eJournals unsere jugend 72/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2020
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Queere Jugendhilfe

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Stephan Maria Pröpper
Die Frage, ob „queer“ (k)ein Thema in der Jugendhilfe sein sollte, polarisiert und führt oft zu hitzigen Diskussionen. Die Praxis zeigt, dass junge LSBT*I*Q-Menschen besondere Bedürfnisse und Bedarfe haben, für die viele der in der Jugendhilfe tätigen Fachkräfte weder ausgebildet noch sensibilisiert sind. In Folge erfahren diese jungen Menschen oft nicht die nötige Unterstützung, die sie bekommen sollten.
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299 unsere jugend, 72. Jg., S. 299 - 305 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art48d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Queere Jugendhilfe Ausgangslage, Bedürfnisse und sozialpädagogische Begleitung junger Menschen in der Identitätsentwicklung Die Frage, ob„queer“ (k)ein Thema in der Jugendhilfe sein sollte, polarisiert und führt oft zu hitzigen Diskussionen. Die Praxis zeigt, dass junge LSBT*I*Q- Menschen besondere Bedürfnisse und Bedarfe haben, für die viele der in der Jugendhilfe tätigen Fachkräfte weder ausgebildet noch sensibilisiert sind. In Folge erfahren diese jungen Menschen oft nicht die nötige Unterstützung, die sie bekommen sollten. von Stephan Maria Pröpper Jg. 1965; Geschäftsführer - gleich & gleich e.V. Berlin, Dozent und Lehrbeauftragter Ausgangslage Spezialisierte ambulante und stationäre Betreuungsangebote für schwule, lesbische, bi, trans*, inter* und queere (LSBT*I*Q) Jugendliche und junge Erwachsene gibt es erst seit relativ kurzer Zeit in Deutschland. Tatsächlich gibt es europaweit nur einen Träger der Jugendhilfe in Berlin, der seit 1996 diese eklatante Lücke im Jugendhilfesystem schließt. Später folgten Wohnprojekte, die allerdings Hilfen ausschließlich für bestimmte Zielgruppen anboten, also nur für Schwule oder nur für Lesben. Das hat den großen Nachteil, dass der Raum zur Entwicklung der sexuellen Orientierung und/ oder geschlechtlichen Identität der jungen Menschen stark eingeschränkt wird, da sie befürchten müssen, im Fall einer Veränderung ihren Wohnplatz und Bezugspersonen zu verlieren, weil sie nicht mehr der Zielgruppe des Trägers entsprechen. Weitere Auslöser, spezialisierte Betreuungsangebote für LSBT*I*Q-Jugendliche zu schaffen, waren die steigende Zahl an LSBT*I*Q-Jugendlichen und jungen erwachsenen Obdachlosen sowie das deutlich höhere Suizidrisiko im Vergleich zu gleichaltrigen heterosexuellen Jugendlichen. Auch wenn man hofft, dass die Akzeptanz queerer Lebensentwürfe seit 1996 gestiegen ist, hat sich leider das erhöhte Suizidrisiko nicht verändert und auch die Obdachlosigkeit junger Menschen, deren sexuelle Orientierung und/ oder geschlechtliche Identität jenseits von Heteronormativität und Geschlechterdichotomie liegt, steigt weiter an. Die Schule ist oft der erste Ort, an dem diese jungen Menschen schlechte Erfahrungen machen. Mit Beginn der Adoleszenz tauschen sich Peers vermehrt in Pausen und freien Zeiten 300 uj 7+8 | 2020 Queere Jugendhilfe über pubertätsbezogene Themen aus. Oft ist es die Zeit der ersten Verliebtheit und Hormone bewirken verwirrende Gefühle. Jungen und Mädchen, die bislang die Angehörigen des jeweils anderen Geschlechts relativ uninteressant fanden, entwickeln nun ein gesteigertes Interesse. So lassen sich auf dem Schulhof Mädchen- und Jungengruppen beobachten, die gerne über die andere Gruppe oder einzelne Vertreter*innen dieser reden und sie entsprechend ihrer Attraktivität und potenziellen Paarungseignung bewerten. Junge Menschen, die diese Attraktion für das andere Geschlecht nicht empfinden, merken sehr schnell, dass sie anders sind und auch ihre Peers merken das sehr schnell, in der Regel deutlich schneller als das Umfeld der Erwachsenen. Diese jungen Menschen werden dann oft ausgeschlossen, gemobbt oder erfahren sogar physische Gewalt. Lehrkräfte scheinen die betroffenen jungen Menschen nicht nur nicht ausreichend gegen Diskriminierung und Mobbing zu schützen, sondern beteiligen sich sogar daran. Auf die Frage „Wie oft Lehrkräfte gegen trans*- und homophobe Sprache einschreiten“ sagen 48 % der befragten Schüler*innen „niemals“ (Hunt/ Jensen 2007). 