eJournals unsere jugend72/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2020.art61d
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"Ich bin halt eine Kämpferin"

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Karin Riedl
Biografische Kompetenz – also die Fähigkeit, eine sinnvolle und kohärente Erzählung vom eigenen Leben zu erschaffen – trägt entscheidend zu Identitätsbildung und Selbstakzeptanz bei. Der Artikel nimmt biografische Erzählungen von Care-LeaverInnen genauer in den Blick und untersucht, wie die jungen Menschen die Erfahrung der Fremdunterbringung in ihre Lebensgeschichte einordnen.
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383 unsere jugend, 72. Jg., S. 383 - 392 (2020) DOI 10.2378/ uj2020.art61d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Karin Riedl Jg. 1985; Ethnologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sozialpädagogischen Institut des SOS-Kinderdorf e.V. „Ich bin halt eine Kämpferin“ Fremdunterbringung als biografische Herausforderung Biografische Kompetenz - also die Fähigkeit, eine sinnvolle und kohärente Erzählung vom eigenen Leben zu erschaffen - trägt entscheidend zu Identitätsbildung und Selbstakzeptanz bei. Der Artikel nimmt biografische Erzählungen von Care-LeaverInnen genauer in den Blick und untersucht, wie die jungen Menschen die Erfahrung der Fremdunterbringung in ihre Lebensgeschichte einordnen. Nicht bei den eigenen Eltern, sondern in einer Heimeinrichtung aufzuwachsen, ist eine besondere Lebenssituation. Sie stellt die betroffenen jungen Menschen vor eine Reihe schwieriger Fragen: Warum wurden sie von der Herkunftsfamilie getrennt, was ist dort vorgefallen? Wo gehören sie hin, wem gilt ihre Loyalität? Wie können sie weitere Umbrüche, etwa in der Betreuungssituation, einordnen? Auch nach Verlassen der Jugendhilfe sind für Care-LeaverInnen die Umstände ihres Aufwachsens oft noch ein wichtiges Thema: Die Fremdunterbringung wirkt sich auf ihr weiteres Leben und ihre Identität aus. Welche Rolle weisen sie als Erwachsene der Heimeinrichtung nachträglich zu? Welche Geschichte erzählen sie sich selbst und anderen Menschen über ihr Leben? Wie wortreich oder knapp, emotional oder trocken, chaotisch oder stringent klingt diese Erzählung? Gelingt es ihnen, einen Sinnzusammenhang herzustellen, oder bleiben wichtige Ereignisse unverständlich? Lassen sich zwischen der Art der Narration und der Fähigkeit, Belastungen zu bewältigen und ein glückliches Leben zu führen, Zusammenhänge beobachten? Anhand qualitativer Interviews mit ehemaligen Betreuten aus SOS-Kinderdörfern soll hier untersucht werden, wie diese ihr Leben im Rückblick konstruieren und wie sie die Fremdunterbringung in ihre biografische Erzählung integrieren. Biografische Kompetenz und Lebensbewältigung Theoretische Prämisse ist dabei, dass eine „Bio-grafie“ (dem griechischen Wortsinn nach eine „Lebens-Beschreibung“) eben nicht das Leben selbst ist, sondern die Geschichte, die ein Mensch über sein Leben erzählt. Im Erzählen stellt er oder sie einen Zusammenhang zwischen den oft zufälligen und bruchstückhaften, deutungsoffenen Ereignissen des Lebens her, 384 uj 9 | 2020 Fremdunterbringung als biografische Herausforderung verleiht dem Erlebten Sinn und Kohäsion (vgl. Marotzki 2000, 179). Im Zuge dessen konstruiert die betreffende Person sowohl ein Selbstals auch ein Weltbild (vgl. Schulze 1997, 325). Als Geschichte folgt eine Biografie zudem - meist unbewusst - bestimmten sozialisatorisch erlernten Regeln des Erzählens: Sie verfügt über triadische Strukturen, emotional involvierende Elemente, Detaillierungen und Lehren oder Moralen (vgl. Straub 2000, 139f ). Die Fähigkeit, aus den Ereignissen des eigenen Lebens eine kohärente, sinnvolle und nachvollziehbare Geschichte zu machen, die wichtige Identitätsaspekte begründet, lässt sich als „biografische Kompetenz“ (Straub 2000, S. 152) bezeichnen. Biografische Erzählungen bewegen sich auf verschiedenen Textebenen: Sie enthalten zunächst Auskünfte, die faktische Informationen liefern. Schilderungen konkretisieren diese Informationen anhand von Details und exemplarischen Szenen. Durch die Äußerung subjektiver Gedanken und Gefühle werden aus Schilderungen Erlebnisse. Verknüpft die Sprecherin bzw. der Sprecher verschiedene Erlebnisse auf nachvollziehbare Weise und schreibt ihnen Ursachen und Wirkungen zu, so entsteht eine strukturierte Erinnerung. Zur Geschichte wird der Text allerdings erst durch gestalterische Elemente, etwa durch eine Triade aus Eröffnung, Zuspitzung und Auflösung (vgl. Schulze 1997, 328ff ). Besonders aufschlussreich ist