unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Was lange währt, wird nicht unbedingt gut!
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Björn Redmann
Würde der Reformentwurf zum SGB VIII tatsächlich so oder so ähnlich gesetzt werden – was würde sich eigentlich ändern für Hilfesuchende? Der Beitrag stellt die wesentlichen Änderungen für Betroffene vor und diskutiert diese vor dem Hintergrund von Positionierung und Forderungen der Betroffenen selbst, der Fachverbände und Wissenschaft.
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50 unsere jugend, 73. Jg., S. 50 - 58 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art11d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Was lange währt, wird nicht unbedingt gut! Der Referentenentwurf zum SGB VIII und seine möglichen Auswirkungen auf Hilfesuchende Würde der Reformentwurf zum SGB VIII tatsächlich so oder so ähnlich gesetzt werden - was würde sich eigentlich ändern für Hilfesuchende? Der Beitrag stellt die wesentlichen Änderungen für Betroffene vor und diskutiert diese vor dem Hintergrund von Positionierung und Forderungen der Betroffenen selbst, der Fachverbände und Wissenschaft. von Björn Redmann Dipl.-Sozialarbeiter/ -pädagoge (FH), M. A., ist seit 2002 in der Jugendhilfe tätig, u. a. in den Hilfen zur Erziehung, in der Straffälligenhilfe und als Bildungsreferent. Seit 2014 arbeitet er als Gesamtprojektkoordinator im Kinder- und Jugendhilferechtsverein e.V. in Sachsen, der ombudschaftliche Arbeit leistet und auch ein Careleaver-Zentrum betreibt. Außerdem ist er Vorsitzender des Bundesnetzwerk Ombudschaft in der Jugendhilfe e.V. Vorgeschichte, dramatische Befürchtungen und Erleichterung Irgendwie sind alle gerade ziemlich erleichtert. Seit dem 5. Oktober, und damit rund ein halbes Jahr später als angekündigt, ist nun ein Referentenentwurf des BMFSFJ veröffentlicht (BMFSFJ 2020 b) und damit die konkrete Debatte eröffnet um die Frage, wie eine Reform des SGBVIII nun konkret aussehen könnte. Und wer den Arbeitsentwurf und später den Referentenentwurf (BMFSFJ 2017) aus dem ersten Anlauf 2016/ 2017 noch vor Augen hat, musste ja tatsächlich Dramatisches erwarten. Denn die nun im zweiten Anlauf geplante Reformierung des SGB VIII hat eine längere Vorgeschichte: Im Jahr 2011 kursierte ein Papier des Sozialstaatsrates Jan Pörksen zur Steuerung und Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung vor dem Hintergrund stark gestiegener Kosten. Dieses Papier forderte eine stärkere Fokussierung auf den Sozialraum und wurde in der Fachwelt gelesen als Strategie zur Absenkung von Leistungsansprüchen und Standards. Seit 2013 wird verstärkt die sogenannte „inklusive Lösung“ diskutiert, die die Kinder- und Jugendhilfe zum Ort für alle Kinder und Jugendlichen machen soll, unabhängig von Behinderungen und Benachteiligungen. Im Koalitionsvertrag von 2013 verständigten sich CDU, CSU und SPD darauf, die Kinder- und Jugendhilfe in einem „sorgfältig strukturierten Prozess zu einem inklusiven, effizienten und dauerhaft tragfähigen belastbaren Hilfesystem“ (CDU/ CSU/ SPD 2013, 70) weiterzuentwickeln. Dies mündete in 2017 in einem Referentenentwurf, der breit diskutiert und massiv kritisiert wurde: So sollte die Ziel- 51 uj 2 | 2021 Auswirkungen des neuen KJSG auf Hilfesuchende bestimmung in § I durch ein eingeführtes „möglichst“ deutlich abgeschwächt werden, ein problematischer „Teilhabe“-Begriff eingeführt werden, Meldebefugnisse in Kinderschutzfragen für bestimmte Berufsgruppen deutlich verändert werden, Vorgaben für die Hilfeplanung massiv bürokratisch verschärft werden und Hilfen für junge Volljährige erschwert werden (BMFSFJ 2017). Schon der Referentenentwurf und später noch der Regierungsentwurf nahmen wesentliche Fragestellungen der Praxis und Forschung nicht auf und in der Beschlussfassung des Bundestages war kaum noch etwas übrig von den durch die