihrem gemeinsamen Thesenpapier „Wir sind politisch. 11 Thesen zu Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung“ Demokratieerziehung mit diskriminierungskritischer Praxis und vorurteilsbewusster Vielfaltspädagogik (Koordinierungsstelle „Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung“ 2019). Sie plädieren für eine gleichberechtigte Kultur des Miteinanders, in der Menschen „beispielsweise wegen ihrer Lebens- und Familienform, wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung, […]“ nicht herabgewürdigt werden (ebd., 7. These: In der Kindertagesbetreuung hat diskriminierendes Verhalten keinen Platz). Fachkräfte sollen ihre eigenen Vorurteile reflektieren, sich gegen Diskriminierung positionieren und Kinder anregen, kritisch über Ungerechtigkeiten nachzudenken und aktiv gegen Ausgrenzung vorzugehen. Die Strukturen der Einrichtung sollen hinsichtlich möglicher Ausschlüsse überprüft und die Räumlichkeiten vielfaltsorientiert und frei von Stereotypen gestaltet werden. „Auch Leitbilder, Konzeptionen, Aushänge, die Ausgestaltung von Festen, festgelegte Abläufe und ungeschriebene Regeln und Routinen sind auf Partizipation und Inklusion ausgelegt“ (ebd., 8. These: Demokratisches Handeln braucht Diversitätsbewusstsein und Diskriminierungskritik). Inklusive Vielfaltspädagogik zwischen Frühsexualisierungsvorwurf und fachlicher Anerkennung Auf Gleichheit als Grundwert und auf Diskriminierungsschutz fußt auch das Bildungskonzept einer menschenrechtlich fundierten inklusiven Vielfaltspädagogik von QUEERFORMAT, der Fachstelle Queere Bildung, die das Land Berlin zum Januar 2019 geschaffen hat. Schon seit 2010 war die damalige Bildungsinitiative QUEERFORMAT im Auftrag des Landes Berlin mit der Umsetzung eines Landesaktionsplans für die Akzeptanz sexueller Vielfalt im Bildungsbereich beschäftigt und hatte Fortbildungen und Bildungsmaterialien für pädagogische Fachkräfte in Schulen, Kindertagesstätten, Jugendämtern und Trägern der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt. Die Fachstelle wendet einen Diversity-Ansatz an, der die Menschenrechtsbildung, die Pädagogik der Vielfalt und die Lebensformenpädagogik verbindet. Dieser fachliche Ansatz bietet in Anlehnung an die so genannte „Trias der Menschenrechtsbildung“ (Kugler/ Nordt 2009) im Lernen über, durch und für die Menschenrechte eine Kombination von Wissensvermittlung, Reflexion und Handlungsorientierung. Die von Annedore Prengel (1995) entwickelte Pädagogik der Vielfalt richtet ihr Augenmerk auf die Kriterien Geschlecht, Behinderung und Herkunft und wird sinnvoll ergänzt durch die Lebensformenpädagogik, die auch sexuelle Orientierung und sexuelle Identität explizit als Bestandteil gesellschaftlicher Vielfalt 335 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Viefalt in der Kita sieht und als Aufgabenstellung pädagogischen Handelns aufgreift. In der Argumentation mit Menschenrechten und Kinderrechten (vor allem dem Recht auf Bildung in Verbindung mit dem Recht auf diskriminierungsfreies Lernen) knüpft dieser Ansatz auf einer pädagogischen Ebene an gesellschaftliche Diskurse an, in denen - z. B. durch internationale Entwicklungen, wie die Debatte um Inklusion oder durch Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Forderungen von Selbstvertretungsorganisationen - heute Persönlichkeitsrechte und Diskriminierungsschutz verstärkt thematisiert werden. Für die Elementarpädagogik erweisen sich sexuelle und geschlechtliche Vielfalt dann als anschlussfähige Themen, wenn sie in einen schlüssigen theoretischen Zugang zur frühen Bildung eingebettet sind, der die fachliche Umsetzung mit normativen Aufträgen begründet und gleichzeitig Praxisfragen anhand konkreter Handlungsempfehlungen begegnet (vgl. Kugler 2020, 122 - 127). Eine vielfaltsorientierte Pädagogik, die sich an den Lebenswelten von Kindern und ihren Familien orientiert und auf Inklusion und Kinderrechten basiert, muss sich auch mit der Vielfalt von Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen beschäftigen. Dieser Anspruch stellt allerdings selbst im 21. Jahrhundert keinen gesellschaftlichen