eJournals unsere jugend 73/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2021
731

Zwischen sozialpädagogischem Anspruch und Überlastung – am Beispiel der stationären Perspektivklärung

11
2021
Jenni Walther
Sascha Dalügge
Johanna Schratz
Die Kinder- und Jugendhilfe, in diesem Beitrag fokussiert auf den Bereich der stationären Perspektivklärung, soll Kindern in Notsituationen Unterstützung und ein vorläufiges Zuhause bieten. Für Fachkräfte kann diese Tätigkeit aufgrund von Grenzüberschreitungen durch die zu betreuenden Kinder, fehlenden personellen wie zeitlichen Ressourcen oder einer nicht ausreichenden fachlichen Vorbereitung höchst belastend sein.
4_073_2021_001_0032
32 unsere jugend, 73. Jg., S. 32 - 43 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art08d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zwischen sozialpädagogischem Anspruch und Überlastung - am Beispiel der stationären Perspektivklärung Die Kinder- und Jugendhilfe, in diesem Beitrag fokussiert auf den Bereich der stationären Perspektivklärung, soll Kindern in Notsituationen Unterstützung und ein vorläufiges Zuhause bieten. Für Fachkräfte kann diese Tätigkeit aufgrund von Grenzüberschreitungen durch die zu betreuenden Kinder, fehlenden personellen wie zeitlichen Ressourcen oder einer nicht ausreichenden fachlichen Vorbereitung höchst belastend sein. von Jenni Walther* Jg. 1987; Soziale Arbeit M. A. (Schwerpunkt: Klinischtherapeutische Soziale Arbeit), Sozialarbeiterin in der Tagesklinik Walstedde: Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie 1 Belastungen von Fachkräften in der stationären Kinder- und Jugendhilfe Können Kinder und Jugendliche z. B. aufgrund einer Krisensituation zum aktuellen Zeitpunkt nicht in ihrer Familie leben, soll in Perspektivklärungsgruppen eine tragfähige, längerfristige Perspektive ermittelt werden. Können Kinder in ihre Familie zurückkehren? Kommt eine Unterbringung in einer Heimeinrichtung oder einer Pflegefamilie dem Kind am ehesten zugute? In Anbetracht der weitreichenden Auswirkungen auf den zukünftigen Lebensweg der Kinder und Jugendlichen ist die Relevanz dieses Feldes herauszustellen. Die hohe psychische Belastung für Fachkräfte gilt in der stationären Kinder- und Jugendhilfe als bekannt (vgl. Schmid/ Kind 2018; Steinlin u. a. 2015 b und 2016). Um zu erfassen, inwiefern trotz der vielfältigen Herausforderungen dem spezifischen Bedarf von Perspektivklärungsgruppen durch die Fachkräfte nachgekommen werden kann, wurden in dieser Studie die persönlichen und fachlichen Voraus- Sascha Dalügge* Jg. 1994; Soziale Arbeit M. A. (Schwerpunkt: Klinischtherapeutische Soziale Arbeit), Sozialarbeiter im LVR-Klinikum Düsseldorf: Krisen- und Aufnahmestation für Jugendliche (KJPPP) Johanna Schratz Jg. 1990; Soziale Arbeit M. A. (Schwerpunkt: Klinischtherapeutische Soziale Arbeit), Sozialarbeiterin im Fachbereich Kinder, Jugend und Familie der Stadt Wesseling: Sachgebiet Ambulante Hilfen zur Erziehung * geteilte Erstautorenschaft 33 uj 1 | 2021 Stationäre Perspektivklärung setzungen der Fachkräfte sowie die strukturellen Voraussetzungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe innerhalb dieser Gruppen untersucht. Damit beschäftigt sich die Studie sowohl mit den vorhandenen Begebenheiten in der Perspektivklärungsgruppe als auch mit den Bedingungen, die vorherrschen müssen, um Kinder im Alter von 0 bis 13 Jahren in ihrer aktuellen Lebenslage zu unterstützen und eine am Bedarf des Kindes orientierte Perspektive zu klären. Schlussendlich soll dieser Beitrag aufzeigen, welchen Belastungen Fachkräfte ausgesetzt sind, und diskutiert werden, wie diese vermindert und möglichst gut bewältigt werden können, sodass eine gelingende Arbeit im Sinne der Kinder wie Fachkräfte möglich wird. 2 Perspektivklärungsgruppen - ein unerforschtes Feld? Die folgende Übersicht zeigt auf, welche Forschungserkenntnisse zur Belastung pädagogischer Fachkräfte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe vorliegen. Weiterhin werden spezifische Informationen über das Feld der stationären Hilfen mit dem Ziel der Perspektivklärung bereitgestellt und es wird auf die strukturellen wie fachlichen Rahmenbedingungen eingegangen. Schließlich werden Ergebnisse zur Situation der Kinder und Jugendlichen präsentiert, die sich in einer entsprechenden Hilfemaßnahme befinden. Auf diese Weise entsteht ein erster Eindruck, warum Veränderungen notwendig sind, um dem sozialpädagogischen Anspruch gerecht zu werden. Sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht fehlen verlässliche Forschungsergebnisse zur