im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung oft das Fehlen einer der Ebenen: Ein Text, der keine Auskunft enthält, bleibt unverständlich; ein Text ohne Erlebnis wirkt distanziert und emotionslos (was auf eine innere Distanzierung der Sprecherin bzw. des Sprechers von bestimmten Emotionen hinweisen kann). Ein Text, der über keine strukturierenden Elemente verfügt und den Erzählregeln nicht gehorcht, erscheint zusammenhangslos, ist nicht anschlussfähig und verweist in der Regel ebenfalls auf eine Problematik der betreffenden Person: Es gelingt ihr nicht, einen Sinn in die Ereignisse ihres Lebens hineinzulegen und diese einzuordnen. Dies wird insbesondere vor dem Hintergrund von Erkenntnissen der psychologischen und pädagogischen Forschung relevant. Diese legen nahe, dass ein kognitives und emotionales Verstehen sowie ein sinngenerierendes Bearbeiten der eigenen Geschichte eine wichtige Voraussetzung für psychische Stabilität und damit für ein gelingendes Leben sind. Denn unverarbeitete, nicht anschlussfähige, subjektiv sinnlose Erfahrungen - im Extremfall Traumata - wirken destabilisierend, indem sie immer wieder das Selbst- und Weltbild der Betroffenen bedrohen (vgl. Zimmermann 2016, 50). Entsprechend lassen sich Lebenskrisen als Misslingen der Sinnkonstruktion begreifen, als Momente, in denen neue Erfahrungen nicht in die Lebensgeschichte integriert werden können (vgl. Marotzki 2000, 184; Alheit/ Dausien 2000, 274). Methodik Die Interviews, die diesem Artikel zugrunde liegen, wurden zwischen 2017 und 2019 im Rahmen der „SOS-Längsschnittstudie zur Handlungsbefähigung junger Menschen auf dem Weg in die Eigenständigkeit“ (vgl. Höfer u. a. 2017; Sierwald u. a. 2017; Teuber 2017; nähere Informationen auch unter www.sos-kinderdorf. de/ sos-laengsschnittstudie) geführt. Die Studie beschäftigt sich mit dem Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen des SOS-Kinderdorfvereins sowie mit deren Übergang in die Selbstständigkeit. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Bedingungen und Maßnahmen jungen Menschen das Hineinwachsen ins eigenständige Leben erleichtern. Eine zentrale Rolle spielt hier die Ausbildung von Handlungsbefähigung, verstanden als eine übergeordnete personale Ressource, die es ermöglicht, die eigenen Fähigkeiten angemessen einzuschätzen, Chancen zu erkennen und zu nutzen sowie zuver- 385 uj 9 | 2020 Fremdunterbringung als biografische Herausforderung sichtlich in die Zukunft zu blicken. Das Konstrukt der Handlungsbefähigung setzt sich aus mehreren Dimensionen zusammen, zu denen unter anderem Selbstakzeptanz, soziale Einbettung und Kohärenzgefühl gehören (vgl. Sierwald u. a. 2017, 11f; Salzburger u. a. 2018, 509f ). Für die Ausbildung von Kohärenzgefühl ist das Verstehen vergangener Erfahrungen sehr wichtig, denn es trägt dazu bei, dass (junge) Menschen ihr Leben als sinnhaftes Ganzes empfinden und damit auch aktuelle Herausforderungen als handhabbar erleben (vgl. Sierwald u. a. 2017, ebd.; Salzburger u. a. 2018, ebd.; Straus/ Höfer 2017, 15ff; Sozialpädagogisches Institut des SOS-Kinderdorf e.V. 2017, 34ff ). Biografische Kompetenz beeinflusst also indirekt auch die Fähigkeit, neue Lebens- und Entwicklungsaufgaben anzunehmen und zu bewältigen. In der SOS-Längsschnittstudie kommen sowohl quantitative als auch qualitative Forschungsmethoden zum Einsatz. Alle zwei Jahre wird eine Fragebogenerhebung durchgeführt, die sich an alle Betreuten ab dem zwölften Lebensjahr, deren Bezugsfachkräfte sowie an SOS-Care-LeaverInnen richtet. In den dazwischenliegenden Jahren werden Teilstichproben (Betreute und Ehemalige) leitfadengestützt interviewt. Die dadurch gewonnenen Fallbeispiele ermöglichen ein tieferes, kontextuelles Verstehen wichtiger Entwicklungen und Übergänge. Für diesen Artikel wurden insgesamt 20 Interviews mit SOS-Ehemaligen verschiedener Altersgruppen untersucht. Etwa die Hälfte der GesprächspartnerInnen war unter 30 Jahre alt; diese Interviews wurden vom Sozialpädagogischen Institut des SOS-Kinderdorf e.V. (SPI) mithilfe der Narrationsanalyse ausgewertet. Die Auswertung der Interviews mit den über 30-Jährigen, deren Auszug bereits über zehn Jahre zurückliegt, übernahm das Institut Perspektive in Bonn (vgl. Petri/ Vietig 2019). Drei der hier zitierten Fälle wurden von beiden Instituten analysiert. Die beiden Altersgruppen weisen Unterschiede im biografischen Erzählen auf: Während jüngere Care-LeaverInnen oft Themen des Jugendalters und der Verselbstständigung ansprechen, liegt bei den Älteren der Fokus eher auf dem Erwachsenenleben. Sie können die Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend meist klarer einordnen und beurteilen als die jüngeren Interviewten. Formen der biografischen Integration der Kinderdorfzeit Im Folgenden sollen anhand exemplarischer Fälle verschiedene Formen der biografischen Integration des Aufwachsens im Kinderdorf dargestellt werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Frage, wie die Zeit in der SOS-Einrichtung eingeordnet und mit aktuellen Identitätsaspekten sowie mit Problemen und Erfolgen im Erwachsenenleben in Zusammenhang gebracht wird. Da sich die Ereignisse in der Herkunftsfamilie oft stark auf die Wahrnehmung und Beurteilung der Kinderdorfzeit auswirken, werden auch sie zur Sprache kommen. Sie dem Ausmaß ihrer biografischen Relevanz entsprechend zu behandeln, würde allerdings den Rahmen dieses Artikels sprengen. „Rettung in der Not“ Je gravierender die Gründe für die Fremdunterbringung waren, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Aufnahme ins Kinderdorf in der biografischen Erzählung schlicht als „Rettung in der Not“ beschrieben wird. Delphin 1 , eine 39-jährige Frau, die in ihrer Herkunftsfamilie Gewalt, Vernachlässigung und sexuellen Missbrauch erlitten hat, sagt zum Beispiel: „Wenn ich nicht ins Kinderdorf gekommen wär […], wer weiß, ob ich heutzutage überhaupt noch leben würde.“ Der erinnerten kindlichen Wahr- 1 Die Pseudonyme wurden von den Interviewten selbst gewählt. 386 uj 9 | 2020 Fremdunterbringung als biografische Herausforderung nehmung entsprechend heben diese „Rettungs-Erzählungen“ oft einzelne Bezugspersonen - meist die Kinderdorfmutter - besonders hervor. Die 29-jährige Carla erzählt beispielsweise geradezu atemlos, wie sie im Alter von unter drei Jahren die Flucht aus einem Kriegsgebiet nach Deutschland, die Gewalttätigkeit des Vaters gegenüber der Mutter, die Trennung der Eltern, die Versuche des Vaters, der Mutter die Kinder wegzunehmen, und schließlich die durch die Mutter eingeleitete Fremdunterbringung erlebt hat. Carlas detaillierte und emotionale Schilderung dieser frühen traumatischen Erfahrungen endet in einem spürbaren Aufatmen, als sie die Kinderdorfmutter erstmals erwähnt. Die Erzählerin beginnt in diesem Moment zu weinen, so als würde sie die damalige Erleichterung noch einmal durchleben: „Ja, und dann war das dann halt so, dass halt alles in die Wege geleitet wurde und dass wir dann hierhin gefahren wurden. Ich kann mich an den Weg erinnern, wir haben damals nicht Deutsch gesprochen, ich hab [Sprache] und [Sprache] mit meinen Geschwistern geredet, also ich hab’s eher verstanden. Ich weiß, dass ich nur zu meinem Zwillingsbruder gesagt hab auf der Fahrt: ‚Iss den Joghurt nicht, ich weiß, bei der Autofahrt wirst du brechen.‘ Und es war dann auch so. Ich weiß, dass zwei Herren dabei waren vom Jugendamt und wir eine riesenlange Fahrt vor uns hatten. Wir sind angekommen, mein Bruder war halt schmutzig, und da weiß ich (weint), dass meine Kinderdorfmutter rausgekommen ist und uns total herzlich begrüßt hat. Und ich hab dann nur draufgezeigt, dass er halt (weint) - da hat sie nur gesagt, ich hab sie ja nicht verstanden, aber: ‚Ist nicht schlimm, er hat genug Klamotten, er hat jetzt alles‘ (weint).“ Auch Carlas Kinderdorfschwestern Herta und Leo Belle, die in der Herkunftsfamilie sexuell missbraucht und vernachlässigt wurden, äußern eine tiefe Dankbarkeit gegenüber dem Kinderdorf als Institution und insbesondere gegenüber der Kinderdorfmutter. Sie bewerten ihr Aufwachsen in der SOS-Einrichtung und die dortigen Bildungsangebote als förderlich für ihre Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Petri/ Vietig 2019, 71f ). Oft schließen solche Aussagen mit einem Bezug auf die Gegenwart, indem die Care-LeaverInnen ihre aktuelle Situation als „Resultat“ des Aufenthalts im Kinderdorf interpretieren (vgl. Petri/ Vietig 2019, 19). So sagt die 30-jährige Herta: „Und da muss ich dazu sagen, denk ich nicht, dass uns das möglich gewesen wäre, wenn wir wirklich bei unserer eigenen Mutter noch groß geworden wären. Ja. Das hat unsere leibliche Oma damals aber auch immer gesagt. Die fand das ganz klasse, wie wir hier aufgewachsen sind und dass wir so viele Möglichkeiten hatten. Und ich glaub auch nicht, dass ich dann heute so wäre, wie ich jetzt bin, wenn es nicht so gekommen wäre.