22 % erlebten, dass Lehrer bei homophoben Sprüchen weghörten, ca. 27 % berichteten, dass Lehrer bei Schwulenwitzen mitlachten (Biechele/ Reisbeck/ Keupp 2001). Junge Menschen, auch vormals gute Schüler*innen, werden aus Angst vor Repressionen und Gewalt zu solchen, die die Schule verweigern. Noten verschlechtern und Fehlzeiten häufen sich, sie werden nicht versetzt und haben womöglich am Ende überhaupt keinen Schulabschluss. So verlieren sie jeglichen Zugang zu höherer Bildung oder einer ihren Fähigkeiten und Wünschen entsprechenden Ausbildung. Viele dieser jungen Menschen sind intelligent, kreativ und talentiert. So viel wertvolles Potenzial geht verloren, weil junge Menschen entweder in der Schule nicht so geschützt werden, dass sie eine faire Chance auf einen Abschluss erhalten, oder sie über Jahre in den Glauben getrieben werden, dass sie wegen ihrer Andersartigkeit minderwertig und dumm seien. Schon die schulischen Fehlzeiten und der oftmals damit verbundene Leistungsabfall alleine kann zu erheblichen Spannungen im Elternhaus führen. Ein äußeres oder soziales Comingout führt darüber hinaus häufig zu massiven Konflikten. Umfragen zufolge sind mehr als die Hälfte der Jugendlichen von Vorurteilen und Diskriminierung in ihrer Familie betroffen. Die Familie ist kein Ort der Geborgenheit und der Entspannung mehr, im Gegenteil, sie wird zur zusätzlichen Belastung. In der Regel werden die jungen Menschen nicht ernst genommen, beschuldigt, „sich wichtigmachen zu wollen“ und aufgefordert, „wieder normal zu werden“ ( Takács 2006). Verhärten sich die Fronten, kann das mit dem Verweis aus der elterlichen Wohnung oder einer Flucht vor der Familie aufgrund von Bedrohung, Androhung von Gewalt, Freiheitsentzug, geplanter Zwangsverheiratung oder Heilungsversuchen einhergehen. Ob Rausschmiss oder Flucht - in beiden Fällen bedeutet das für die jungen Menschen den Verlust der Familie und schmerzhafte Beziehungsabbrüche von ihren engsten Bezugspersonen. Die angespannte familiäre Situation, die Angst vor der Schule und der innere Konflikt über die eigene Identität bauen einen großen Druck auf, für den die Jugendlichen Ventile suchen. Selbstverletzung, Alkohol- und Drogenkonsum sind Beispiele dafür. Können sie nicht mehr im Elternhaus leben, landen sie im schlimmsten Fall auf der Straße und werden dort nicht selten Opfer Pädophiler, die ihnen Essen und einen Schlafplatz anbieten, aber schon bald im Tausch sexuelle Gefälligkeiten einfordern oder die jungen Menschen an Drogen heranführen, um sie noch stärker in die Abhängigkeit zu zwingen. 301 uj 7+8 | 2020 Queere Jugendhilfe Bedürfnisse ➤ Die jungen Menschen brauchen Rahmenbedingungen, die es ihnen ermöglichen, sich frei zu entwickeln. Dazu gehört unter anderem auch die Entwicklung der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität. ➤ Die jungen Menschen verdienen es, sich in einem diskriminierungs- und gewaltfreien Umfeld zu entwickeln und zu erproben. ➤ Die jungen Menschen brauchen Zeit, sich ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität sicher zu sein, sich damit gesellschaftlich zu platzieren, auch eine doppelte Pubertät zu durchleben und die Jugendphase abzuschließen, um Zukunftsperspektiven entwickeln zu können. Es sollte einfach nachvollziehbar sein, dass junge LSBT*I*Q-Menschen in einer hauptsächlich heteronormativ geprägten Gesellschaft, abgesehen von den allgemeinen Herausforderungen der Pubertät und des Erwachsenwerdens, zusätzliche Hürden durch