Belastungssituation wie strukturellen, fachlichen und persönlichen Voraussetzungen in Perspektivklärungsgruppen. Dennoch gewährt dieser Literaturüberblick durch nationale und internationale Forschung Eindrücke in die Thematik, die sich dem Bereich der zeitlich befristeten stationären Hilfen widmen. Hierzu zählen Inobhutnahme, Übergangshilfe und vorläufige Schutzmaßnahmen. Anzumerken ist, dass durch die zeitliche Begrenzung und das Herausarbeiten einer Zukunftsperspektive (vgl. Esser 2010) Überschneidungen zu Perspektivklärungsgruppen feststellbar, diese aber nicht als gleichwertig zu betrachten sind. Insofern können die Forschungsergebnisse zur Arbeitslast und psychischen Belastung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe nicht bedenkenlos auf Perspektivklärungsgruppen übertragen werden und es muss gefragt werden, welche spezifischen Bedingungen auf dieses Arbeitsfeld Auswirkungen haben. Auf die hohe Belastungssituation für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe weist die Forschung von Steinlin u. a. (vgl. 2015 b; vgl. auch Schmid/ Kind 2018; Schmid 2018; Allroggen/ Fegert/ Rau 2017). 91 % aller Fachkräfte (N = 319) schweizerischer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen gaben berufliche Belastungen und Grenzverletzungen in den vergangenen drei Monaten an (vgl. Steinlin u. a. 2015 b). Aus den Forschungen von Kind u. a. (vgl. 2018; auch Steinlin u. a. 2016) wird deutlich, dass ein erhöhtes Burnout-Risiko bei Mitarbeitenden besteht, die dauerhaft verbalen und/ oder physischen Aggressionen von Kindern ausgesetzt waren. Kinder und Jugendliche sind dabei nicht nur durch die Umstände, die zur Inobhutnahme führten (vgl. Rücker u. a. 2015), sondern ebenfalls durch den Aufenthalt in einer entsprechenden Gruppe (vgl. Petermann u. a. 2014) einer hohen Belastung ausgesetzt. Diese traumatischen Lebensereignisse können in der Interaktion in den Gruppen zu Eskalationen und der Belastung der Fachkräfte beitragen (vgl. Steinlin u. a. 2015 b). Vor diesem Hintergrund ergibt sich ein Ansatz, die hohe Wahrscheinlichkeit für Grenzverletzungen gegenüber dem pädagogischen Personal in der stationären Kinder- und 34 uj 1 | 2021 Stationäre Perspektivklärung Jugendhilfe (vgl. Steinlin u. a. 2016) zu erklären. Zugleich gilt, dass die Qualität der pädagogischen Arbeit nur dann gesichert werden kann, sofern auf die Belastungen der Fachkräfte rechtzeitig eingegangen wird (vgl. Steinlin u. a. 2015 a). Eine Weiterentwicklung der konzeptionellen Grundlagen der Einrichtungen ist laut Rücker u. a. (vgl. 2015) dringend erforderlich, um angemessen auf die Belastungen der Kinder und Jugendlichen vorbereitet zu sein sowie um eine differenzierte Situationsdiagnostik zu gewährleisten. Dies erfordere zudem eine Ausgestaltung der fachlichen Kompetenzen der Fachkräfte bezüglich der Erkennung spezifischer Belastungen der jungen Menschen. Kinder und Jugendliche in Inobhutnahmeeinrichtungen könnten aufgrund ihrer Vorgeschichte als eine Hochrisikogruppe für psychische Belastungen eingeordnet werden. Damit besteht eine Gefahr für die Kinder und Jugendlichen selbst, für die Gruppe und schließlich für die pädagogischen Fachkräfte, falls die stationäre Hilfemaßnahme nicht adäquat konzeptionell ausgearbeitet und Fachpersonal nicht entsprechend geschult ist (vgl. Petermann u. a. 2014). Allgemein lässt sich feststellen, dass in einer Untersuchung über 70 % der Kinder und Jugendlichen klinisch auffällige Ergebnisse aufweisen (vgl. Schmid 2012). Eine neuere Untersuchung (vgl. Schröder u. a. 2017) anhand der Child Behavior Checklist (CBCL) wies eine 20,96-mal höhere Wahrscheinlichkeit für einen auffälligen Wert bei Kindern in der stationären Kinder- und Jugendhilfe verglichen zur Allgemeinbevölkerung auf. So überrascht die hohe Überschneidung zwischen Kinder- und Jugendhilfe und -psychiatrie nicht (vgl. Goldbeck u. a. 2009). Wie Rau u. a. (vgl. 2017) festhalten, lässt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen einem Gefühl von Sicherheit vor Gewalt in der Einrichtung und der Belastung der Fachkräfte feststellen. Weiterhin seien jüngere Fachkräfte belasteter wie angespannter bei der Arbeit. Eine Studie zur Belastungsreaktion in der schweizerischen Kinder- und Jugendhilfe offenbarte zudem, dass Fachkräfte Schwierigkeiten im Aufrechterhalten von privaten sozialen Beziehungen zeigten (vgl. Steinlin u. a. 2015 a). Steinlin-Danielsson (vgl. 2016) bringt mit der Belastungssituation eine hohe Personalfluktuation in Verbindung. Bereits 2011 wurde in einem Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe die hohe