Konsens dar. Insbesondere in konservativen, rechtspopulistischen und antifeministischen Kreisen löst die pädagogische Thematisierung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt immer wieder Gegenwehr aus. Dies zeigte sich beispielsweise, als das Sozialpädagogische Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg und die Bildungsinitiative QUEERFOR- MAT im Februar 2018 eine Handreichung mit dem Titel „Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben“ für Fachkräfte der Kindertagesbetreuung zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Kontext frühkindlicher Inklusionspädagogik veröffentlichten. Die umfangreiche Praxishilfe mit dem Titel „Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben“ bietet Fachkräften der Kindertagesbetreuung grundlegende Informationen und vermittelt menschenrechtsbasiert praxisbezogene Anregungen für ein inklusives pädagogisches Handeln im Umgang mit Familien- und Geschlechtervielfalt. Zudem enthält sie zahlreiche Bücher- und Materialempfehlungen für die Arbeit mit jungen Kindern, in denen vielfältige Familienformen und Lebensweisen repräsentiert sind. Sexualpädagogisch ausgerichtete Bücher sind nicht darunter, denn der Handreichung liegt kein sexualpädagogischer Ansatz im engeren Sinne zugrunde. Anhand von zahlreichen praxisorientierten Beispielen wird erläutert, wie Inklusion, Teilhabe und Barrierenabbau in Bezug auf die Vielfalt von Geschlechtern und Familienformen aussehen können. Dabei greift die Handreichung häufig gestellte Fragen aus der Alltagspraxis der Kindertagesstätten auf - z. B. zum Umgang mit geschlechtsvariantem Verhalten von Kindern oder zur Zusammenarbeit mit Eltern - und formuliert Lösungsvorschläge für diese Bedarfe der Fachkräfte. Kurz nach Veröffentlichung der Fachpublikation gab es einen „medialen Sturm der Entrüstung gegen die pädagogische Handreichung, die als agitatorisches Instrument der Frühsexualisierung von Kindern verunglimpft wurde. Nach einer Analyse des unabhängigen Medienmagazins ‚Übermedien‘, das seit 2016 Medienberichterstattung kritisch beobachtet, handelte es sich um eine ‚Schmutz- und Desinformationskampagne‘ [Niggemeier 2018], an der u. a. BILD, B.Z., HuffPost und Welt am Sonntag beteiligt waren“ (Kugler 2018, 192). Während nur wenige Zeitungen positiv über die Fortbildungsmaterialien berichteten und in mehreren parlamentarischen Debatten über die Handreichung gestritten wurde, fielen die Reaktionen aus der Fachwelt durchgehend zu- 336 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Viefalt in der Kita stimmend aus. So befürworteten der Landesverband des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der GEW Landesverband Berlin, das Diakonische Werk und der Verband evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder Berlin- Brandenburg-schlesische Oberlausitz, der Humanistische Verband, der Landesverband der Arbeiterwohlfahrt und der Berliner Landeselternausschuss Kindertagesstätten die Handreichung mit öffentlichen Stellungnahmen (vgl. Kugler 2018, 192). Das große und emotional aufgeladene Medienecho und die konservativ-rechtspopulistischen Angriffe einerseits sowie die positiven pädagogisch-fachlichen Stellungnahmen andererseits verhalfen den Fortbildungsmaterialien zu hoher Bekanntheit und starker Nachfrage. Gleichzeitig bestätigten die Reaktionen, wie notwendig Bildungsarbeit und pädagogische Materialien zu Themen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt nach wie vor sind. Recht auf diskriminierungsfreies Lernen von Anfang Solange LSBTI-Personen wegen ihrer Lebensweisen herabgewürdigt und diskriminiert werden, braucht es pädagogische Maßnahmen, die Kinder von Anfang an altersangemessen zu diesen Themen zu informieren, sie zu unterstützen und vor Diskriminierung zu schützen. Gerade die Information, die durch ihre langfristige Wirkung nachhaltig zum Abbau von Diskriminierung beiträgt, entspricht dem Bildungsziel der Vereinten Nationen, „das Kind auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft […] vorzubereiten“, wie es in der Kinderrechtskonvention (Artikel 29 [1] KRK) festgehalten