das innere Comingout und der damit verbundenen Einordnung ihrer sexuellen Orientierung und/ oder geschlechtlichen Identität bewältigen müssen. Zum besseren Verständnis sprechen wir im Allgemeinen von zwei Phasen des Coming-outs, des inneren und des äußeren (Krell/ Oldemeier 2015). Ich füge gerne eine dritte hinzu, die ich als soziales Coming-out bezeichne. Es wird allen fachkundigen Leser*innen klar sein, dass jede Phase in sich mit der Überwindung weiterer emotionaler Schwellen verbunden ist, wo ein betroffener Mensch mit seiner Andersartigkeit ringt. Das innere Coming-out bezeichnet die Phase, in der ein Mensch sich mit seiner von der Heteronormativität abweichenden sexuellen Orientierung und/ oder einer vom biologischen bzw. dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweichenden geschlechtlichen Identität auseinandersetzt und für sich akzeptiert. Das äußere Coming-out bezeichnet die Phase, in der ein Mensch damit nach außen geht, bspw. Freunde, Familie, Mitschüler*innen oder Arbeitskolleg*innen informiert. Das kann bei einem äußeren Coming-out selektiv geschehen. So gibt es Menschen, die in der Stadt, in der sie leben, im kompletten Umfeld (Freunde, Beruf usw.) out sind, aber zu Hause in der Familie oder der Heimatstadt nicht. Oder sie sind nur bei Freunden und Familie out, aber nicht im beruflichen Umfeld. Ich bezeichne das komplette Coming-out in allen Lebensbereichen als soziales Coming-out. Die Adoleszenz an sich stellt sich für viele junge Menschen bereits als Krise dar, was junge LSBT*I*Q-Menschen zusätzlich durchleben müssen, wird zu Recht als „doppelte Krise“ bezeichnet. Während Lesben und Schwule ein äußeres oder soziales Coming-out herauszögern und sogar ganz vermeiden können, sind trans*-Menschen in der Regel zu einem äußeren und sozialen Coming-out gezwungen. Auch in einem stationären Setting, das nicht die Vielfalt sexueller Orientierungen und/ oder geschlechtlicher Identität berücksichtigt, sind LSBT*I*Q-Menschen oft weiterhin Diskriminierungen und Gewalt ausgesetzt, was eine gelingende Beziehungsarbeit verhindert. Ohne eine gute Beziehungsarbeit bleiben aber Folgen problematischer Coming-outs oft unbearbeitet und beeinflussen die weitere persönliche Entwicklung negativ. Kontinuierliche Diskriminierungen und Gewalt verursachen oft ein psychisches Trauma und seelische Verletzungen, die zu weiterem Rückzug und innerer Vereinsamung führen. Selbstwert und Selbstbewusstsein sind stark gemindert und schränken alltägliches Handeln ein. Minderwertigkeitsgefühle führen in manchen Fällen auch zu Veränderungen der Selbstwahrnehmung, was in Folge psychische Auffälligkeiten wie z. B. Essstörungen auslösen kann. Schuldempfinden, bzw. sich selbst für die Problemlage verantwortlich machen, kann Selbstbestrafungen auslösen. Dazu gehört bspw. sich bewusst in gefährdende Si- 302 uj 7+8 | 2020 Queere Jugendhilfe tuationen zu begeben, in denen körperliche Gewalt und sexuelle Misshandlungen wahrscheinlich werden. Schauen wir uns den ersten Paragrafen im Jugendrecht (SGB VIII Artikel 1, § 1) an: (1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. […] (3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere 1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, […] 3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, 4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen. Dies umschreibt sehr deutlich, was wir den jungen Menschen schuldig sind. Soll es gelingen, dem gerecht zu werden, müssen Entscheidungsträger den individuellen (Jugendhilfe-) Bedarf unter Einbezug von evtl. Entwicklungsverzögerungen einschätzen. Das macht Altersgrenzen irrelevant. Natürlich verändert sich der Status eines jungen Menschen mit dem 18. Geburtstag rechtlich: die Volljährigkeit, die volle Geschäftsfähigkeit, Deliktfähigkeit und Wahlrecht, um nur einige Punkte zu nennen. Der Grad der psychischen, sozialen oder persönlichen