Fachkräftefluktuation in der Kinder- und Jugendhilfe bemängelt. Diese könne wiederum die Belastung für das verbleibende pädagogische Team erhöhen (vgl. Steinlin u. a. 2015 b). Dementgegen zeigen internationale Studien (vgl. Kim/ Young Lee 2009; auch Abu-Bader 2000; Carpenter u. a. 2012), dass eine als gut gewertete Supervision zu geringerer Personalfluktuation führt und das Burnout-Risiko senkt. Allgemein lässt sich zur Supervision feststellen, dass sie sowohl zu einer Verbesserung der Arbeit (vgl. Coll u. a. 2017), zur Arbeitszufriedenheit (vgl. Carpenter u. a. 2012) als auch zur Stärkung der Resilienz der Fachkräfte beitragen kann (vgl. Winkens 2016). Steinlin u. a. (2016; vgl. auch Werling 2018) beschreiben als Ergebnis ihrer Studie Supervision und Fallbesprechungen als notwendig. Der Prozess der Perspektivklärung wurde 2005 erstmalig bundesweit in 340 Heimeinrichtungen untersucht (vgl. Zitelmann 2013). Ein Defizit in diesem Arbeitsfeld besteht in den unzureichenden Kenntnissen sowie Kompetenzen der Fachkräfte (vgl. ebd.) und in der Personalsituation (vgl. Zitelmann 2010). Der Wunsch nach spezifischen Fortbildungen wird von jeder vierten Fachkraft verneint, was nach Zitelmann (vgl. 2013) vor allem mit der hohen Arbeitsbelastung zusammenhängt. Schmid, Grieb und Kölch (2011) problematisieren eine unzureichende fachliche Vorbereitung auf die umfangreichen Belastungssituationen im Berufsalltag, während Steinlin 35 uj 1 | 2021 Stationäre Perspektivklärung u. a. (2015 b) auf eine verbesserte pädagogische Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen bei entsprechend etablierten Konzepten hinweisen. Insofern müssen in diesem Kontext auch fachliche Standards besprochen werden. Anhand einer Metaanalyse von Studien zu Wirkungen von Heimerziehung (vgl. Hair 2005) wird insbesondere in Orientierung bietenden Konzepten und Leitideen ein fundamentaler Einfluss für eine gelingende Heimerziehung gesehen. Für ein einheitliches sozialpädagogisches Vorgehen fehlen bislang Standards (vgl. Petri/ Polonis-Khalil 2014). Eine Grundlage zur qualitätsgeprüften und gelingenden Heimerziehung bildet das Projekt „Qualität in der Heimerziehung“ (vgl. Peters/ Jäger 2014) aus Luxemburg. Diesbezüglich formuliert die Autorenschaft (vgl. ebd.) Leitbegriffe der stationären Kinder- und Jugendhilfe (u. a. Hilfeplanung, Umgang mit Krisen, Konzept und Leitidee, Dokumentation etc.), die durch einen aktuellen internationalen Forschungsstand und gesetzliche Grundlagen fundiert werden. Im Jahr 2012 kehrten rund 40 % der Kinder und Jugendlichen nach der Inobhutnahme-Maßnahme zu den Personensorgeberechtigten zurück (vgl. Petermann u. a. 2014). Der Arbeit mit den Erziehungsberechtigten in den temporären Hilfen wie der Perspektivklärungsgruppe wird daher ein besonderer Stellenwert eingeräumt (vgl. LVR/ LWL 2016). Die hier zusammengestellte Übersicht deutet auf notwendige weiterführende Forschung bezüglich der Belastungssituation von Fachkräften in Perspektivklärungsgruppen hin. Die vorliegende Studie liefert einen Beitrag, um die beschriebene Forschungslücke zu schließen, und ist die erste im deutschsprachigen Raum, welche persönliche, fachliche und strukturelle Voraussetzungen für Betreuungskräfte innerhalb der Perspektivklärungsgruppen mittels eines ‚Sequential Mixed Designs‘ untersucht. 3 Methode Die vorliegende Studie wurde an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Aachen, durchgeführt. Die Datenerhebung wurde im bevölkerungsreichsten Bundesland der Bundesrepublik Deutschland (Nordrhein-Westfalen, NRW) durchgeführt. Für die Perspektivklärungsgruppen galten folgende Einschlusskriterien: In den Gruppen wird eine am Bedarf des Kindes orientierte Perspektive geklärt. Die Aufenthaltsdauer der Kinder ist kurzbis mittelfristig und überschreitet in der Regel nicht die Dauer von maximal zwei Jahren. Das Konzept der Gruppe richtet sich vorrangig an Kinder zwischen null und dreizehn Jahren. Gruppen, welche sich an junge Menschen zwischen null und achtzehn Jahren richten, wurden berücksichtigt. Gruppen für junge Menschen zwischen zwölf und achtzehn Jahren wurden nicht eingeschlossen, da hier die Betreuung primär auf Jugendliche ausgerichtet ist. Zur besseren Vergleichbarkeit wurden Clearinggruppen für unbegleitete minderjährige Geflüchtete nach § 42 a SGB VIII, Inobhutnahmegruppen ohne einen längerfristigen Klärungsauftrag sowie Wohngruppen, in denen der Fokus auf einer langfristigen Unterbringung liegt und nur zusätzlich einzelne Plätze zur Perspektivklärung angeboten werden, nicht eingeschlossen. Durch die Filterung des Rheinischen Jugendhilfeverzeichnisses sowie der vom LWL zur Verfügung gestellten Liste konnten 82 stationäre Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen und 124 Perspektivklärungsgruppen ermittelt werden, die den Kriterien entsprachen. Es wurden ausschließlich Mitarbeitende befragt, die am Gruppendienst teilnahmen. Es gab keinerlei Einschränkungen bei der Befragung hinsichtlich der Kriterien Betreuungsschlüssel, Gruppengröße, Trägerschaft sowie Stundenumfang und Studien-/ Berufsabschluss der Fachkräfte. 