“ Kinderdorf als Selbstverständlichkeit Andere Care-LeaverInnen integrieren die Zeit in der Heimeinrichtung dagegen an weit weniger prominenter Stelle in ihr Narrativ. Genauer gesagt: Sie setzen sie als Selbstverständlichkeit voraus. Die Tatsache, im Kinderdorf aufgewachsen zu sein, ist zum Beispiel in der Erzählung des 19-jährigen Tim kaum mehr als der Hintergrund, vor dem sich das eigentliche Drama seines Lebens abspielt: der Tod seiner Eltern, die psychischen Folgen und deren Bearbeitung. Tim schildert zwar ausführlich, wie er vom Kinderdorf über die Psychiatrie in eine therapeutische Wohngruppe gewechselt ist und mit welchen institutionellen Abläufen dies verbunden war. Dabei bedient er sich des Jugendhilfe-Vokabulars aber auf so selbstverständliche Weise, dass spürbar wird, wie sehr dieses Lebensumfeld für ihn zur Normalität geworden ist: „Ja, ich war da halt sieben Wochen, und in den sieben Wochen hat mein Vormund aus dem Jugendamt in [Stadt] halt auch nach Einrichtungen gesucht. Da war erst die Überlegung, ob ich nach [Stadt] irgendwie - ich glaub’, […] da ist so eine 387 uj 9 | 2020 Fremdunterbringung als biografische Herausforderung reine Jungeneinrichtung - hingehen soll. Aber da hat mein Vormund gemeint, nee, das passt nicht, da würde ich mich nicht wohlfühlen. Und dann, ein Betreuer von der [Name der Klinik] kannte die Einrichtung […] und hatte gemeint: ‚Ja, da fahren wir mal hin und schauen uns das an.‘ Und dann hat’s mir auch gefallen, und am 17. April bin ich dann halt hierhergekommen, […] hatte halt auch anfangs noch so zwei Wochen Probewohnen.“ Tim spricht auf Nachfrage eher technisch über ihn betreffende Entscheidungen und erklärt sich rückblickend damit einverstanden. Meist schwenkt er dann jedoch schnell zu seinem eigentlichen Thema um: „Und, ja, Freizeitgestaltung war halt, wie gesagt, relativ eigene Entscheidung. Aber […] wenn’s ums Leben ging, irgendwie so schulische Laufbahn, war’s bei mir damals so oder so klar, dass ich die Förderschule weiter besuchen werde, obwohl ich eigentlich auch auf eine Hauptschule gehen könnte. Allerdings war das halt damals der Grund dafür, dass ich auf die Förderschule gegangen bin, wegen der Vergangenheit, also von meinen Eltern her. Weil mich hat das halt relativ stark belastet, das belastet mich heute immer hin und wieder noch. […] Aber, ja, also ich war ehrlich auch froh, dass man entschieden hat, dass ich auf die Förderschule gehe und dort auch bleibe […] - da hab ich gesagt, ja, das passt auch.“ Eine wertende oder reflektierende Einordnung der Jugendhilfeerfahrung als Besonderheit findet im gesamten Interview nur marginal statt („dann hat’s mir auch gefallen“). Dass er das Kinderdorf nach mehreren „Ausrastern“ im Alter von 14 Jahren vorzeitig verlassen musste, kommentiert Tim lakonisch mit dem Satz: „War auch an der Zeit, rauszugehen.“ Ob hinter dieser„Unterthematisierung“ der Fremdunterbringung vermiedene Konflikte stehen oder ob Tim schlicht andere Themen beschäftigen, lässt sich aus der Außenperspektive kaum klären. Auf narrativer Ebene jedenfalls ist das Kinderdorf ganz einfach eine Wirklichkeit, die nicht weiter hinterfragt werden muss. Konflikte und Retraumatisierung Wieder andere Care-LeaverInnen stellen belastende Erfahrungen aus ihrer Kinderdorfzeit in den Mittelpunkt ihrer Geschichte - oder sie betrachten die Rolle dieses Lebensabschnitts differenzierter und schreiben ihm ambivalente Auswirkungen zu. Für die oben schon zitierte Carla etwa währte das Glück, in der Kinderdorfmutter eine stabile Bezugsperson gefunden zu haben, nur kurz. Carlas Verhalten wurde - wie sie selbst interpretiert - aufgrund ihrer frühen Traumata so schwierig und aggressiv, dass sie im Alter von zehn Jahren die Kinderdorffamilie wieder verlassen musste und danach teils in Einzelbetreuung, teils in einem anderen Heim aufwuchs. Den Abbruch des Kontaktes zu ihrer Kinderdorfmutter schildert sie noch als Erwachsene hochemotional als schwere Krise: „Meine Kinderdorfmutter, die hatte sogar meine Sachen zusammengeräumt, alles in Kartons […]. Und […] ich durfte keinen Kontakt haben. Gar nicht. […] Knallhart. Hatte die Erzieherin gesagt, nein, es tut mir leid. Und […] das war das Härteste (weint). Also richtig hart. Es ist schon schlimm, eine Mutter zu verlieren, aber dann ein zweites Mal eine Mutter zu verlieren, das - für mich ist die Welt zusammengebrochen. Da war ich so elf Jahre alt ungefähr. Ich weiß es noch, wie ich auf dem Boden geweint habe (weint), tage-, wochenlang, ich möchte wenigstens mit ihr reden (weint). Das durfte ich nicht. Die Erfahrung, das kann ich nicht verstehen. Das war richtig hart für mich.