Fachverbände gesehenen wenigen als positiv wahrgenommenen Aspekten. Schlussendlich hat dieser Gesetzentwurf nie Rechtskraft bekommen, weil der Bundesrat sich nie abschließend mit dem Gesetz befasst hat. Im Koalitionsvertrag von 2018 nahmen sich die Regierungsfraktionen dann vor, auf der Basis des ersten Reformentwurfes das SGB VIII weiterzuentwickeln und eine Reform umzusetzen (CDU/ CSU/ SPD 2018, 21ff ). Dafür sollte ein breiter Beteiligungsansatz gewählt werden, der dann im Dialogprozess „Mitreden - Mitgestalten“ über mehrere Monate mündete. Vor dem Hintergrund der dargestellten Vorgeschichte und in Kenntnis der dahinterliegenden Diskurse und Interessen wäre eigentlich zu erwartengewesen, dass einneuerlicher Referentenentwurf in eine ähnliche Richtung gehen würde und somit wieder die problematischen Anteile einer Reform überwiegen würden. Insofern ist der seit Anfang Oktober vorliegende Referentenentwurf in Fachkreisen mit großer Erleichterung aufgenommen worden. Aber ist das angemessen? Und vor allem vor welchem Hintergrund? Was eine Reform leisten müsste Wer das Kinder- und Jugendhilfegesetz ändern will, sollte klare Orientierungen haben, woran sich eine solche Reform ausrichten sollte. Im Folgenden werden einige Orientierungen und Forderungspapiere vorgestellt und anhand dessen anschließend der Referentenentwurf bewertet. Besonderes Augenmerk liegt hierbei auf der Frage, wie Rechte und Beteiligungsrechte von Hilfesuchenden gestärkt werden sollen. Koalitionsvertrag von 2018 Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode verpflichtet sich die Bundesregierung zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen und fachpolitischer Erkenntnisse (CDU/ CSU/ SPD 2018). Es soll ein (1.) wirksames Hilfesystem entwickelt werden, das Familien stärkt und Kinder (2.) vor Gefahren schützt. Eltern sollen (3.) in ihrer Erziehungsverantwortung gestärkt werden, (4.) Pflegeeltern besser unterstützt werden, (5.) sozialräumliche Angebote gestärkt werden und (6.) die Qualität bei familiengerichtlichen Gutachten verbessert werden. Dabei sollen insbesondere die Perspektiven von Betroffenen miteinbezogen werden. Und genau dafür sollte durch wissenschaftliche Begleitung abgesichert werden, dass diese Perspektiven tatsächlich auch vorliegen. Deutlich wird hier, dass der Anspruch ist, dass (7.) die Perspektiven von Betroffenen nicht nur zur Kenntnis genommen werden, sondern (8.) auch einfließen sollen in den Gesetzgebungsprozess. Aus der Sicht von Betroffenen Wissenschaftliche Begleitung zum Dialogprozess „Mitreden - Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe“ Das Institut für Kinder- und Jugendhilfe hat für die Sammlung und wissenschaftliche Aufarbeitung der Perspektiven von Betroffenen eine temporäre Anlaufstelle gegründet, an die sich junge Menschen und Familien wenden konnten, die mit der Kinder- und Jugendhilfe und den Familiengerichten zu tun hatten (BMFSFJ 2020 a). Über verschiedene Erhebungsmethoden wurden mehr als 1000 junge Menschen und Fami- 52 uj 2 | 2021 Auswirkungen des neuen KJSG auf Hilfesuchende lien befragt. Dabei wird deutlich, dass (9.) sich „nur weniger als die Hälfte der Adressatinnen und Adressaten bisher ,auf Augenhöhe‘ mit den professionell Tätigen im Hilfesystem wahrnimmt“ (BMFSFJ 2020 a, 85), (10.) Informationen und Beteiligungsmöglichkeiten von den Betroffenen gerade in Kinderschutzfällen als gering eingeschätzt werden und sich dadurch eine (11.) mangelnde AdressatInnengerechtigkeit einstellt, dementsprechend (12.) Informations- und Beteiligungsstandards in der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt und implementiert werden müssen, (13.) Ombudsstellen ausgebaut werden müssen, (14.) Kinder und Jugendliche einen eigenen Beratungsanspruch bekommen müssen, die (15.) gemeinsame Unterbringung von Familien zur Krisenintervention stärker in Betracht gezogen werden