Entwicklung hingegen kann nicht mit einem Alter beziffert werden. Das Alter sagt nichts über den generellen Reifegrad oder die Bedürftigkeit einer Unterstützung eines Menschen aus. Das durchschnittliche Auszugsalter junger Menschen aus ihrem Elternhaus, in dem sie relativ sorgenfrei und gut behütet aufwachsen, liegt laut der Veröffentlichung von Eurostat 2019 (Erhebungszeitraum 2018) bei 23,7 Jahren. Was veranlasst Entscheidungsträger zu glauben, dass junge Menschen, die aufgrund ihrer teils hochgradig traumatisierenden Erlebnisse einen Teil ihrer Jugend oder Kindheit und ihrer natürlichen Entwicklung eingebüßt haben, schon mit dem 18. Geburtstag aus der Jugendhilfe entlassen werden sollen? Warum wird erwartet, dass sie, die sie mit zusätzlichen Belastungen zu kämpfen haben, fast 6 Jahre schneller reifen? Die jungen Menschen sind nicht ohne Grund in der Jugendhilfe. Sie sollten mindestens genauso lange brauchen dürfen, um sich zu entwickeln und an den Punkt zu kommen auszuziehen und auf eigenen Beinen zu stehen, wie die Jugendlichen, die in ihrer Familie heranwachsen und dazu erst mit ca. 24 Jahren bereit sind. Die logische Schlussfolgerung würde dann bedeuten, dass die Probleme, Erfahrungen und Entwicklungsverzögerungen, die es zusätzlich zu bearbeiten und aufzuholen gilt - und die meist einen deutlichen Jugendhilfebedarf darstellen -, dazu führen sollten, die Jugendhilfegrenze entsprechend über das 24. Lebensjahr zu erhöhen. Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilferecht enden nicht mit der Volljährigkeit, vielmehr gilt das Jugendhilferecht grundsätzlich bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 und 4 SGB VIII). Tatsächlich stellt der 18. Geburtstag für viele junge Menschen in der Jugendhilfe die erste und der 21. Geburtstag die zweite angstbehaftete Hürde dar. In Verbindung mit § 41 SGB VIII kann der junge Mensch über das 18. Lebensjahr hinaus im Rahmen einer Nachreifung unterstützt werden. In der Regel allerdings nur bis zum 21. Geburtstag. Daher plädiere ich dafür, die Zwischengrenze von 21 Jahren nicht nur zu erhöhen, wie es mehr und mehr gefordert wird, sondern komplett zu entfernen und nur abschließend auf 27 Jahre zu begrenzen. Das würde den jungen Menschen, ebenso wie den Mitarbeiter*innen der freien und öffentlichen Träger viel Druck nehmen und alle könnten sich besser auf eine ziel- und ressourcenorientierte Entwicklung der jungen Menschen konzentrieren! 303 uj 7+8 | 2020 Queere Jugendhilfe Bislang scheint gerade die Zwischengrenze von 21 ein großes Problem für die Leistungsträger darzustellen. Zunehmend wird darauf gedrängt, die Jugendhilfe, wenn nicht mit 18, dann aber auf alle Fälle mit dem 21. Geburtstag zu beenden und eine Überleitung in die Erwachsenenhilfe zu forcieren. Selbst Entwicklungserfolge, bestandenes Abitur, beendete Ausbildung usw. dienen oft als Begründungen, Hilfen zu beenden, ohne die noch ausstehenden Entwicklungsbedarfe, die meist durch qualifizierte Gutachten untermauert sind, zu berücksichtigen oder ernst zu nehmen. Für die jungen Menschen, die sich für ein selbstständiges Leben noch nicht bereit fühlen, kommt das nicht nur einer Katastrophe, sondern auch einer Bestrafung gleich, da sie doch so hervorragend mitgewirkt haben. Die Perspektive erneuter Beziehungsabbrüche bewirkt Verlustängste, bereits erreichte Entwicklungserfolge werden infrage gestellt, alte Wunden reißen auf, negative Verhaltensmuster treten wieder an den Tag. In Bezug auf lsbq Jugendliche ergeben sich Entwicklungsverzögerungen oder Bedarfe durch die bereits beschriebenen Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Wenn nun noch, unabhängig von der sexuellen Orientierung, die geschlechtliche Identität vom biologischen oder bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweicht, wie es bei trans*-Menschen der Fall ist und bei inter*-Menschen sein kann, ist eine Entwicklungsverzögerung