36 uj 1 | 2021 Stationäre Perspektivklärung Für die Datenerhebung wurde ein ‚Sequential Mixed Design‘ genutzt. In einem ersten Schritt erfolgten von August bis Oktober 2018 neun leitfadengestützte Interviews mit Fachkräften der Perspektivklärungsgruppen. Darauf aufbauend wurde ein möglichst breit angelegter explorativer Fragebogen zur quantitativen Datenerhebung entwickelt. Dieser thematisiert sowohl strukturelle als auch persönliche und fachliche Voraussetzungen für die Arbeit in den Perspektivklärungsgruppen der stationären Kinder- und Jugendhilfe, die das Ziel haben, Kinder im Alter von null bis dreizehn Jahren zu unterstützen. Der Fragebogen wurde mittels Pretest auf Verständlichkeit und Handhabbarkeit getestet und anschließend mithilfe eines Links allen Fachkräften der Perspektivklärungsgruppen in NRW vom 4. 12. 2018 bis zum 24. 2. 2019 online in anonymisierter Form (LimeSurvey Version 2.73.1 + 171220) zur Verfügung gestellt. Die subjektive Sichtweise der Fachkräfte wurde mit einer 5-stufigen Likert-Skala mit den Endpunkten ‚stimme vollkommen zu (1)‘ und ‚stimme überhaupt nicht zu (5)‘ ermittelt. Die Werte 1 und 2 wurden als Zustimmung und die Werte 4 und 5 als Ablehnung gewertet. Durch eine freie Eingabe wurden konkrete Inhalte und Zahlenwerte abgefragt. Weiterhin wurden Rangordnungen und Fragen mit Mehrfachantwortmöglichkeit genutzt. Die Datenauswertung erfolgte mittels des Statistikprogramms SPSS Statistics 25. Die Ergebnisse gelten für den Raum NRW. Aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweisen in der Praxis kann eine Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse nicht beantwortet werden. Ob der Link zum Online-Fragebogen dem gesamten pädagogischen Personal der Gruppen zugänglich war, kann nicht zuverlässig beantwortet werden. Weiterhin sind Selektionseffekte möglich, da die Gruppe der Fachkräfte, die nicht teilgenommen haben, sich signifikant von der Gruppe der Fachkräfte, die den Fragebogen bearbeitet haben, unterscheiden könnte. Nicht auszuschließen ist, dass die Befragten erwünschte Verhaltensweisen beziehungsweise fachliche Kompetenzen angaben oder unerwünschte Verhaltensweisen in der Bearbeitung des Fragebogens nicht benannten. Es kann eine Aussage über die Anzahl der teilgenommenen Fachkräfte, nicht aber der teilgenommenen Gruppen getroffen werden. 4 Ergebnisse Von 89 vollständig ausgefüllten Fragebögen wurden fünf identifiziert und ausgeschlossen, die den Kriterien der Fragestellung hinsichtlich der Altersangabe der Kinder nicht entsprachen. Es konnten 84 Fragebögen für die nachfolgende Auswertung genutzt werden. Bei 82 stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen und insgesamt 124 Perspektivklärungsgruppen konnte ein geschätzter Stichprobenumfang von 620 bis 868 Personen bzw. 9,7 % bis 13,5 % erreicht werden. Die Fachkräfte waren zwischen 20 und 61 Jahre alt (M = 33,47 Jahre, SD = 10,03). Jede fünfte befragte Person ordnete sich dem männlichen (19 %) und mehr als drei Viertel der Befragten (78,6 %) dem weiblichen Geschlecht zu. Eine Person ordnete sich nicht dem binären Geschlechtsverständnis zu und ein Fragebogen wurde durch das gesamte Team bearbeitet und enthielt keine Geschlechtsangabe. 4.1 Belastung - eine Frage der strukturellen Gestaltung Allgemein zeigte sich durch die Untersuchung, dass bei einem Drittel (33,3 %) der befragten Fachkräfte eine aktuelle Unterbesetzung im Team in der Perspektivklärungsgruppe vorlag. 4.1.1 Stellenschlüssel Von den Fachkräften wurde ein Stellenschlüssel von 1 : 0,5 bis 1 : 2,2 benannt (N = 61; N = 18 wollten keine Angaben machen und N = 4 wurden aus Gründen der Plausibilität ausgeschlossen). 37 uj 1 | 2021 Stationäre Perspektivklärung Mehr als ein Drittel der Befragten (35,7 %) stimmte einer hohen Teamfluktuation zu. Die Verankerung einer Inobhutnahme wurde in beiden Fällen der konzeptionellen Ausschreibung (Regel-/ Intensivwohngruppe), insgesamt von 71,4 % der Mitarbeitenden, angegeben. Mehr als die Hälfte (57,1 %) empfand eine Trennung zwischen Perspektivklärung und Inobhutnahme als sinnvoll. 