eJournals unsere jugend 72/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2020
727+8

Rezension

71
2020
Roland Merten
Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (Hrsg. 2019): Kinder und Jugendhilfereport 2018. Eine kennzahlenbasierte Analyse Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto, 220 Seiten, € 29,90
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348 uj 7+8 | 2020 Rezension Um das Feld der Kinder- und Jugendhilfe ranken sich viele Gerüchte. Eines davon ist die Mär vom Personalabbau und finanziellen Kürzungen. Und wenn es denn schon Zuwächse zu verzeichnen gebe, so hätten diese lediglich im Bereich der frühkindlichen Bildung stattgefunden, der in den letzten Jahren politisch stark gefördert worden sei, um Kindererziehung und Berufstätigkeit miteinander verbinden zu können. Um diese und ähnliche ‚Wissensbestände‘ zu überprüfen, liegt nunmehr der Kinder- und Jugendhilfereport 2018 vor. In ihm werden nicht nur die aktuellen Daten präsentiert, sondern auch Entwicklungslinien für die unterschiedlichen Bereiche dieses Arbeitsfeldes nachgezeichnet - sowohl tabellarisch als auch grafisch. Genau in dieser Kombination liegt eine der Stärken des Reports, er bietet nicht nur substanzielle Informationen, sondern präsentiert diese auch in einer höchst ansprechenden, didaktisch sehr gut aufbereiteten Form. So erfährt man beispielsweise, um an die eingangs erwähnten ‚Wissensbestände‘ anzuknüpfen, dass es ganz unzweifelhaft einen deutlichen Anstieg des Personals im frühkindlichen Bildungsbereich in den letzten Jahren gegeben hat, aber auch - gleichsam im Windschatten - die gesamte Kinder- und Jugendhilfe mitgesegelt ist: innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren ist in allen Bundesländern ein deutlicher Personalaufwuchs zu verzeichnen gewesen; die Betreuungsrelationen haben sich deutlich verbessert. Und all dies hat sich vor dem Hintergrund einer demografisch rückläufigen Entwicklung von jungen Menschen an der Gesamtbevölkerung herausgebildet. Entgegen allen Bemühungen hat sich jedoch, so lässt sich ebenfalls aus dem Report entnehmen, der Anteil männlicher Beschäftigter zwischen 2007 und 2017 nicht nur nicht erhöht, er ist sogar weiter zurückgegangen (mit Ausnahme des Kita-Bereichs, der auf sehr niedrigem Niveau leichte Zugewinne zu verzeichnen hat). Aber auch unter fachlichen Gesichtspunkten hat es - eher unbemerkt - (erhebliche) Veränderungen gegeben. In den letzten Jahren gab es verstärkte Bemühungen zur Verbesserung des Kinderschutzes: sowohl rechtlich als auch professionell. In der Folge ist die Zahl der Inobhutnahmen, die nicht auf eigenen Wunsch erfolgen, deutlich angestiegen. Ob diese Veränderung positiv oder kritisch zu beurteilen ist, lässt sich nur anhand fachlicher Kriterien bestimmen, die einer eingehenderen Untersuchung bedürfen. Allerdings fällt in diesem Zusammenhang schon auf den ersten Blick ein erhebliches Problem auf: „Je jünger die in Obhut genommenen Minderjährigen sind, desto länger dauern im Durchschnitt die Inobhutnahmen. Bei Inobhutnahmen von unter 3-Jährigen dauern diese im Durchschnitt fast 70 Tage.“ (S. 150) Das ist bei einer Hilfe, die expressis verbis auf Vorläufigkeit angelegt ist (vgl. § 42 SGB VIII), viel zu lang! Schaut man sich die verfolgte Logik im Bereich der Hilfen zur Erziehung an, dann wird deutlich, dass die mit der Einführung des SGB VIII verfolgte Strategie „ambulant vor stationär“ so nicht ganz aufgegangen ist. Zwischen 2008 und 2016 hat es bei den ambulanten Hilfen zur Erziehung einen Aufwuchs um 30 % gegeben, dagegen bei den stationären Hilfen um 52 % (S. 66). Das sind angesichts der rückläufigen Zahlen junger Menschen an der Gesamtbevölkerung erklärungsbedürftige Daten, für die leider keine tragfähigen Erklärungen angeboten werden. Im Kapitel zum Aufwachsen in Deutschland wird kein erklärender Bezug auf solche Phänomene genommen. Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (Hrsg. 2019): Kinder- und Jugendhilfereport 2018. Eine kennzahlenbasierte Analyse Verlag Barbara Budrich, Opladen/ Berlin/ Toronto, 220 Seiten, € 29,90 uj 7+8 | 2020 349 Rezension Damit ist auch schon das größte Problem angesprochen. Viele Kapitel sind in sich hoch informativ, stimmig und überzeugend, leider stehen sie disparat nebeneinander, ohne dass systematisch aufeinander Bezug genommen wird. Das schmälert den Wert des Kinder- und Jugendhilfereports als Datenbasis für beschreibende wissenschaftliche und politische Debatten nicht, aber er lässt Erklärungen offen, die die fachöffentlichen und -politischen Debatten dringend benötigen. Denn nur so können Entscheidungsträgern vor Ort Argumente geliefert werden, die sie in den politischen Auseinandersetzungen benötigen. Insofern wird hier Potenzial nicht genutzt, das in den Daten liegt und gehoben werden könnte. Gleichwohl: Der Kinder- und Jugendhilfereport ist für all diejenigen, die sich ernsthaft mit der Kinder- und Jugendhilfe auseinandersetzen wollen, ein unverzichtbares Arbeitsinstrument als sichere und gefestigte Datenbasis. Prof. Dr. Roland Merten E-Mail: roland.merten@uni-jena.de DOI 10.2378/ uj2020.art55d Vorschau auf die kommende Ausgabe Fremdenfeindlichkeit in der Kinder- und Jugendhilfe Rassismus und Homophobie bei Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund - Befunde einer empirischen Studie Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe: Ziele, Prinzipien, Qualitätskriterien, Erfahrungen und Empfehlungen Die Arbeit der Mobilen Beratung Niedersachsen gegen Rechtsextremismus für Demokratie Die Arbeit von Miteinander - Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt e.V.