schon aufgrund einer multiplen, aber zumindest doppelten Pubertät gegeben. Eine Hormontherapie bewirkt drastische Veränderungen. Nicht nur die Gefühlswelt der jungen Menschen wird auf den Kopf gestellt, sie müssen erneut mit körperlichen Veränderungen kämpfen. Auch wenn diese Veränderungen gewollt sind, so müssen die jungen Menschen sich selbst neu kennenlernen, mit ihrem Spiegelbild neu vertraut werden. Abgesehen von der Selbstwahrnehmung, werden sie nun auch von ihrer Umwelt anders wahrgenommen. Sie müssen sich bewusst werden, wie sie auf andere wirken wollen und welche Reaktionen das hervorruft. Sie müssen auch ihre Frauen- und Männerbilder überprüfen, Geschlechterrollen infrage stellen und entsprechend ihr Auftreten neu erproben. Erschwerend kann hinzukommen, wenn junge Menschen in Betreuung mit psychiatrischen Krankheitsbildern zu kämpfen haben, die einer medikamentösen Behandlung bedürfen. Die Einnahme von Hormonen kann die Wirksamkeit verändern und vice versa. Es bedarf langjähriger Erfahrung, entsprechend zu beobachten und eventuelle Abweichungen zu erkennen, um früh Maßnahmen zu ergreifen, die die psychische und physische Gesundheit und Stabilität im Fokus haben. Sozialpädagogische Begleitung Für die sozialpädagogische Begleitung der beschriebenen Personengruppe sind Angebote zu empfehlen, die nach dem betroffenenkontrollierten Ansatz arbeiten. Dies bedeutet knapp zusammengefasst, dass alle Mitarbeiter*innen in ihrer sexuellen Orientierung und/ oder geschlechtlichen Identität der Klientel entsprechen. Selbstverständlich ist die „Betroffenheit“ keine ausreichende Qualifikation innerhalb der Jugendhilfe. Es reicht also nicht aus, der Personengruppe derer anzugehören, die sich unter LSBT*I*Q wiederfinden. Fachkräfte müssen zusätzlich über Hochschulqualifikationen verfügen und professionelle/ qualitative Kriterien erfüllen. Fachlichkeit, Methodenverständnis, ein strukturiertes und geplantes Vorgehen ist unbedingt erforderlich, um junge Menschen verantwortungsvoll begleiten und ihren Zielen näherbringen zu können. Der individuelle Hilfeprozess muss kontinuierlich evaluiert und auf Wirksamkeit überprüft werden. Dazu braucht es Wissen, Erfahrung und Qualifikation. Supervision und kollegiale Fallberatungen sollten in diesem Arbeitsfeld Normalität sein. 304 uj 7+8 | 2020 Queere Jugendhilfe Haben die Jugendlichen erst einmal erkannt, dass die begleitenden Personen ihr Anderssein aus eigener Erfahrung nachempfinden können, tritt sehr schnell eine Entspannung im Betreuungsverhältnis ein. Danach, und das verwundert viele, ist die vermeintliche Andersartigkeit kaum noch von Bedeutung. Junge Menschen brauchen die Unterstützung der Jugendhilfe nicht, weil sie schwul, trans* oder lesbisch sind, sondern weil sie aufgrund äußerer (bspw. Ablehnung von Familie und Freund*innen) und innerer (psychiatrischer/ psychischer Störungen) Umstände in Krisen geraten. Die Erfahrung zeigt, dass junge Menschen, die Diskriminierungen und Gewalt aufgrund ihrer Orientierung/ Identität ausgesetzt waren, sich Betreuer*innen, die vermeintlich ähnliche Erfahrungen gemacht haben könnten, besser öffnen und den Einstieg in eine vertrauensvolle Beziehungsarbeit eher zulassen. Wenn die jungen Menschen sich in einem Umfeld befinden, in dem sie, manchmal zum ersten Mal in ihrem Leben, komplette Akzeptanz erleben, sie nicht mehr die Ausnahme, sondern die Norm sind, fallen alle Störungen, Ablenkungen, aber auch Entschuldigungen, die verhindert haben, die eigentlichen Themen anzugehen, weg und es kann an den Ursachen gearbeitet werden, die zu der Krisensituation geführt haben. Es sind Erwachsene, die versagen und ihrer Pflicht Kinder und Jugendliche zu beschützen, nicht nachkommen, die wegschauen, wenn Diskriminierungen geschehen, oder die selbst Täter*innen sind. Viele der jungen Menschen haben in ihrem kurzen Leben bereits traumatische Abschiede und Vertrauensverlust