“ Im Verlauf des Interviews wird deutlich, dass es Carla bis heute nicht gelingt, dieses Erlebnis ganz zu verstehen und eine innere Distanz dazu aufzubauen: Im Gegensatz zur intensiven, sich häufig wiederholenden Beschreibung der Krise wird der Weg aus dieser heraus kaum angesprochen. Carla erwähnt lediglich, dass sie irgendwann beschlossen habe, das Erlebte positiv zu bewerten: „Und ich sag, ja, ist 388 uj 9 | 2020 Fremdunterbringung als biografische Herausforderung doch schön, dass es so passiert ist, und das war einfach alles positiv. […] Es ist so gegangen, diesen Weg musste ich gehen, dafür bin ich jetzt das, was ich jetzt bin, darauf bin ich stolz.“ Durch diese positive Umdeutung umgeht sie eine klärende Auseinandersetzung mit dem erneuten Beziehungsabbruch und mit der Rolle, die einzelne Personen - insbesondere sie selbst und die Kinderdorfmutter - dabei spielten. Carlas Narrativ kittet also gleichsam einen Bruch, ohne ihn zu heilen. Dazu passt, dass sie auch im Erwachsenenalter immer wieder lebenspraktische und psychische Krisen durchläuft. Demgegenüber ordnet der 38-jährige DJ_W die konfliktreiche Zeit im Kinderdorf in seine Biografie ein, indem er sie kritisch-differenziert beurteilt. Er erlebte nach der Verselbstständigung zwei große Krisen, die von Schulden, Obdachlosigkeit, Drogen- und Alkoholsucht geprägt waren und für die er dem Kinderdorf eine Mitschuld zuschreibt: Er ist der Meinung, nicht ausreichend auf das Leben in der Eigenständigkeit vorbereitet worden zu sein (vgl. Petri/ Vietig 2019, 29ff ). Vor allem den zu wenig eingeübten Umgang mit Geld sieht er als Ursache für seine anderen Probleme: „Und dann ging das mit dem Geld los, das dann halt eingeteilt worden war vom Betreuer, und das hat mir nicht so gefallen. [….] Das hatte der Betreuer in der Hand gehabt. Ja, irgendwann hab ich [… auf den Betreuer] verzichtet, da war ich auch - war ich grad 18. Und im Nachhinein sag ich, das war mein größter Fehler, weil danach bin ich richtig abgestürzt. Dann kam ich mit dem Finanziellen nicht klar, […] und das ist das, was man mit dem Taschengeld nicht so gelernt hat, dass man halt mal auf irgendwas sparen muss. […] So, und dann wurde uns aber nicht vernünftig erklärt: Kann ich mir das auch leisten? Das hat hier ein bisschen gefehlt, damals zu meiner Zeit.“ DJ_W kritisiert außerdem seine BetreuerInnen als allzu norm- und regelorientiert. Die Konflikte mit ihnen haben ihn zu einem überstürzten Auszug motiviert. So stellt er einen sinnvollen Zusammenhang zwischen der Betreuungssituation, deren Mängeln und seinen eigenen Problemen her, ohne aber eine einseitige Schuldzuweisung vorzunehmen: „Wie gesagt, ich hatte eine strenge Erzieherin, […] durfte dies nicht machen, durfte das nicht machen, wo ich dann gesagt habe: ‚So, Freunde, jetzt - ich bin 18, ich kann im Prinzip selber entscheiden‘ […]. Und das ist das, wo das dann zum Knatsch kam, wo ich dann irgendwann gesagt hab: ‚Mir reicht’s, ich zieh hier aus.‘ Und das war mein größter Fehler gewesen.“ Übernahme von Werten In anderen Fällen erfolgt die biografische Integration der Kinderdorfzeit nicht über die narrativ zugespitzte Schilderung von Krisen oder Rettungen, sondern als Reflexion einer allmählichen und langfristigen Prägung. Mehrere InterviewpartnerInnen stellen eine Verbindung zwischen bestimmten Aspekten ihrer Identität und dem Aufwachsen im Kinderdorf her. Während manche berichten, dass sie von ihren ErzieherInnen in der SOS-Einrichtung wichtige Kompetenzen erlernt und Werte direkt übernommen haben, führen andere ihre Eigenschaften und Ansichten auf eine konflikthafte Auseinandersetzung mit Personen oder Ereignissen im Kinderdorf zurück. In jedem Fall findet eine Einordnung dieser Erfahrungen in die Biografie statt - unabhängig davon, ob sie positiv, negativ oder gar nicht bewertet werden. So sieht zum Beispiel der 34-jährige CH einen Zusammenhang zwischen seiner ausgeprägten Reflexionsfähigkeit und der stationären Unterbringung in seiner Kindheit: Einerseits musste er mit weniger Selbstverständlichkeiten und mehr Schwierigkeiten zurechtkommen als Gleichaltrige ohne Jugendhilfeerfahrung (vgl. Petri/ Vietig 2019, 66f ), andererseits ergab sich daraus aber auch ein größeres Spektrum an Handlungsmöglichkeiten: 389 uj 9 | 2020 Fremdunterbringung als biografische Herausforderung „Also ich glaube, [dass] durch das, dass […] ich dort aufgewachsen bin, […] die Wertschätzung für Sachen irgendwie anders geschult wurde oder halt, dass man durch das, dass vieles anders ist oder schwieriger ist - lernt man viel mehr. Aber man hat auch dadurch die Möglichkeit, viel mehr infrage zu stellen. […] Ja, auch durch das Vielseitige […] - also im Kinderdorf hat man ein vielseitigeres Leben. Also ich fand’s schön, dass ich da mehr Sachen gemacht hatte als andere.