ist. Dieses Bildungsziel findet sich auch im Berliner Kindertagesförderungsgesetz, das den unmittelbaren Auftrag formuliert, Kinder vorzubereiten„auf das Leben in einer demokratischen Gesellschaft, […] in der alle Menschen ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Identität […] gleichberechtigt sind“ (§ 1, Abs. 3, Nr. 2 KitaFöG). Die pädagogische Auseinandersetzung mit Themen geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen basiert auf politischen, normativen und fachlichen Rahmenbedingungen, die allen jungen Menschen ihr Recht auf diskriminierungsfreie Bildung gleichermaßen gewähren soll. Gleiche Rechte und gleiche Würde - unabhängig auch von Geschlecht, Geschlechtsidentität oder sexueller Orientierung - stehen allen Menschen zu. Jedes Kind hat das Recht auf diskriminierungsfreies Lernen von Anfang an. Um auf dieser Grundlage sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu thematisieren, benötigen Fachkräfte Wissen, Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und Handlungssicherheit beim Abbau von heteronormativen Barrieren. Heteronormative Barrieren für junge Kinder Der sozialwissenschaftliche Begriff Heteronormativität beschreibt „die Art und Weise wie Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung gesellschaftlich wahrgenommen und bewertet werden. Er steht für die Annahme, es gebe nur zwei Geschlechter und diese zwei Geschlechter seien eindeutig, klar unterscheidbar und unveränderbar. Daher erscheinen in der heteronormativen Geschlechterordnung intergeschlechtliche und transgeschlechtliche Menschen als Problemfälle, denn sie verkörpern Mehrdeutigkeit und Veränderbarkeit von Geschlecht. Weiter stehen die beiden Geschlechter in einem hierarchischen Verhältnis zueinander: Männlichkeit wird höher bewertet als Weiblichkeit. Und schließlich sieht die heteronormative Geschlechterordnung Begehren nur zwischen den Geschlechtergruppen, nicht innerhalb von ihnen vor: Heterosexualität gilt als natürlich und normal. Daher erscheint gleichgeschlechtliche Liebe in dieser Sichtweise als Problemfall“ (Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg und QUEERFORMAT 2018, 19f ). Kinder, die aufgrund ihrer Geschlechtsmerkmale, ihrer Ge- 337 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Viefalt in der Kita schlechtsidentität, ihres Geschlechtsausdrucks und/ oder ihrer sexuellen Orientierung auf eben solche heteronormative Barrieren stoßen, gelten in der sozialwissenschaftlichen Forschung als besonders vulnerabel (vgl. Kugler 2017). Ihre Lebenslagen und entsprechende Risikofaktoren unterscheiden sich dabei zum Teil stark voneinander. Ein intergeschlechtliches Kind trifft auf andere Bedingungen als ein Mädchen aus einer Regenbogenfamilie oder ein transgeschlechtlicher Junge, auch wenn alle auf heteronormative Barrieren stoßen und z. T. ähnliche Unterstützungsangebote benötigen. Zudem gibt es große Unterschiede innerhalb der jeweiligen LSBTI-Gruppen, weshalb Aspekte sexueller und geschlechtlicher Vielfalt nie isoliert von weiteren Differenzkategorien betrachtet werden können, die sozialen Ungleichheitsverhältnissen unterliegen: Intergeschlechtliche Kinder, transgeschlechtliche Kinder und diejenigen, die sich lesbisch, schwul oder bisexuell identifizieren (werden), haben unterschiedliche Geschlechter, soziale und ethnische Herkünfte, Befähigungen, Altersstufen und Religionen. Das bedeutet, dass sie außer von Homo- und Transphobie zusätzlich in unterschiedlicher Weise von Sexismus, Rassismus, Klassismus, Adultismus, antimuslimischem Rassismus, Antisemitismus und/ oder Behindertenfeindlichkeit betroffen sein können. Die Verwobenheit und das Zusammenwirken verschiedener Differenzkategorien müssen deshalb immer intersektional betrachtet und analysiert werden. Praxisimpulse: Geschlechtervielfalt sichtbar machen Wie können Fachkräfte der frühen Bildung mehr Handlungssicherheit für den Abbau heteronormativer Barrieren gewinnen? Inklusion und Kinderrechte als normativer Rahmen und besonders der Bezug auf Gleichheit als Grundwert und auf Diskriminierungsschutz können eine argumentative Stärkung für Fachkräfte