erleben müssen. Dieses Vertrauen muss verdient werden. Weitere Beziehungsabbrüche gilt es, so irgend möglich, zu vermeiden und stattdessen Kontinuität zu gewährleisten, um, unter anderem, auch wieder positive Beziehungserlebnisse, gerade auch zu Erwachsenen zu generieren. Außerdem muss ein geschützter Rahmen für die Entwicklung der jungen Menschen, die auch die sexuelle Orientierung und/ oder geschlechtliche Identitätsfindung beinhalten, sichergestellt werden. Nur so kann die soziale Integration und der Einstieg in eine eigenverantwortliche Lebensführung Erfolg haben. Nur so können Zukunftsperspektiven mit den jungen Menschen erarbeitet werden und Kenntnisse, Fähigkeiten, Kompetenzen, Soft Skills und Träume entdeckt oder wiederentdeckt werden, um sie ressourcenorientiert zu nutzen und planvoll einzusetzen. Ein geschützter Rahmen setzt nicht nur geeignete Räumlichkeiten, sondern vor allem eine entsprechende Haltung der Mitarbeiter*innen voraus. Das Gefühl von Sicherheit entsteht nicht nur durch die Anzahl von Schlössern an einer Tür, sondern durch die Menschen, die höchst parteilich bei und zu den jungen Menschen stehen, sie stärken und auch in schwierigen Situationen nicht fallen lassen, denen auch deren sexuelle Orientierung und/ oder geschlechliche Identität egal ist, denen sie nicht peinlich sind. Junge Menschen, die Diskriminierung und Gewalt erlebt haben, empfinden den öffentlichen Raum oft als feindlich und gefährlich. Sie haben Ängste, entwickeln Phobien und meiden die Öffentlichkeit. Das hat zur Folge, dass sie in ihrer schulischen und beruflichen, aber auch persönlichen Entwicklung stark eingeschränkt sind. Dies gilt es Schritt für Schritt zu überwinden. Sie müssen unterstützt werden, den Glauben an sich wiederzufinden, ihren Lebensraum stetig zu erweitern und ihre Teilhabe am Leben und ihren Platz in der Gesellschaft einzufordern. Die jungen Menschen sollten so gestärkt und befähigt werden, dass sie auch schwierige Situationen, wie offene Anfeindungen, die natürlich auch weiter im öffentlichen Raum geschehen können, zu meistern, ohne in alte Verhaltensmuster zu verfallen. Zu diesem Zweck müssen mit den jungen Menschen alternative Hand- 305 uj 7+8 | 2020 Queere Jugendhilfe lungsmodelle erarbeitet werden. Zur Stärkung des Selbstbewusstseins müssen in der Betreuung ebenso wie in der Hilfeplanung erreichbare Ziele gesetzt werden, Erfolgserlebnisse geschaffen und muss ggf. mit Misserfolgen umgegangen werden. Das hilft den jungen Menschen nicht nur schulische oder berufliche Perspektiven zu verfolgen und durchzuhalten, sondern auch private Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu pflegen. Das ist besonders wichtig für Menschen, die, auch nach einem Auszug aus einer Jugendhilfeeinrichtung in den eigenen Wohnraum, noch in Krisen geraten können und ein Unterstützungsnetzwerk benötigen. Stephan Maria Pröpper E-Mail: geschaeftsfuehrung@gleich-und-gleich.de Literatur Biechele, U., Reisbeck, G., Keupp, H. (2001): Schwule Jugendliche. Hannover Takács, J. (2006): Social exclusion of young LGBT people in Europe 2006. ILGA-Europe, https: / / www. ilga-europe.org/ sites/ default/ files/ Attachments/ social_exclusion_of_young_lesbian_gay_bisexual_ and_transgender_people_lgbt_in_europe_april_ 2006.pdf Hunt, R., Jensen, J. (2007): The experiences of young gay people in Britain’s schools: the school report. Stonewall, London Krell, C., Oldemeier, K. (2015): „Coming-out - und dann …? ! “ - Ein DJI-Forschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. München, https: / / www.dji.de/ fileadmin/ user_upload/ bibs2015/ DJI_Broschuere_ComingOut.pdf Whittle, S., Turner, L., Al-Alami, M. (2007): Engenderes Penalties: Transgender and Transsexual People’s Experiences of Inequality and Discrimination. Crown Copyright, https: / / www.ilga-europe.org/ sites/ default/ files/ trans_country_report_-_engenderedpenalties.pdf