sollte, (16.) Partizipation in Einrichtungen stärker ausgebaut werden müsste, es (17.) einen Rechtstatbestand „Leaving Care“ geben müsste, (18.) die Kostenbeteiligung junger Menschen in stationären Erziehungshilfen reduziert werden müsste, (19.) anlasslose und spontane Kontrollen in den Einrichtungen ermöglicht werden müssen und (20.) die Angebotsstruktur familienunterstützender Leistungen überarbeitet werden müsste. Der Abschlussbericht stellt bei allen gesetzlichen Änderungsbedarfen allerdings auch heraus, dass viele Handlungsbedarfe auf Vollzugsbzw. Umsetzungsdefizite zurückzuführen sind, bei denen es keine gesetzlichen Änderungen geben müsste, sondern die in der Praxis verändert werden müssten. Positionspapier KJRV: Careleaver fordern mehr Rechte und eine bessere Jugendhilfe nach der SGB VIII-Reform Ende Oktober 2018 trafen sich 14 Careleaver aus Sachsen auf Einladung des Kinder- und Jugendhilferechtsvereins e.V. drei Tage lang im Spreewald, um ihre Positionen und Forderungen zur geplanten SGB VIII-Reform zu formulieren, um damit den Diskurs weiter anzuregen. In einer Zukunftswerkstatt wurde in drei Phasen zunächst Kritik an der stationären Kinder- und Jugendhilfe geübt. In einer Phantasiephase wurde von den Careleavern dann diskutiert, wie der Staat für Kinder- und Jugendliche konkrete Hilfestellungen leisten kann. Abschließend wurden in einem letzten Schritt konkrete Gesetzesvorschläge formuliert. Daraus ist ein Positionspapier (KJRV 2018) entstanden, das auch dem BMFSFJ zugegangen ist. Die Careleaver fordern, (21.) eine gesetzliche Definition für Careleaver in das Gesetz einzuarbeiten, (22.) ein Inklusionskonto als Starthilfe für ein Leben nach der Jugendhilfe zu schaffen, (23.) kein Hilfeende während der Ausbildung zu erlauben, (24.) dass das Jugendamt bis zum Ende der Ausbildung zuständig bleiben soll, (25.) dass eine Hilfe während der Ausbildung oder des Studiums nur der/ die Hilfesuchende selber beenden darf, es (26.) keine Beendigung der Hilfe ohne verfügbaren sozialraumnahen Wohnraum geben darf, (27.) ein personenbezogener Gutschein am Ende der Hilfe ausgegeben wird, (28.) die Entwicklung eines Careleaver-Ausweises und dass es (29.) keine Anrechnung von verdientem, geschenktem oder geerbtem Geld bis zum 18. Lebensjahr geben darf. Die Berliner Erklärung des Careleaver e.V. Im Careleaver e.V. organisieren sich seit 2014 junge Menschen, die einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe oder in Pflegefamilien verbracht haben. Der Verein ist die einzige unabhängige Interessenvertretung auf Bundesebene. In seiner 2019 erschienenen Berliner Erklärung (Careleaver e.V. 2019) fordert er im Bund mit der IGFH und der Universität Hildesheim (30.) einen eigenen Rechtsanspruch „Leaving Care“, einen (31.) Regelrechtsanspruch für Leistungen für junge Volljährige, (32.) eine rechtliche Verpflichtung zur Gestaltung von niedrigschwelligen Infrastrukturen und verlässlichen, flexiblen und individuellen Hilfen, die Einführung (33.) von verlässlichen AnsprechpartnerInnen im Jugendamt auch nach Ende der Hilfe, die Einführung einer (34.) koordinierten Übergangsplanung, 53 uj 2 | 2021 Auswirkungen des neuen KJSG auf Hilfesuchende einen (35.) Rechtsanspruch auf Selbstorganisation von Betroffenen in der Kinder- und Jugendhilfe, den Ausbau von Beteiligungsrechten in der (36.) Hilfeplanung und in (37.) Einrichtungen, die (38.) bewusste Gestaltung von Abschieden aus der stationären Erziehungshilfe, eine (39.) „Coming-Back-Option“ für die Rückkehr in die Jugendhilfe auch nach dem 18. Lebensjahr, die (40.) Abschaffung der Kostenheranziehung von jungen Menschen sowie die (41.) Schaffung von niedrigschwelligen Infrastrukturen sowie Lotsen für den Übergang aus der Kinder- und Jugendhilfe in ein selbstbestimmtes Leben. Aus der Sicht von Fachverbänden: Die Erziehungshilfefachverbände Deutschlands Die Erziehungshilfefachverbände