4.1.2 Gruppenstruktur und Verbleibdauer Die jeweiligen Angaben der Mitarbeitenden zeigten, dass es Gruppen mit einer Altersspanne von zwei Jahren sowie ebenso Gruppen mit einer bis zu 18 Jahren umfassenden Altersspanne gab. Die jüngsten Kinder waren zum Erhebungszeitraum unter einem Jahr alt, das angegebene Höchstalter betrug 21 Jahre. Die Hälfte der Befragten (54,8 %) gab an, die Altersspanne als zu groß zu empfinden. Ein Viertel der Befragten (27,4 %) verfügte über keine Mitsprachemöglichkeiten bei der Aufnahme eines Kindes. Die Perspektivklärung nahm einen Zeitraum zwischen einem Monat und zwei Jahren und vier Monaten in Anspruch (N = 75; Durchschnitt: 8,09 Monate; SD: 6,110). Gewünscht wurde ein Zeitraum von M = 6,5 Monaten (N = 71; SD = 4,4; Median: 6 Monate). Zum Erhebungszeitraum befanden sich in den befragten Perspektivklärungsgruppen zwischen fünf und elf Kinder (M = 7,9; SD = 1,4; Modalwert = 7). Mehr als jede zweite befragte Person (53,6 %) empfand die Größe der Kindergruppe als zu groß. 4.1.3 Alleinige Zuständigkeit im Gruppendienst Sechs von zehn Mitarbeitenden (61,9 %) gaben an, aufgrund von Krankheit im Kollegium den Gruppendienst allein zu bewerkstelligen; drei von vier Befragten (73,8 %), da Kinder durch Teammitglieder zu Terminen begleitet werden (73,8 %). Sechs von zehn Personen (60,7 %) arbeiteten zum Befragungszeitraum grundsätzlich am Wochenende allein und acht von zehn Fachkräften (81 %) arbeiteten nachts allein. Für ein Zwölftel (8,3 %) galt, dass nach konzeptionellen Vorgaben generell allein im Dienst gearbeitet wurde. Ein Viertel des pädagogischen Fachpersonals (25 %) arbeitete nie allein. 4.1.4 Einarbeitung Die grundsätzlichen Bedingungen der Einarbeitung unterscheiden sich sowohl in den Einarbeitungszeiten als auch in der Intensität der Einarbeitungsbereiche. Fachkräfte (N = 68; bei N = 4 ist keine offizielle Einarbeitungszeit vorhanden und N = 12 wollten keine Angaben machen) gaben Zeiten von einer Woche bis maximal 24 Wochen für die Einarbeitung an (Modalwert: 12 Wochen; Median: 6 Wochen). Etwa die Hälfte (55,6 %, N = 72) wurde anhand Stellenschlüssel 1: 0,5 1: 0,6 1: 0,7 1: 0,8 1: 1,0 1: 1,2 1: 1,3 1: 1,4 1: 1,5 1: 1,6 1: 1,7 1: 1,8 1: 1,9 1: 2,2 Regelwohngruppe Intensivwohngruppe Sonstige 1,5 % 1,5 % 1,5 % 3,1 % 9,2 % 3,1 % 6,2 % 4,6 % 1,5 % 6,2 % 5,2 % 3,1 % 7,7 % 3,1 % 3,1 % 1,5 % 4,6 % 3,1 % 7,7 % 6,2 % 1,5 % 3,1 % 1,5 % 1,5 % 1,5 % 2,0 % Tab. 1: Stellenschlüssel Verfügbare Plätze Anzahl in Prozent 5 6 7 8 9 10 11 Gesamt 2,4 % 10,7 % 36,9 % 11,9 % 28,6 % 6,0 % 3,6 % 100 % Tab. 2: Verfügbare Plätze in Prozent 38 uj 1 | 2021 Stationäre Perspektivklärung eines bestehenden Leitfadens eingearbeitet. Ins Schreiben der Berichte und in den Ablauf der Hilfeplangespräche fühlten sich 57,1 % der Teilnehmenden eingearbeitet. Für ein Drittel der befragten Personen (34,5 %) stellte das Schreiben der Berichte eine Belastung dar. Hinsichtlich der natürlichen Belastungssituation in der Perspektivklärungsgruppe fühlte sich die Hälfte der Mitarbeitenden (50 %) eingearbeitet. 4.1.5 Fallbesprechungen und Supervision Die Zeit für die Teamsitzung nahm bei den befragten Fachkräften im Durchschnitt 3,1 Stunden ein (N = 79); gewünscht wurden hingegen durchschnittlich 3,8 Stunden (N = 79). Ausführliche Fallbesprechungen erfolgten bei 67,9 % der Fachkräfte durchschnittlich alle 4 Wochen (arithmetisches Mittel; N = 57). 4,8 % der Befragten gaben an, dass keine Fallbesprechungen, 26,2 % der Teilnehmenden, dass Fallbesprechungen nach Bedarf stattfanden. Eine Person machte keine Angabe. Fallbesprechungen wünschten sich die Fachkräfte (78,6 %) durchschnittlich pro Kind in einem Abstand von 4,1 Wochen (Modalwert: jede zweite Woche). Nicht eingerechnet sind hierbei diejenigen, die sich Fallbesprechungen nach Bedarf wünschten (17,9 %) und diejenigen, die keine Angaben machen wollten (3,6 %). Die Auswertung des Fragebogens zeigte, dass Supervision alle zwei bis 26 Wochen, durchschnittlich alle 7,6 Wochen (arithmetisches Mittel), stattfand. Ein Fünftel der Befragten (20,2 %) gab an, nur bei Bedarf Supervision zu erhalten und bei einem Teil (4,8 %) fand keine Supervision statt. Bei vier von fünf Fachkräften diente die Supervision zur Bearbeitung teaminterner Konflikte (79,8 %), in zwei Dritteln der Fälle zur Psychohygiene (65,5 %) und von der Hälfte der Befragten zur Thematisierung einrichtungsinterner Ärgernisse (48,8 %). Überwiegend (86,9 %) wird sie als Fallsupervision genutzt. 