sein, die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Rahmen einer menschenrechtlich fundierten inklusiven Vielfaltspädagogik in ihr pädagogisches Handeln integrieren wollen. Gleichzeitig stellt sich neben dem theoretischen Zugang über Menschenrechte unmittelbar die Frage nach der praktischen Umsetzung. Hier sind Praxishilfen nötig, wie sie auch die Berliner Handreichung bietet. U. a. wurden in ihr fünf Leitlinien für eine trans*sensible pädagogische Haltung (Recla 2013) aufgegriffen, auf den Bereich der frühkindlichen Bildung übertragen und um den Aspekt eines inklusiven Umgangs auch mit demThema Intergeschlechtlichkeit erweitert (Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg und Bildungsinitiative QUEERFORMAT 2018, 60 - 67). 2019 wurden sie weiterentwickelt zu Handlungsempfehlungen für einen inklusiven Umgang mit Geschlechtervielfalt im Bereich der frühkindlichen Bildung (vgl. Kugler 2020, 127 - 134). Ein wesentlicher Aspekt ist es hierbei, Geschlechtervielfalt in unterschiedlichen Bereichen der eigenen pädagogischen Tätigkeit als Fachkraft sichtbar zu machen: Altersangemessene Informationen, Sprache und Ansprache Fachkräfte können Kindern die vorhandene Vielfalt von Geschlechtsausdruck aufzeigen und Geschlechterstereotype zurückweisen durch die Art und Weise, wie sie selbst von Mädchen, Jungen und Kindern sprechen. Insbesondere sollten sie auf geschlechtsbezogene Generalisierungen verzichten und auch auf sie reagieren, wenn Kinder selbst sie vornehmen. Da Kinder in ihrem Umfeld oder in Medien sehr oft vergeschlechtlichte Botschaften hören, z. B. „Die Mädchen mögen Rosa“ oder „Alle Jungen spielen gern Fußball“, geben sie solche Aussagen auch selbst wieder. Fachkräfte können durch ihre Reaktion diese eindimensionale Perspektive erweitern und z. B. sagen„Manche Mädchen mögen Rosa, manche Jungen auch. Und es gibt Kinder, die andere Farben schöner finden. Alle Farben sind für alle da.“ 338 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Viefalt in der Kita Fachkräfte können Kinder altersgemäß über Geschlechtervielfalt informieren und aktiv ansprechen, dass wir in einer Welt mit mehreren Geschlechtern leben, dass es mehr als Mädchen und Jungen gibt und dass jeder Mensch, auch jedes Kind, über das eigene Geschlecht am besten Bescheid weiß. Hilfreich für das Verständnis können dabei anschauliche Beispiele aus dem wirklichen Leben sein: Am lebendigsten und eindrücklichsten sind Beispiele von Erwachsenen oder Kindern, die selbst intergeschlechtlich, transgeschlechtlich, gleichgeschlechtlich oder in einer Regenbogenfamilie leben und die Lebenswelt der Kinder teilen (Hinweise zu geeigneten Bilderbüchern im nächsten Absatz). Fachkräfte können außerdem mit Geschichten arbeiten, in denen Geschlechterrollen flexibel gestaltet sind. Sie können von Tieren berichten, bei denen Geschlechterwechsel (wie bei Lippfischen oder Clownfischen) oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften (wie bei Delfinen oder Pinguinen) dokumentiert sind oder den Kindern anhand bekannter Pflanzen (wie Salbei, Haselnuss oder Mais) aufzeigen, dass wir auch in unserem unmittelbaren Alltag Lebewesen kennen, die gleichzeitig zwei Geschlechter haben. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Worte, die Kinder selbst finden, wenn sie über Geschlechter sprechen oder sich selbst beschreiben. Manchmal werden dabei kreative Formulierungen wie Mädchenjunge gewählt, die Fachkräfte spielerisch aufnehmen und im Dialog mit den Kindern besprechen können. Pädagogische Materialien und Medien Fachkräfte können durch pädagogische Materialien und Medien Wissen über Geschlechtervielfalt altersgerecht vermitteln und gleichzeitig Verständnis und Empathie bewirken. Mit geeigneten Bilderbüchern können sie mit Kindern über die Biografien und Identitäten von Hauptfiguren der Bücher, aber auch von Teddys, Puppen und anderen Spielfiguren der Kinder sprechen und dabei Themen wie Intergeschlechtlichkeit (z. B. mit Jil ist anders von Ursula Rosen), Transgeschlechtlichkeit (z. B Teddy Tilly von Jesica Walton), gleichgeschlechtliche Liebe (z. B. König und