Deutschlands haben im Vorfeld des zweiten Reformprozesses Fragen und Prüfsteine an die SGB VIII-Reform formuliert (Die Fachverbände für Erziehungshilfen 2018). Sie forderten einen (42.) deutlichen Inklusionsanspruch im Reformentwurf und die (43.) Zurückdrängung von vornehmlich spezialisierten und/ oder exkludierenden Angeboten, die (44.) Erhaltung wesentlicher fachlicher Standards der Erziehungshilfe, den (45.) freien Zugang zu pädagogischen Hilfen und Leistungen ohne Krankheits- oder Behinderungsbegriff, den (46.) Ausbau von Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Familien, den (47.) Ausbau des Wunsch- und Wahlrechts, den (48.) Erhalt eines offenen Leistungskatalogs, die (49.) Erhaltung des Grundsatzziels, positive Lebensbedingungen sowie eine Kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen, den stärkeren (50.) Einbezug von Selbstdeutungen von jungen Menschen und ihren Familien bei der Feststellung des Hilfebedarfs, ein eigenständiges Beratungsrecht (51.) für Kinder und Jugendliche, die Klarstellung (52.), dass sogenannte „Doppelhilfen“ möglich sind, die (53.) Stärkung von Hilfen für junge Volljährige, die (54.) Streichung der Kostenheranziehung von jungen Menschen, die (55.) Ermöglichung und Förderung von Selbsthilfe-Zusammenschlüssen von Careleavern, den (56.) Ausschluss von Zwangsmaßnahmen, entwürdigendem Erziehungsverhalten und geschlossener Unterbringung und die (57.) vollumfängliche Gültigkeit des KJHG auch für UMF/ UMA. Aus der Sicht von Wissenschaft und Forschung: Die AutorInnengruppe Jugendhilfe 2030 Eine unabhängige AutorInnengruppe (Behnisch et al. 2016), die sich aus VertreterInnen der Wissenschaft, Forschung und Praxis zusammensetzt und seit 2015 regelmäßig trifft, hat 2016 in einem Artikel unter dem Titel „Selbstzufrieden aber perspektivlos? Impulse für eine Jugendhilfe mit Zukunft“ Thesen zur Diskussion gestellt, die auch im Hinblick auf die SGB VIII- Novellierung relevant sein könnten. Die AutorInnen konstatieren, dass die Kinder- und Jugendhilfe „hinter der Fassade ihres empirischen Erfolgs und Ausbaus de facto unter gravierenden Strukturproblemen leidet“ (Behnisch et al. 2016, 310). Sie sei „nicht mehr zu Impulsen für eine sozialgerechte(re) Gesellschaft in der Lage und setzt damit Identität und Gestaltungskraft aufs Spiel“ (ebd.). Bei einer Reformierung des SGB VIII müsste (58) ein profilierter Erziehungsbegriff und damit einhergehende Leitvorstellungen der Ermöglichung von Lern- und Entwicklungserfahrungen junger Menschen aufgenommen werden, es müsste deutlich werden, dass (59.) strukturelle Bedingungen und Verursachungen von Armut in den Blick genommen werden, es bräuchte (60.) wirksame Impulse und Strategien für eine offensive Mitgestaltung positiver Lebenslagen, einen deutlichen (61.) qualitativen und quantitativen Ausbau von Jugendhilfeplanung, einen (62.) gesellschaftsgestaltenden Anspruch als (63.) kritische Unterstützung des gelingenden Aufwachsens, den (64.) Anspruch sozialpolitischer Einflussnahme durch die Jugendhilfe zur Gestaltung einer Gesellschaft, die allen (65.) offene Entwicklungschancen ermöglicht, 54 uj 2 | 2021 Auswirkungen des neuen KJSG auf Hilfesuchende Gerechtigkeitsprobleme (66.) innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe und regionale Disparitäten thematisiert und aufzulösen hilft, es bräuchte die deutliche Stärkung (67.) partizipativer Strukturen und Handlungspraxen sowie das Leisten von Beiträgen (68.) zu einer einheitlichen Professionalität der Fachkräfte. Es braucht also ein Gesamtkonzept einer Kinder- und Jugendhilfe der Zukunft. Eine Übersicht über die dargelegten Orientierungen und Forderungen und deren Erfüllung durch den Referentenentwurf vom 6. 10. 