4.1.6 Zeitdruck Drei Viertel der Teilnehmenden (75 %) konnte vorgegebene Pausen während des Dienstes nicht einhalten. Mehr als die Hälfte der Befragten (55,9 %) fand im Laufe des Tages keine Zeit für die Dokumentation und 28,2 % empfanden die Dokumentation als belastend. Etwa eine von vier Fachkräften (23,8 %) sah die Organisation des Alltags als Belastung an. Darüber hinaus gaben nach deskriptiver Auswertung weniger als die Hälfte der Befragten (45,2 %) an, Zeit für eine fachlich fundierte Perspektivklärung zu haben. Ein Viertel der Mitarbeitenden (23,8 %) konnte während des Gruppenalltags die Aufmerksamkeit für die Kinder gewährleisten. Ein Drittel der befragten Fachkräfte (32,1 %) fand genügend Zeit für die Arbeit mit den Erziehungsberechtigten. Fast die Hälfte der Teilnehmenden (46,4 %) erledigte liegengebliebene Arbeit in der Bereitschaftszeit. Darüber hinaus stimmten drei Viertel der Befragten (75 %) zu, Praktikumskräfte als Entlastung zu sehen. Für ein Viertel der Mitarbeitenden (26,2 %) stellte die Vergabe von Psychopharmaka eine Ruhigstellung des Kindes dar, um den Gruppenalltag organisieren zu können. 4.1.7 Ausgewogenheit von Arbeits- und Privatleben Weiter gab die Mehrzahl der betreuenden Fachkräfte (65,5 %) an, außerhalb des Dienstes das Gefühl zu haben, telefonisch erreichbar sein zu müssen. Etwa die Hälfte (48,8 %) stimmte der Aussage zu, sich im Vorfeld zuverlässig private Termine legen zu können und die Hälfte (44 %) gab an, pünktlich zum Dienstschluss gehen zu können. Fast alle Teilnehmenden (96,4 %) gaben eine regelmäßige Umgestaltung des Dienstplanes an. Überstunden würden durch eine Dienstübernahme aufgebaut (88,1 %), wenn Arbeitsausfälle im Team bestehen. Die Mehrzahl der Fachkräfte (70,2 %) berichtete, Erholungszeit abbrechen zu müssen, um Dienste von Erkrankten im Kollegium zu übernehmen. 39 uj 1 | 2021 Stationäre Perspektivklärung Für fast alle befragten Fachkräfte (86,9 %) gab es die Möglichkeit eines Freizeitausgleichs für entstandene Überstunden. Ein Drittel der Befragten (32,1 %) gab an, aufgrund des Überstundenabbaus der Kollegschaft allein im Dienst zu arbeiten. Ein Fünftel der Mitarbeitenden (20,2 %) wurde durch ein Vertretungssystem, bei dem gruppenexterne Fachkräfte aushelfen, unterstützt. Darüber hinaus konnte ermittelt werden, dass auf Arbeitsausfälle mit Gruppenaufteilung (23,8 %), Stundenaufstockung (27,4 %) und Urlaubsabbruch (6 %) sowie Urlaubssperre (3,6 %) reagiert wurde. Exakt ein Drittel der Befragten (33,3 %) fühlte sich durch die jeweilige Einrichtung bei der Selbstfürsorge unterstützt. 4.2 Belastung - eine Frage der Ausbildung Es zeigte sich, dass fast die Hälfte der Befragten (46,4 %) sich durch das Studium oder durch die Ausbildung nicht gut vorbereitet fühlte, um die vielfältigen Aufgaben in der Perspektivklärungsgruppe bewältigen zu können. 4.2.1 Aus- und Weiterbildung Nur ein Drittel der Befragten (35,7 %) stimmte der Aussage zu, dass sie sich durch die grundständige Ausbildung auf den Umgang mit den kindlichen Störungsbildern, die ihnen in ihrer Arbeit begegneten, vorbereitet fühlten. Die Teilnehmenden wurden gebeten, zu benennen, über welche Zusatzqualifikationen sie verfügen bzw. welche sie gegenwärtig erwerben. Hierbei waren Mehrfachnennungen möglich. Die höchste Verbreitung wiesen dabei eine Weiterbildung zur Team- und Gruppenleitung (32,1 %), zu Traumapädagogik (23,8 %), im Deeskalationstraining (21,4 %), in Systemischer Beratung (15,5 %) oder Sexualpädagogik (15,5 %) auf. Jede vierte Fachkraft (27,4 %) verfügte über keine Weiterbildung. 4.2.2 Methodenkenntnisse Nach Aussage von zwei Dritteln der Fachkräfte (65,5 %) standen diesen genügend Methoden zur Verfügung, um Krisen in der Perspektivklärungsgruppe zu bewältigen. Drei von vier Mitarbeitenden (76,2 %) verfügten über genügend Methoden für die Emotionsregulation der Kinder. Mehr als ein Drittel der befragten Fachkräfte (35,7 %) war nicht der Auffassung, genügend Methoden zur Perspektivklärung des Kindes zur Verfügung zu haben. Die Auswertung im Bereich der Verfahrensanweisungen zur pädagogischen Diagnostik zeigte, dass ein Zwölftel ohne festgelegte diagnostische Kategorien arbeitete (8,3 %). 4.3 Belastung - eine Frage der Persönlichkeit Den größten Anteil der befragten Fachkräfte nahmen diejenigen ein, die maximal ein Jahr in der Gruppe arbeiteten (19 %). 