“ Für die 31-jährige Leo Belle war es ein wichtiger Entwicklungsschritt, Hilfe annehmen zu lernen (vgl. Petri/ Vietig 2019, 49f ). So organisierte sie sich vor der Geburt ihrer Tochter eine Familienhelferin, die sie ein Jahr lang begleitete. Auch in finanziellen Angelegenheiten bekommt sie nach wie vor Unterstützung von einem Betreuer. Im Interview vergleicht sie ihr jetziges Verhalten mit dem in ihrer Kinderdorfzeit und stellt fest: „Ich denk mir: Warum nicht die Hilfe annehmen, die man noch hat? Bevor es gar nicht mehr klappt. […] Also ich habe gelernt, um Hilfe zu fragen, wenn ich merke, ich brauch sie wirklich. Im Kinderdorf damals, da war’s noch so, dass ich mich dann verbarrikadiert habe, ich hab einfach dicht gemacht. Ich hab jetzt schon gelernt, mich mehr zu öffnen […].“ Hilfe annehmen zu können, sieht Leo Belle also als Kompetenz, die es ihr ermöglicht, Krisensituationen abzufangen. Diese Kompetenz hat sie auf positive Weise in ihr Selbstbild integriert. Auch die Fremdunterbringung wird so Teil des biografischen Narrativs: Durch die Jugendhilfeerfahrung hat Leo Belle nicht nur die Fähigkeit erworben, Hilfe anzunehmen, sondern auch das Wissen darum, dass es diese Hilfe gibt und die Möglichkeit besteht, darum zu bitten. Im obigen Beispiel klingt bereits an, dass die eigene Elternschaft oft einen wichtigen Wendepunkt in den Erzählungen der Care-LeaverInnen markiert (vgl. Petri/ Vietig 2019, 39f ). Häufig berichten sie davon, dass eine innere Annäherung an die Erziehungsmethoden und Werte ihrer BetreuerInnen die jugendliche Konfrontation ablöst. Durch die eigenen Kinder wird den Ehemaligen ihre Prägung durch die im Kinderdorf vermittelten Werte meist erst richtig bewusst. Carla beschreibt dies beispielsweise so: „Und man sagt ja immer so schön als Kind: ‚Ich werde niemals so wie meine Mutter.‘ Aber ich sage ganz klar: Das ändert sich. Ich bin selber Mutter jetzt, und ich habe sehr vieles schon übernommen und kann alles nachvollziehen, warum es auch bestimmte Grenzen und Regeln gibt, die man klar setzen muss.“ DJ_W dagegen schärft seinen Erziehungsstil in Abgrenzung zu den Methoden seiner BetreuerInnen, die er auch als Erwachsener kritisch sieht: „Wie gesagt, ich hab jetzt eine eigene Tochter […]. Dann hab ich natürlich meine Vergangenheit wieder so ein bisschen zum Vorschein kommen lassen […]. Also man hat natürlich die Erziehung von den verschiedenen Erzieherinnen ja noch im Kopf gehabt […] und hat dann überlegt: ‚Der eine Erzieher hat das und so und so gemacht, ja, da haben wir ja meistens gebockt.‘ […] Dann hat man […] überlegt: ‚Hm, mach ich das so, wie das meine Erzieherin damals gemacht hat? ‘ Dann muss man aber auch Angst haben, wenn das jetzt zu streng ist, dass die Kinder eigentlich später nicht abstürzen, so wie ich. Ich bin ja abgestürzt dadurch. Es klappt wunderbar mit meinen Kindern. […] Weil das, was ich damals nicht gelernt habe, das hab ich jetzt quasi meinen Kindern beigebracht, weil ich jetzt quasi selber die Erfahrung sammeln konnte, also durch meinen Absturz, sag ich jetzt mal. Und […] deswegen klappt das jetzt so wunderbar (lacht).“ Auch diese kontrastierende Darstellung integriert das Aufwachsen im Kinderdorf sinnhaft in die Biografie und trägt zu DJ_Ws Ausgestaltung seiner Identität als Vater bei. 390 uj 9 | 2020 Fremdunterbringung als biografische Herausforderung Eine besonders starke Verbindung zwischen der eigenen Jugendhilfeerfahrung und der Erwachsenenidentität lässt sich bei den Personen beobachten, die ihre Kindheitsgeschichte als Ausgangspunkt und Ressource für ihre berufliche Karriere nehmen (vgl. Petri/ Vietig 2019, 68ff ). Mehrere der Interviewten arbeiten als ErzieherInnen; zwei sogar als Kinderdorfvater bzw. Wohngruppenleiter. Hinter einer solchen Berufswahl steht meist das Motiv, die empfangene Hilfe weiterzugeben. So sagt etwa Herta, die gegenwärtig als Erzieherin in einem Hort arbeitet: „Das ist auch mein Ziel, dass ich irgendwann mal in einer Heimeinrichtung arbeiten will, um da ein bisschen was zurückgeben zu können, was mir zugutegekommen ist.