2020 findet sich folgend: Koalitionsvertrag (1.) wirksames Hilfesystem / (2.) Familien stärken und Kinder vor Gefahren schützen + (3.) Eltern sollen in ihrer Erziehungsverantwortung gestärkt werden + (4.) Pflegeeltern besser unterstützen + (5.) sozialräumliche Angebote stärken / (6.) Qualität bei familiengerichtlichen Gutachten verbessern / (7.) Perspektiven von Betroffenen zur Kenntnis nehmen + (8.) Perspektiven von Betroffenen in Gesetzgebungsprozess einfließen lassen + Wissenschaftliche Begleitung zum Dialogprozess (9.) AdressatInnen auf Augenhöhe / (10.) Informationen und Beteiligungsmöglichkeiten Betroffener stärken + (11.) mangelnde AdressatInnengerechtigkeit / (12.) Informationen und Beteiligungsstandards entwickeln und implementieren / (13.) Ombudsstellen ausbauen ++ (14.) eigener Beratungsanspruch von Kindern und Jugendlichen ++ (15.) gemeinsame Unterbringung von Familien zur Krisenintervention / (16.) Partizipation in Einrichtungen stärker ausbauen + (17.) Rechtstatbestand „Leaving Care“ / (18.) Kostenbeteiligung junger Menschen in stationären Erziehungshilfen reduzieren ++ (19.) anlasslose und spontane Kontrollen in den Einrichtungen ++ (20.) Angebotsstruktur familienunterstützender Leistungen überarbeiten / Positionspapier von Careleavern beim KJRV (21.) gesetzliche Definition für Careleaver - (22.) Inklusionskonto als Starthilfe für ein Leben nach der Jugendhilfe - (23.) kein Hilfeende während der Ausbildung - (24.) Jugendamt soll bis zum Ende der Ausbildung zuständig bleiben - (25.) Hilfe darf während der Ausbildung oder des Studiums nur der/ die Hilfesuchende selber beenden - (26.) keine Beendigung der Hilfe ohne verfügbaren sozialraumnahen Wohnraum - (27.) personenbezogener Gutschein am Ende der Hilfe - (28.) Entwicklung eines Careleaver-Ausweises - (29.) keine Anrechnung von verdientem, geschenktem oder geerbtem Geld - Tab. 1: Orientierungen und Forderungen an eine SGB VIII-Reform, eigene Bewertungen u 55 uj 2 | 2021 Auswirkungen des neuen KJSG auf Hilfesuchende Berliner Erklärung: Careleaver e.V. (30.) einen eigenen Rechtsanspruch „Leaving Care“ - (31.) Regelrechtsanspruch für Leistungen für junge Volljährige / (32.) eine rechtliche Verpflichtung zur Gestaltung von niedrigschwelligen Infrastrukturen und verlässlichen, flexiblen und individuellen Hilfen - (33.) Einführung von verlässlichen AnsprechpartnerInnen im Jugendamt auch nach Ende der Hilfe - (34.) Einführung einer koordinierten Übergangsplanung + (35.) Rechtsanspruch auf Selbstorganisation von Betroffenen + (36.) Ausbau von Beteiligungsrechten in der Hilfeplanung + (37.) Ausbau von Beteiligungsrechten in Einrichtungen + (38.) bewusste Gestaltung von Abschieden / (39.) „Coming-Back-Option“ ++ (40.) Abschaffung der Kostenheranziehung ++ (41.) Schaffung von niedrigschwelligen Infrastrukturen sowie Lotsen für den Übergang / Die Erziehungshilfefachverbände Deutschlands (42.) deutlicher Inklusionsanspruch + (43.) Zurückdrängung von vornehmlich spezialisierten und/ oder exkludierenden Angeboten / (44.) Erhaltung wesentlicher fachlicher Standards der Erziehungshilfe / (45.) freier Zugang zu pädagogischen Hilfen und Leistungen / (46.) Ausbau von Beteiligung + (47.) Ausbau des Wunsch- und Wahlrechts - (48.) Erhalt eines offenen Leistungskatalogs / (49.) Erhaltung des Grundsatzziels, positive Lebensbedingungen sowie eine Kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen / (50.) stärkerer Einbezug von Selbstdeutungen von jungen Menschen und ihren Familien bei der Feststellung des Hilfebedarfs + (51.) eigenständiges Beratungsrecht für Kinder und Jugendliche + (52.) Klarstellung, dass sogenannte „Doppelhilfen“ möglich sind + (53.) Stärkung von Hilfen für junge Volljährige + (54.) Streichung der Kostenheranziehung ++ (55.) Ermöglichung und Förderung von Selbsthilfe-Zusammenschlüssen von Careleavern ++ (56.) Ausschluss von Zwangsmaßnahmen, entwürdigendem Erziehungsverhalten und geschlossener Unterbringung - (57.) vollumfängliche Gültigkeit des KJHG auch für UMF/ UMA / AutorInnengruppe Jugendhilfe 2030 (58.) profilierter