4.3.1 Soft-Skills Auf Grundlage der vorangestellten Interviews wurden 17 persönliche Eigenschaften kategorisiert, die in die quantitative Erhebung einflossen. Für fünf von diesen Eigenschaften konnten sich die Befragten bezüglich der Relevanz für die Arbeit in der Perspektivklärungsgruppe entscheiden. Für zwei von drei Mitarbeitenden (64,3 %) stellte die Belastbarkeit eine relevante persönliche Eigenschaft dar. Zu den weiteren am häufigsten betrachteten Eigenschaften gehörten in absteigender Reihenfolge Empathie (56 %), Teamfähigkeit (50 %), Freude an der Arbeit (44 %) sowie Professionalität (36,9 %). Geduld (19 %) und Zuverlässigkeit (16,7 %) wurden von knapp jeder fünften Fachkraft angegeben. Kritikfähigkeit wurde von 7,1 %, Wertneutralität von 6 % und Diskussionsbereitschaft von 1,2 % genannt. 40 uj 1 | 2021 Stationäre Perspektivklärung 4.3.2 Belastbarkeit Die Befragten wurden gebeten einzuschätzen, wie belastend ausgewählte Themenbereiche bzw. Tätigkeiten für sie seien. Die größten Belastungen gehen demnach in absteigender Reihenfolge von erhöhter Aggressivität (83,3 %) und dem Festhalten der Kinder (67,9 %) aus. Einen angemessenen Abstand zur Arbeit zu gewinnen (44 %), das Verfassen von Berichten (34,5 %), die Termine der Kinder (34,5 %) oder die Biografie der Schutzbefohlenen (29,3 %) wurde als belastend gewertet. Die Medikamentenvergabe stellte für 9,5 % der Mitarbeitenden und die Arbeit mit den Kindern für ein Zehntel der Befragten (8,3 %) eine Belastung dar. Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten wurde die Neutralität gegenüber dem Familiensystem von mehr als einem Drittel (36,9 %) als beschwerlich eingeschätzt. Die Partizipation der Erziehungsberechtigten wurde vonseiten der Fachkräfte (45,2 %) als schwierig beschrieben. 5 Diskussion Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen deutlich auf, dass die zahlreichen Herausforderungen der Arbeit in einer Perspektivklärungsgruppe mit vielfältigen Belastungen verbunden sind. Damit einher geht der Hinweis, dass Fachkräfte von einer gezielten fachlichen Qualifikation sowie die Perspektivklärungsgruppen von strukturellen Veränderungen enorm profitieren können. Es wurde offensichtlich, welch teils gravierende Unterschiede die Rahmenbedingungen sowohl der Gruppe, z. B. hinsichtlich der Gruppengröße oder der vorhandenen Altersspanne der Kinder als auch der Perspektivklärung, z. B. betreffend des zur Verfügung stehenden Zeitrahmens, aufweisen. Die persönliche Belastbarkeit der Mitarbeitenden ist daher ein zentrales Thema, wie auch die Tatsache, dass angesichts des Gruppenalltags den Kindern die benötigte Aufmerksamkeit nicht gewährleistet werden kann. Es empfiehlt sich, auf die strukturellen und fachlichen Möglichkeiten zur Unterstützung der Fachkräfte mit dem Ziel einer Minderung der Belastungssituationen einzugehen. Dass oftmals die Zeit für eine fachlich fundierte Perspektivklärung sowie der dafür notwendigen Dokumentation fehlt, scheint unausweichlich mit einer unzureichenden Personalsituation verknüpft. Mit Blick auf das alleinige Arbeiten im Gruppendienst verwundert es nicht, dass Dokumentation sogar als belastend galt und fast die Hälfte der Befragten liegengebliebene Arbeit in der Bereitschaftszeit erledigte. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die hohe Teamfluktuation, die vor dem Hintergrund der Gefahr chronischer Überforderungsgefühle und ausgebrannter Teams zu betrachten ist (vgl. Fengler 2011). Für Arbeitsausfälle und aktuelle Unterbesetzungen könnte ein gruppenübergreifendes Vertretungssystem eine Lösung bieten, was bislang noch nicht in allen Einrichtungen vertreten oder nicht entsprechend ausgebaut ist. Wie die Angaben zum Stellenschlüssel und der derzeitigen Unterbesetzung deutlich aufzeigen, trägt eine Fachkraft zuweilen die Verantwortung für fünf bis sogar elf seelisch belastete Kinder, die vielfach traumatische Erfahrungen gemacht haben und mit ungewisser Perspektive leben. Damit ergeben sich für die Kinder - je nachdem, in welche Gruppe sie vermittelt werden - unterschiedliche Bedingungen u. a. im Hinblick auf die Perspektivklärung, den Lebensort und die Verarbeitung ihrer Belastungen. Inwieweit die Mitarbeitenden die Betreuung und das Erfüllen der unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen gewährleisten können, ist infrage zu stellen, da lediglich ein Viertel der Fachkräfte den Kindern die notwendige Aufmerksamkeit zukommen lassen konnte. 