“ Dieses Thema steht ebenso im Mittelpunkt der Lebensgeschichte des 51-jährigen Posh, der bereits für mehrere SOS-Kinderdörfer im Ausland gearbeitet hat und nun zusammen mit seiner Frau eine Wohngruppe leitet, in der auch seine leiblichen Kinder leben. Bei seiner eigenen Aufnahme ins Kinderdorf hat er erstmals die Erfahrung von Ruhe und Sicherheit gemacht. Bis ins Erwachsenenalter hinein bestand eine enge Beziehung zu seiner inzwischen verstorbenen Kinderdorfmutter. Kindern in Not eine solche Bindung zu ermöglichen, ist das zentrale sinnstiftende Element seiner Erzählung: „Warum haben Sie sich für diese Lebensweise entschieden? “ - „Also ja, Nächstenliebe, Glaube, was zurückgeben an die Gesellschaft, ich weiß es nicht. […] Von allem etwas, würd ich sagen, aber keins, was jetzt herausragt. Aber ich glaube schon, dass es das Modell ist, was meine Kinderdorfmama mir vorgelebt hat, das ich als sehr gut erachtet habe, als die bestmögliche Variante, um Kindern, die nicht bei ihren Eltern leben können oder dürfen, das zu ermöglichen, ja. Eigentlich müsste es davon viel, viel mehr geben und ich weiß, dass das eher die Ausnahme ist. Und wenn ich mir unterm Strich angucke, was aus unseren Kindern geworden ist bisher, ja, da müsste man eigentlich noch viel mehr tun.“ Posh schildert seine Biografie auf eine sehr reflektierte und kohärente Weise, die eine klare Werteorientierung erkennen lässt. Zugleich ist sie von Emotionen durchdrungen, die ihn aber nicht überfluten: Die Geschichte ist eine „runde“ Gesamtkomposition, vor deren Hintergrund er sich als „völlig glücklich“ bezeichnet. Begleitung und Biografiearbeit An Zitaten wie dem letzten wird deutlich, wie wichtig eine verlässliche, empathische Bezugsperson für erfolgreiches Biografisieren ist. In der pädagogischen Praxis erfordert dies von den Fachkräften, sich als konstant ansprechbares Gegenüber zur Verfügung zu stellen. Denn eine Geschichte braucht sowohl positive Figuren als auch gute Zuhörer. BetreuerInnen können zur Ausbildung eines stabilen, positiven Selbstbildes beitragen, indem sie jungen Menschen alternative Interpretationen und Perspektiven anbieten. So erzählt zum Beispiel die 46-jährige Anna, wie es ihr gelang, mithilfe ihres Betreuers trotz traumatischer Kindheitserlebnisse Sinn und Selbstwert aufzubauen: „Der F. hat zu mir immer wieder gesagt, dass ich eine unglaublich starke Persönlichkeit bin. ‚Das zu überleben, was da so passiert ist‘ […] - ich bin ja nicht versorgt worden und misshandelt […] - ‚das ist eh schon unglaublich, das können nur starke Kinder‘, hat er immer gesagt. Und überhaupt, ich bin ein Kämpfer, hat er gesagt. […] ‚Wer so einen Lebensweg hat, der ist ein Kämpfer, weil sonst wärst du nicht mehr da.‘ […] Ich bin vielleicht tatsächlich auch so ein bisschen von Natur aus jemand, der immer wieder schaut, dass er vorwärtskommt. Aber eigentlich hätt ich ja damals aufgegeben, ich wollt mich ja nur umbringen damals. […] Und dann kam jemand und hat immer gesagt: ‚Wer das alles überlebt hat, der ist ein Kämpfer.‘“ Zudem können Bezugspersonen jungen Menschen dabei helfen, schwierige Erlebnisse zu verstehen, anzunehmen und in ihre Biografie zu integrieren. Einen solchen Vorgang schildert 391 uj 9 | 2020 Fremdunterbringung als biografische Herausforderung zum Beispiel Carla: Da ihr leiblicher Vater in Haft war, konnte sie keinen Kontakt zu ihm haben. Dies wurde ihr als Kind durch die Besichtigung eines alten Gefängnisses begreiflich gemacht: „Deswegen weiß ich auch, mein Vater war im Gefängnis, der darf da nicht raus. Deswegen konnte ich das zuordnen und auch verstehen, weil unsere Kinderdorfmutter das mit uns gemacht hat. Und im Nachhinein wurde erklärt: Mein Vater kann nicht einfach so kommen. Weil unsere Frage als Kind ja immer war: Warum kann unser Vater nicht kommen, wie wir das gerne möchten? Und so wurde das auch nach und nach uns beigebracht und erklärt, und das war wunderbar.“ Eine wichtige Voraussetzung für eine gelingende biografische Konstruktion bildet nicht zuletzt der Zugang zu Informationen über die Vergangenheit. Dieser ist häufig erschwert, etwa wenn kein Kontakt zur Herkunftsfamilie besteht, wenn Elternteile verstorben oder unbekannt sind oder wenn Familien schwierige Themen tabuisieren. In solchen Fällen brauchen junge Menschen bei der Informationsbeschaffung die Unterstützung ihrer Betreuungspersonen. Darüber hinaus sollten die Kinder und Jugendlichen so weit wie möglich an Entscheidungsprozessen beteiligt werden, die ihre Biografie betreffen und bei denen es um für sie wichtige Inhalte geht. Während der Planung und im Verlauf der Jugendhilfe sollte für sie transparent sein, welche Meinungen und Befugnisse die Beteiligten haben und welche Handlungsmöglichkeiten es gibt. Auch Entscheidungen, die anstelle oder sogar gegen den Willen der jungen Menschen getroffen werden müssen, sollten so nachvollziehbar wie möglich gemacht werden. Doch auch über den Zugang zu faktischen Informationen hinaus können Kinder und Jugendliche dabei unterstützt werden, das Erlebte emotional aufzuarbeiten und Frieden mit belastenden Erfahrungen zu schließen. Eine Möglichkeit, sie systematisch beim (Er-)finden ihrer Geschichte zu begleiten, bietet der pädagogische