Erziehungsbegriff und damit einhergehende Leitvorstellungen - (59.) strukturelle Bedingungen und Verursachungen von Armut in den Blick nehmen - (60.) wirksame Impulse und Strategien für eine offensive Mitgestaltung positiver Lebenslagen - (61.) deutlicher qualitativer und quantitativer Ausbau von Jugendhilfeplanung - (62.) gesellschaftsgestaltender Anspruch / (63.) kritische Unterstützung des gelingenden Aufwachsens / u 56 uj 2 | 2021 Auswirkungen des neuen KJSG auf Hilfesuchende Der vorliegende Entwurf: Verbesserungen, aber nicht der große Wurf! Es gibt ausreichend Gründe, etwas Wasser in den Wein zu gießen. Zwischen den oben genannten Positionierungen und dem nun seit Anfang Oktober vorliegenden Referentenentwurf sind viele Monate vergangen. Jetzt ist es Zeit und Gelegenheit, die geplanten Veränderungen zu bewerten. Selbstverständlich finden sich Licht und Schatten. Zwar sind etliche Verbesserungen im Referentenentwurf auszumachen, die auch tatsächlich für Hilfesuchende zu Verbesserungen führen können. Dies sind insbesondere ➤ die geplante Umsetzung einer inklusiven Jugendhilfe. War es bisher so, dass Kinder und Jugendliche mit Einschränkungen zwischen der Jugendhilfe und der Behindertenhilfe hin- und hergeschoben werden - könnte es zukünftig so sein, dass sie in der Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe bleiben. ➤ die Reduzierung der Kostenheranziehung. War es bisher so, dass Kinder und Jugendliche, die in Heimen und Wohngruppen leben, 75 % ihrer Einkünfte ans Jugendamt abgeben müssen und Volljährige sogar aus ihrem Vermögen zu den Kosten herangezogen werden - würde es zukünftig so sein, dass sie „nur“ 25 % abgeben müssen und die Heranziehung aus dem Vermögen ganz abgeschafft wird. Das könnte dazu führen, dass Careleaver sich ein kleines Finanzpolster für die Selbstständigkeit ansparen können. ➤ die Einführung von Ombudsstellen. War es bisher so, dass Ombudsstellen nicht flächendeckend und auch nur eingeschränkt verfügbar sind - könnte es zukünftig so sein, dass die Unterstützung in Konflikten im ganzen Bundesgebiet und für deutlich mehr Menschen erreichbar sein wird. ➤ Mitspracherechte für nicht (mehr) sorgeberechtigte Eltern und Geschwister. War es bisher so, dass nicht sorgeberechtigte Eltern und Geschwister nur in Einzelfällen in der Hilfeplanung mitsprechen durften und nur sehr selten beteiligt waren - könnte es nun so werden, dass sie das tun dürfen und so auch eine konstruktive und erkennbare Rolle für die jungen Menschen einnehmen können. ➤ die explizite Erwähnung von Selbstvertretungen und deren Förderung sowie dessen Einbezug in die Betriebserlaubnis und Jugendhilfeausschüsse. Bisher gibt es kaum Selbstvertretungen und diese werden i. d. R. auch nicht einbezogen in die Strukturen der Jugendhilfe. Dies kann sich ändern, wenn tatsächlich solche Strukturen gefördert werden. Und diese Vertretungen können auch Gesprächsorte für Menschen werden, die mit der Kinder- und Jugendhilfe ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Wenn diese Erfahrungen dann eingespeist werden in die Gestaltung von Abläufen und Strukturen, kann sich eine adressatInnengerechte Jugendhilfe entwickeln. ➤ der uneingeschränkte Beratungsanspruch für Kinder und Jugendliche. War es bisher so, dass das Jugendamt Kinder ohne Kenntnis ihrer Personensorgeberechtigten nur beraten durfte, wenn eine Not- und Konflikt- (64.) Anspruch sozialpolitischer Einflussnahme / (65.) offene Entwicklungschancen / (66.) Gerechtigkeitsprobleme thematisieren - (67.) deutliche Stärkung partizipativer Strukturen und Handlungspraxen + (68.) Beiträge leisten zu einer einheitlichen Professionalität der Fachkräfte - Anmerkungen: + leicht verbessert, ++ deutlich verbessert, / nicht verändert, - verschlechtert/ nicht erfüllt u 57 uj 2 | 2021 Auswirkungen des neuen KJSG auf Hilfesuchende lage erkennbar war, können sich Kinder und Jugendliche