41 uj 1 | 2021 Stationäre Perspektivklärung Im Hinblick auf die komplexen Anforderungen für die Gruppe, die beschriebenen Belastungen für die Fachkräfte (vgl. hierzu auch Schmid/ Kind 2018) und die wegweisenden Entscheidungen für die Kinder ist eine Weiterentwicklung dieses Bereichs zwingend erforderlich. Jugendhilfe und Gesetzgebung müssen ihre Aufgabe annehmen, adäquate Konzepte zu entwickeln und den Stellenschlüssel angemessen zu erhöhen, um eine Verbesserung der kritikwürdigen Situation herbeizuführen. Für eine gelingende Arbeit muss der erhöhte pädagogische Bedarf für die zum Teil stark belasteten Kinder und Jugendlichen wahrgenommen werden, damit ausreichend personelle, fachliche und strukturelle Ressourcen zur Verfügung stehen, um eine am Bedarf des Kindes orientierte Perspektive zu ermitteln. Die Prävalenz psychischer Störungen und psychischer Belastung von Kindern und Jugendlichen in Heimeinrichtungen gilt als bekannt (vgl. Goldbeck u. a. 2009; Schmid 2012; Beck 2015). Jedoch fühlte sich nur ein Drittel der Befragten durch die grundständige Ausbildung auf die unterschiedlichen Störungsbilder vorbereitet. Dieses Ergebnis zeigt auf, dass einerseits Studium und Ausbildung vertiefender auf die Störungsbilder eingehen und andererseits die Einrichtungen ihren Betreuungskräften eine entsprechende Einarbeitung sowie Weiterbildungen ermöglichen müssen. Generell zeigte sich, dass sich nur ein Drittel der Fachkräfte gut durch die vorangegangene berufliche Qualifikation vorbereitet fühlte, die vielfältigen Aufgaben in der Perspektivklärungsgruppe bewältigen zu können, obwohl die sozialpädagogische Kompetenz zentrales Merkmal vergleichbarer Gruppen ist (vgl. Trenczek u. a. 2017). Eine intensive Einarbeitung der Mitarbeitenden wird als maßgeblicher Ausgleich betrachtet (vgl. Dittmann / Theile 2017). Allerdings werden sowohl in den Einarbeitungszeiten als auch in der Intensität der Einarbeitungsbereiche enorme Unterschiede offensichtlich. Es muss Aufgabe künftiger Evaluationsprozesse sein, die Bedingungen zur Einarbeitung der Mitarbeitenden zu verbessern. Weiterhin stellte sich heraus, dass drei Viertel der Befragten zustimmten, Praktikumskräfte als Entlastung zu sehen. Ob Praktikumskräfte demzufolge als günstige Arbeitskräfte eingesetzt werden, um Krankheitsausfälle oder Überstundenabbau im Kollegium auszugleichen, wurde diesbezüglich nicht endgültig geprüft, erscheint jedoch denkbar und wird u. a. in einem Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (vgl. 2015) angeklagt. Aufgabe der Institutionen ist es, Praktikumskräfte berufliche Einblicke zu vermitteln, deren Kenntnisse zu fördern und berufliche Fertigkeiten zu vertiefen. Lediglich ein Drittel der Befragten fühlte sich von der Einrichtung bei der Selbstfürsorge unterstützt. Wie diese Unterstützung umgesetzt wird und letztlich gelingen kann, wurde nicht untersucht. Mögliche Ansatzpunkte könnten im Anregen der Reflexionsfähigkeit durch kollegiale Fallbesprechung und Supervision zu finden sein. Diese dienen nicht nur der Fachlichkeit, sondern ebenso der Entlastung (vgl. Drüge/ Schleider 2015). Zugleich sollte es den Betreuenden ermöglicht werden, genügend Abstand von der Arbeit zu gewinnen, indem sie in ihrer Freizeit nach Möglichkeit nicht kontaktiert werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Anforderungen an die pädagogischen Fachkräfte und die Möglichkeiten für die betreffenden Kinder nach aktuellem Stand äußerst unterschiedlich sind. Gemein hingegen ist die enorme Relevanz dieser Tätigkeit. Deshalb muss dem Fachpersonal zwingend ein Arbeitsumfeld geschaffen werden, das die Belastungen der Tätigkeit mindert und auffängt. Aus der Gesamtbetrachtung aller hier vorliegenden Ergebnisse und unter Berücksichtigung des relevanten Forschungsstandes lassen sich deshalb drei zentrale Forderungen ableiten: 42 uj 1 | 2021 Stationäre Perspektivklärung 1. (Künftige) Fachkräfte benötigen gezielte fachliche Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, die sie auf die pädagogische Diagnostik vorbereiten und ihnen Methoden vorstellen, mit denen der Gruppenalltag handhabbar wird. 2. Um Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Kindern eine gelingende Perspektivklärung zusichern und Fachkräften eine solche ermöglichen, sind konzeptionelle Veränderungen notwendig. 3. Der Bereich der Perspektivklärung ist nach wie vor nicht umfassend erforscht. Die vorliegende Studie gibt einen Einblick in wichtige Grundlagen. Eine anknüpfende evaluierende Studie, eine Längsschnittstudie oder vertiefende Forschung im Bereich des psychischen Wohlbefindens der Kinder aus Kinderperspektive sollten jedoch als notwendig angesehen werden. Jenni Walther Sascha Dalügge Johanna Schratz Korrespondenz-E-Mail: jenni.walther@tagesklinik-walstedde.de Literatur Abu-Bader, S. H. (2000): Work satisfaction, burnout, and turnover among social workers in Israel. A causal diagram. International Journal of Social Welfare 9, 191 - 200 Allroggen, M., Fegert, J., Rau, T. (2017): Psychische Belastungen von Fachkräften in (sozial-) pädagogischen Arbeitsfeldern. 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