König von Linda de Haan oder Luzie Libero von Pija Lindenbaum) oder Familienvielfalt einschließlich Regenbogenfamilien (z. B. Inga und der verschwundene Wurm von Dirk Zehender) kindgemäß aufgreifen. Mit solchen Impulsen können sie dafür sorgen, „dass Kindern vielfältige Spielformen erschlossen werden“, wie es das Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege in Bezug auf die Gestaltung von Bildungsprozessen formuliert. Denn: „Kinder können nur das spielen, was sie erlebt, gesehen, erfahren haben oder sich in ihrer Phantasie vorstellen können“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2014, 39). Zwar existieren bislang nur wenige Bilderbücher, die Themen wie Intergeschlechtlichkeit, Transgeschlechtlichkeit oder gleichgeschlechtliche Lebensweisen behandeln. Allerdings haben Bildungseinrichtungen und Verwaltungen in den letzten Jahren aus diesem Grund gezielt Materialsammlungen veröffentlicht, in denen Fachkräfte auch Bilderbücher finden, die Geschlechtervielfalt und Familienvielfalt aktiv aufgreifen. Beispiele hierfür sind etwa die beiden Medienkoffer für Kindertagesstätten und für Grundschulen, die QUEERFORMAT 2011/ 13 für die Berliner Bildungsverwaltung erstellt hat, und diesem Beispiel folgend weitere Materialsammlungen in anderen Bundesländern (vgl. Bildungsinitiative QUEERFORMAT 2011, 2013 und 2017). Beobachtung und Dokumentation In diesem Bereich lässt sich das Thema Geschlechtervielfalt sichtbar machen, wenn Kinder miteinander Geschlechterrollen oder gleichgeschlechtliche Gefühle verhandeln oder wenn sie geschlechtsvariantes Verhalten im Spiel mit sich selbst oder anderen Kindern zeigen. Fach- 339 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Viefalt in der Kita kräfte sollten darauf achten, möglichst genau zu beschreiben, was sie beobachten, und auf eigene Bewertungen verzichten. So kann z. B. die Formulierung „Cem kleidet sich in der Kita wie ein Mädchen.“ genauer lauten: „Cem trägt in der Kita gerne und häufig verschiedene bunte Röcke und ein Prinzessinnenkleid.“. Beschrieben werden sollten auch die Gefühlsqualitäten, die die Fachkraft bei dem Kind wahrnimmt, z. B. „Er wirkt dabei sehr zufrieden, heiter und vergnügt und geht sehr aus sich heraus.“ Selbstaussagen und eigene Formulierungen der Kinder sollten besonders beachtet werden: Der Unterschied zwischen „Ich möchte heute ein Mädchen sein.“ und „Ich bin ein Mädchen.“ kann für das betreffende Kind bedeutungsvoll sein. Auch die Ressourcen und Kompetenzen, die die Fachkraft wahrnimmt, sollten beschrieben werden, z. B. „Lisa zeigt im Vater- Mutter-Kind-Spiel in der Rolle des Vaters große Fürsorglichkeit im Umgang mit dem Baby und der Mutter. Im Gespräch mit der Mutter macht Lisa deutlich, dass ihr als Vater Arbeit und Familienleben gleich wichtig sind.“. „Eltern, die offen mit der Intergeschlechtlichkeit ihres Kindes umgehen, werden besonders interessiert daran sein, welches Verhalten Fachkräfte beim Spielen wahrnehmen und dokumentieren. Hier geht es vor allem darum, gemeinsam mit dem Kind in Erfahrung zu bringen, welche Selbstdefinition es in Bezug auf seine Geschlechtsidentität entwickelt. Fachkräfte sollten dazu vor allem auf Selbstauskünfte des Kindes achten und keine voreiligen Schlüsse aus der Wahl von Spielzeug oder Verkleidungsmaterial ziehen. Nicht alle Kinder, die Rosa lieben und sich gerne als Prinzessin verkleiden, identifizieren sich als Mädchen. Im Zweifel führt Nachfragen zu neuen Erkenntnissen“ (Kugler 2020, 129). Stephanie Nordt Thomas Kugler c/ o QUEERFORMAT Fachstelle Queere Bildung (KomBi e.V.), Lützowstr. 28 10785 Berlin Literatur Bildungsinitiative QUEERFORMAT (2011): Medienkoffer Vielfältige Familienformen und Lebensweisen für die Grundschule. In: https: / / www.queerformat.de/ medienkoffer-vielfaeltige-familienformen-undlebensweisen-fuer-die-grundschule-2011/ , 17. 4. 2020 Bildungsinitiative QUEERFORMAT (2013): Medienkoffer Familien und vielfältige Lebensweisen für Kindertageseinrichtungen. In: https: / / www.queerformat. de/ medienkoffer-familien-und-vielfaeltige-lebens weisen-fuer-kindertageseinrichtungen-maerz-20 13/ , 17. 