zukünftig in allen Fragen an das Jugendamt wenden, ohne dass ihre Eltern davon Kenntnis bekommen müssen. Das könnte insbesondere für die Kinder und Jugendlichen von großem Interesse sein, die es zu Hause nicht mehr aushalten. ➤ die Einführung von Beschwerdemöglichkeiten auch für Pflegekinder. Bisher ist es so, dass Pflegekindern nicht grundsätzlich Beschwerdemöglichkeiten über ihre Behandlung in den Pflegefamilien zur Verfügung stehen - zukünftig stehen ihnen Beschwerdemöglichkeiten zur Verfügung. Damit wird eine Lücke geschlossen. ➤ Verbesserungen bei Hilfen für junge Volljährige. Bisher war es in der Praxis so, dass Hilfen für junge Volljährige, wenn sie einmal geendet sind, in der Regel nicht wieder aufgenommen wurden - zukünftig würde im Gesetz klargestellt, dass eine einmal erfolgte Beendigung einer Hilfe keine erneute Gewährung oder Fortsetzung ausschließt. Außerdem ist vorgesehen, dass andere zuständige Sozialleistungsträger in die Hilfeplanung eingebunden werden, bevor die Hilfe endet. Damit soll verhindert werden, dass junge Menschen ohne Hilfe und Unterstützung aus den Einrichtungen entlassen werden. Außerdem wird ein neuer Paragraf zur Nachbetreuung eingeführt, der klarstellt, dass sie auch nach Beendigung der Hilfe im nötigen Umfang beraten und unterstützt werden müssen. ➤ die Verschärfungen in der Betriebserlaubnis für Einrichtungen. Bisher war es in der Betriebserlaubnis so geregelt, dass geeignete Verfahren der Beteiligung sowie Möglichkeiten der Beschwerde durch die Einrichtung vorgehalten werden müssen. Zukünftig soll geregelt werden, dass es ein Konzept braucht zum Schutz vor Gewalt, zur Förderung von Selbstvertretungen, zur Beteiligung sowie Möglichkeiten der Beschwerde innerhalb und außerhalb der Einrichtung. Dies stellt deutlich höhere Anforderungen an den Betrieb einer Einrichtung als bisher. Der Kern des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ist unangetastet geblieben. Es gibt keine, wie noch 2017 geplante, Abschwächung der Zielbestimmung, es wird kein problematischer „Teilhabe“-Begriff eingeführt, die Umsetzung der Hilfeplanung bleibt in ihrer konkreten Umsetzung weiter in den Händen der Handelnden vor Ort. Stattdessen gibt es ein paar deutliche Verbesserungen, ein paar unklare Begriffe, einige unverständliche Verschiebungen und das spürbare Bemühen, gerade bei den Themen Beteiligung und Selbstvertretung Pflöcke einzuschlagen. Gerade diese beiden Themen sind schon in der Erarbeitung des Referentenentwurfs in der Struktur umgesetzt worden. So gab es für diesen Reformprozess einen langen und breiten Beteiligungsansatz von Fachverbänden. Auch ist insbesondere der Careleaver e.V. als Selbstvertretung junger Menschen frühzeitig einbezogen worden. Außerdem ist über die wissenschaftliche Begleitung die Perspektive von Betroffenen eingeholt worden. Das alles hilft nur reichlich wenig, wenn die Perspektiven von Betroffenen wenig Niederschlag finden, die Regelungen zu Selbstvertretung junger Menschen unkonkret bleiben und Regelungen zur stärkeren Beteiligung wenig materielle Substanz haben. Und genau hier ist einer der Knackpunkte der aktuellen Reform: Selbst an Stellen, die sehr fortschrittlich gedacht sind, fehlt die deutliche Verpflichtung, diese mit zusätzlichen Ressourcen zu versehen. Wie sollen die Jugendämter vor Ort mehr Beteiligung in der Hilfeplanung umsetzen ohne zusätzliches Personal, wie unter diesen Umständen die zusätzlichen Vorgaben in der Betriebserlaubnis prüfen? Wie soll sich mehr Beteiligung und Beschwerde in den Einrichtungen verwirklichen ohne zusätzliche und verbindliche Ressourcen? Wie soll mehr Beratung durch die Jugendämter geleistet werden, wenn nicht mehr Personal verbindlich eingestellt wird? Es droht, wie schon bei früheren Nachsteuerungen, dass sinnvolle Regelungen mangels materiellem Gehalt in der Praxis nicht oder nur halbherzig umgesetzt werden. 