Ansatz der Biografiearbeit: In einer Reihe von Sitzungen werden gemeinsam mit einer Betreuungsperson alle verfügbaren Informationen gesammelt und mit kreativen Methoden bearbeitet. Ziel kann es sein, ein Endprodukt (z. B. ein Lebensbuch) herzustellen, in dem die Vergangenheit und wichtige Personen und Ereignisse - je nach Alter und Fähigkeiten des Kindes - in Bildern, Fotos oder kleinen Texten festgehalten werden. Auf dem Weg dorthin können verschiedenste Techniken wie das Zeichnen eines Stammbaums oder einer Landkarte, Spiele und Rituale zum Einsatz kommen. Auch der Besuch früherer Lebensorte kann hilfreich sein. Wichtiger als das Endprodukt aber ist, dass die jungen Menschen in der spielerischen und künstlerischen Auseinandersetzung sowie im Gespräch mit einer einfühlsamen Bezugsperson lernen, sich mit kritischen Ereignissen und den eigenen Gefühlen zu beschäftigen und diese zu artikulieren (vgl. Ryan/ Walker 2007). Denn auch die hier dargestellten Fälle zeigen deutlich: Je mehr eine Person von den Geschehnissen in ihrem bisherigen Leben weiß, je mehr Sinn sie in diese Ereignisse hineinlegen und ihre eigenen Gefühle verstehen und zulassen kann, desto besser geht es ihr. Wer hingegen im Sinnzusammenhang seines Lebens vor offenen Fragen steht, muss viel Energie darauf verwenden, Kohäsionslücken zu „kitten“ und bedrohliche Gefühle zu kontrollieren, die von nicht integrierten Erfahrungen herrühren. Eine pädagogische Praxis, die den engen Zusammenhang zwischen dem Begreifen und Annehmen der Vergangenheit und einem glücklichen Leben in Gegenwart und Zukunft berücksichtigt, wird alles daransetzen, das biografische Verstehen der Betreuten zu fördern. Dr. Karin Riedl SOS-Kinderdorf e.V. Sozialpädagogisches Institut Renatastr. 77 80639 München E-Mail: info.spi@sos-kinderdorf.de 392 uj 9 | 2020 Fremdunterbringung als biografische Herausforderung Literatur Alheit, P., Dausien, B. (2000): Die biographische Konstruktion der Wirklichkeit. Überlegungen zur Biographizität des Sozialen. In Hoerning, E. (Hrsg.): Biographische Sozialisation. Lucius & Lucius, Stuttgart, 257 - 284 Höfer, R., Sievi, Y., Straus, F., Teuber, K. (2017): Verwirklichungschance SOS-Kinderdorf. Handlungsbefähigung und Wege in die Selbstständigkeit. Verlag Barbara Budrich, Opladen, Berlin und Toronto, https: / / doi.org/ 10. 2307/ j.ctvdf0crv Marotzki, W. (2000): Qualitative Biographieforschung. In Flick, U., von Kardorff, E., Steinke, I. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Rowohlt, Reinbek, 175 - 186 Petri, C., Vietig, J. (2019): Biografische Phänomene und Muster der Handlungsbefähigung. Auswertung von Interviews mit Ehemaligen aus SOS-Kinderdörfern. Unveröffentlichtes Arbeitspapier. Perspektive - Institut für sozialpädagogische Praxisforschung und -entwicklung. Bonn Ryan, T., Walker, R. (2007): Wo gehöre ich hin? Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen. Juventa Verlag, Weinheim und München Salzburger, V., Strobel-Dümer, C., Kaufmann, C. (2018): … und was kommt nach der stationären Unterbringung? Wie Care-Leaver ihre Zukunft einschätzen. Neue Praxis, 48 (6), 503 - 524 Schulze, T. (1997): Interpretation von autobiographischen Texten. In Friebertshäuser, B., Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Juventa Verlag, Weinheim und München, 323 - 340 Sierwald, W., Weinhandl, K., Salzburger, V., Straus, F. (2017): Wie Care Leaver den Weg in die Selbstständigkeit erleben. Erste Ergebnisse aus der SOS-Längsschnittstudie zur Handlungsbefähigung. Unsere Jugend, 69 (1), 10 - 19, https: / / doi.org/ 10.2378/ uj2017.art03d Sozialpädagogisches Institut des SOS-Kinderdorf e.V. (2017) (Hrsg.): Zuversicht entwickeln. SOS kompakt, Praxiswissen zur Handlungsbefähigung, Heft 1. Eigenverlag, München Straub, J. (2000): Biographische Sozialisation und narrative Kompetenz. Implikationen und Voraussetzungen lebensgeschichtlichen Denkens in der Sicht einer narrativen Psychologie. In Hoerning, E. (Hrsg.): Biographische Sozialisation. Lucius & Lucius, Stuttgart, 137 - 164 Straus, F., Höfer, R. (2017): Handlungsbefähigung und Zugehörigkeit junger Menschen. Ergebnisse aus einer Längsschnittstudie in SOS-Kinderdörfern. Herausgegeben vom Sozialpädagogischen Institut des SOS-Kinderdorf e.V. Thema 1 der SPI-Schriftenreihe. Eigenverlag, München Teuber, K. (2017): Der Capability Approach als Perspektive in stationären Hilfen - Heimerziehung als Befähigung. Forum Erziehungshilfen, 23 (2), 78 - 82 Zimmermann, D. (2016): Traumapädagogik in der Schule. Pädagogische Beziehungen mit schwer belasteten Kindern und Jugendlichen. Psychosozial-Verlag, Gießen