4. 2020 Bildungsinitiative QUEERFORMAT (2017): Ergänzungsliste zum Medienkoffer „Familien und vielfältige Lebensweisen“ für die Grundschule. In: https: / / www. queerformat.de/ wp-content/ uploads/ mat-kita_me dienkoffer_Ergaenzungsliste_04_2017.pdf, 17. 4. 2020 Koordinierungsstelle „Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung“ (Hrsg.) (2019): Wir sind politisch. 11 Thesen zu Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung. In: https: / / www.duvk.de/ media/ filer_public/ 03/ 06/ 0306d9f4-0ee8-4bc4-9304-f256 f31f1e79/ thesenpapier_wir_sind_politisch_final.pdf, 27. 1. 2020 Krell, C., Oldemeier, K. (2017): Coming-out - und dann? ! Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Verlag Barbara Budrich, Opladen, Berlin, Toronto, https: / / doi.org/ 10.2307/ j.ctvddzs8p.5 Kugler, T. (2017): Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität. Queere Jugendliche zwischen Vulnerabilität und Ressourcen. In: Jugendhilfe 55, 364 - 371 Kugler, T. (2018): Fortbildungsmaterialien im Stresstest: Die Kita-Handreichung „Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben - Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik“, in: Spahn, A. und 340 uj 7+8 | 2020 Sexuelle Viefalt in der Kita Wedl, J. (Hrsg.): Schule lehrt/ lernt Vielfalt. Praxisorientiertes Basiswissen und Tipps für Homo-, Bi-, Trans- und Inter*freundlichkeit in der Schule. Waldschlösschen Verlag, Göttingen, 191 - 193 Kugler, T. (2020): Geschlechtervielfalt in der Kita - Theorie und Praxis: Inklusion und Kinderrechte als menschenrechtlichfundierter Zugang einergenderbewussten Pädagogik und Leitlinien für eine inklusive Praxis im Umgang mit Geschlechtervielfalt in der Kindertagesbetreuung. In: Böhm, M., Timmermanns, S. (Hrsg.): Interdisziplinäre Perspektiven auf sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, Beltz, Weinheim Basel, 122 - 135 Kugler, T., Nordt, S. (2009): Sexuelle Identität als Thema der Menschenrechtsbildung Lebensformenpädagogik - Ein praktischer Beitrag zum diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung. In: Lohrenscheit, C. (Hrsg.): Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht, Nomos Verlag, 197 - 216, https: / / doi.org/ 10.5771/ 97838 45216119-197 National Coalition Deutschland - Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention e.V. (Hrsg.) (2019): Die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland, 5./ 6. Ergänzender Bericht an die Vereinten Nationen, National Coalition Deutschland, Berlin. In: https: / / www.umsetzung-der-kinderrechtskonvention.de/ wp-content/ uploads/ 2019/ 10/ NC_ ErgaenzenderBericht_DEU_Web.pdf, 27. 1. 2020 Niggemeier, S. (2018): Die Lüge von der „Sex-Broschüre für Kita-Kinder“. In: https: / / uebermedien.de/ 25645/ die-luege-von-der-sex-broschuere-fuer-kita-kinder, 22. 2. 2018 Prengel, A. (1995): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-658-21947-5 Recla, A. (2013): Links, rechts, geradeaus? Anregungen zum Umgang mit Transgeschlechtlichkeit in der pädagogischen Praxis. In: Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen/ Landesstelle für Gleichbehandlung - gegen Diskriminierung (Hrsg.): „Für mich bin ich o. k.“ Transgeschlechtlichkeit als Thema bei Kindern und Jugendlichen, Berlin, 79 - 94 Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Hrsg.) (2014): Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege, Verlag das Netz, Weimar/ Berlin Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg und Bildungsinitiative QUEERFORMAT (Hrsg.) (2018): Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben - Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik, Berlin Im Artikel exemplarisch erwähnte Bilderbücher Rosen, U. (2015): Jil ist anders. Salmo Verlag, Lingen Walton, J. (2016): Teddy Tilly. Fischer Sauerländer, Frankfurt am Main de Haan, L. (2001): König und König. Gerstenberg Verlag, Hildesheim Lindenbaum, P. (2007): Luzie Libero. Beltz Athenäum, Weinheim Zehender, D. (2011): Inga und der verschwundene Wurm. Mardi Verlag, Hanstedt Für seine Unterstützung bei der Anpassung des Literaturverzeichnisses danken wir Tamino Behling.