58 uj 2 | 2021 Auswirkungen des neuen KJSG auf Hilfesuchende Literatur Behnisch, M., Gintzel, U., Hensen, G., Maykus, S., Müller, H., Redmann, B., Schone, R., Stuckstätte, E. (2016): Selbstzufrieden aber perspektivlos? Impulse für eine Jugendhilfe mit Zukunft. Forum Erziehungshilfen 5, 310 - 315 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2017): Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG). In: https: / / www.ijos blog.de/ wp-content/ uploads/ 2017/ 03/ 2017_03-17_ RefEntwurf.pdf, 9. 11. 2020 BMFSFJ (2020 a): Ergebnisbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Dialogprozess„Mitreden - Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe“. In: https: / / ikj-mainz.de/ wp-content/ uploads/ sites/ 3/ 2020/ 10/ IKJ-Ergebnisbericht-Wiss.-Begleitung_ gesamt.pdf, 12. 11. 2020 BMFSFJ (2020 b): Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG). In: https: / / igfh.de/ sites/ default/ files/ 2020-10/ Referentenentwurf%20eines% 20Gesetzes%20zur%20St%C3%A4rkung%20von% 20Kindern%20und%20Jugendlichen.pdf, 9. 11. 2020 Careleaver e.V., Institut Sozial- und Organisationspädagogik, Stiftung Universität Hildesheim, Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) (2019): Berliner Erklärung. In: https: / / www.careleaver.de/ wpcontent/ uploads/ 2020/ 09/ Berliner-Erklaerung.pdf, 12. 11. 2020 CDU, CSU, SPD (2013): Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode. 14. 12. 2013 in Berlin. In: https: / / www.cdu.de/ sites/ default/ files/ media/ dokumente/ koalitionsvertrag.pdf, 16.11.2020 CDU, CSU, SPD (2018): Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 19. Legislaturperiode. 12. 3. 2018 in Berlin. In: https: / / www.bundesregierung.de/ resour ce/ blob/ 975226/ 847984/ 5b8bc23590d4cb2892b- 31c987ad672b7/ 2018-03-14-koalitionsvertrag-data. pdf? download=1, 9. 11. 2020 Die Fachverbände für Erziehungshilfen (2018): Fragen und Prüfsteine an die SGB VIII Reform und ein inklusives Kinder- und Jugendhilfegesetz. In: https: / / igfh.de/ sites/ default/ files/ Prüfsteine_Verbände_Stand_ 11102018_0.pdf, 12. 11. 2020 Kinder- und Jugendhilferechtsverein e.V. (KJRV) (2018): Positionspapier: Careleaver fordern mehr Rechte und eine bessere Jugendhilfe nach der SGB VIII-Reform. 26. 10. - 28. 10. 2018 in Dresden. In: http: / / www.jugend hilferechtsverein.de/ index.php/ projekt-noteingang/ muskepeer/ 165-positionspapier-cl-sgb-viii, 12. 11. 2020 Ein zweites Problem ist der mangelnde Anspruch an die Reformierung des KJHG. Der Koalitionsvertrag von 2018 macht es deutlich: „Das bestehende Kinder- und Jugendhilfegesetz hat sich in seiner Grundausrichtung bewährt und hohe Akzeptanz erfahren. Gesellschaftliche Veränderungen und fachpolitische Erkenntnisse bringen es aber mit sich, dass es weiterentwickelt werden muss“ (CDU/ CSU/ SPD 2018, 21). Der große Wurf sollte es eben gerade nicht werden. So bleiben grundlegende Fragen nach einem profilierten Erziehungsbegriff, Armutsfragen, einer offensiven Gestaltung positiver Lebensbedingungen und einem gesellschaftsgestaltenden Anspruch, wie sie die Autorengruppe Jugendhilfe 2030 formuliert, unbeantwortet. Damit bleibt der Kinder- und Jugendhilfe nur der Weg, in einer Praxis, die durch mangelnde Ressourcen, fragwürdige Trägerinteressen, Widersprüche und Gerechtigkeitsprobleme gekennzeichnet ist, dennoch gute, akzeptable und gemeinsame Lösungen im Einzelfall zu finden. Für die Frage nach grundsätzlichen Veränderungen in der Kinder- und Jugendhilfe lohnte sich allerdings, über Bündnisse mit Selbstvertretungen nachzudenken und auf diesem Wege einerseits die Praxis zu verändern und auf der anderen Seite Änderungsbedarf auch im Recht langfristig anzugehen. Und dann gelte doch auch wieder: was lange währt, wird endlich gut. Björn Redmann Gesamtkoordinator Kinder- und Jugendhilferechtsverein e.V. Louisenstr. 81 01099 Dresden E-Mail: redmann@jugendhilferechtsverein.de
