eJournals unsere jugend 73/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Der Referentenentwurf zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz und die rechtskreisübergreifende Kooperation am Übergang Schule – Beruf

21
2021
Birgit Beierling
Der Artikel erläutert Vorschläge zur Stärkung der Jugendsozialarbeit an den Schnittstellen zu den Sozialgesetzbüchern II und III, formuliert die gewünschten Auswirkungen auf Jugendliche und junge Erwachsene und bewertet unter diesem Blickwinkel den vorliegenden Referentenentwurf zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz.
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66 unsere jugend, 73. Jg., S. 66 - 73 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art13d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Birgit Beierling Jg. 1957; Diplom-Sozialwissenschaftlerin und Referentin für Jugendsozialarbeit im Paritätischen Gesamtverband Der Referentenentwurf zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz und die rechtskreisübergreifende Kooperation am Übergang Schule - Beruf Eine verbesserte Rolle der Jugendsozialarbeit? Der Artikel erläutert Vorschläge zur Stärkung der Jugendsozialarbeit an den Schnittstellen zu den Sozialgesetzbüchern II und III, formuliert die gewünschten Auswirkungen auf Jugendliche und junge Erwachsene und bewertet unter diesem Blickwinkel den vorliegenden Referentenentwurf zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Jugendsozialarbeit: eine zu wenig beachtete Disziplin der Kinder- und Jugendhilfe Worum geht es bei der Jugendsozialarbeit? Jugendsozialarbeit umfasst Beratung und Begleitung in der Schulzeit, wenn es schwierig wird, das heißt aufmuntern, dranbleiben und fordern. Jugendsozialarbeit, das heißt persönliche und fachliche Unterstützung bei der Berufswahl, während einer betrieblichen oder schulischen Berufsausbildung leisten oder auch das Angebot einer Berufsausbildung unterbreiten, wenn mehr Hilfe gebraucht wird, als die Arbeitsförderung zur Verfügung stellt. Und Jugendsozialarbeit heißt auch, Wohnangebote zur Verfügung zu stellen, wenn die Jugendlichen während einer beruflichen Bildung eigenen Wohnraum benötigen, ihnen eine Anbindung an andere Jugendliche guttut. Jugendsozialarbeit heißt, die gesamte Lebenssituation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Blick zu nehmen: ihre persönliche Entwicklung, ihre Wohnsituation, ihre Familie und ggf. Migrationsgeschichte etc. Jugendsozialarbeit arbeitet mit Respekt und Wertschätzung, nicht mit Druck, bietet den jungen Menschen ein professionelles Gegenüber, bringt ihnen Empathie und Toleranz entgegen. Und Jugendsozialarbeit erlaubt Umentscheidungen und Neuorientierungen, begleitet Rückschläge und engagiert sich anwaltschaftlich für die jungen Menschen. Das alles steckt im § 13 SGB VIII, in dem der gesetzliche Auftrag der Jugendsozialarbeit als Förderung der schulischen, beruflichen und sozialen Integration junger Menschen beschrieben wird. Die Jugendsozialarbeit berücksich- 67 uj 2 | 2021 Die Rolle der Jugendsozialarbeit im neuen KJSG tigt unterschiedliche individuelle Lebenslagen und leistet einen Beitrag zu mehr Teilhabegerechtigkeit und verbesserten Bildungschancen. Grundsätzlich gilt aber die Vorrangigkeit anderer Sozialleistungsträger, wenn es um die berufliche Integration geht, und das stellt leider in der Praxis ein Problem dar. Berufliche Integration in der Jugendphase und die Verantwortung der Jugendhilfe Übergänge von der allgemeinbildenden Schule in die berufliche Ausbildung stellen für viele junge Menschen eine große Herausforderung dar. In dieser Zeit sind zahlreiche Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, die nicht alle mithilfe ihrer Familien, Freunde etc. ohne sozialpädagogische Unterstützung erfolgreich meistern. Nur eine dieser aufeinander wirkenden Entwicklungsaufgaben ist die der beruflichen Integration. Verselbstständigung und gesellschaftliche, kulturelle und politische Verortung zu erreichen, sind Entwicklungsaufgaben, die zeitgleich von den jungen Menschen bewältigt werden müssen. Deshalb sind die speziell auf Arbeits- und Ausbildungsförderung ausgerichteten Leistungen des SGB II und III nicht immer zielführend. Anstelle von standardisierten Maßnahmen werden für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf individuelle Unterstützungsangebote benötigt. In Verantwortung der Jugendhilfe ist es, ein stabiles Netz an sozialpädagogischen Hilfen vorzuhalten, um gemeinsam mit den anderen Rechtskreisen berufliche und soziale Teilhabe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu sichern. Die Jugendsozialarbeit bewegt sich im Wesentlichen an den Schnittstellen zur Schule, der Arbeitsförderung sowie im Spannungsfeld der Themen Migration, Wohnen, Inklusion etc. Wenn sie in diesen Spannungsfeldern und an den jeweiligen Schnittstellen wirksam sein soll, muss sie vor Ort ausreichend ausgestattet und konzeptionell gestaltet werden. Das ist in den letzten Jahren vielerorts nicht passiert. „Es ist jedoch zu beobachten, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Jahren fiskalisch wie auch konzeptionell zunehmend aus der Jugendsozialarbeit zurückgezogen hat. Dadurch entstandene Lücken in einer bedarfsgerechten Unterstützung junger Menschen machen eine Neupositionierung und -gewichtung der Jugendsozialarbeit erforderlich.“ (AGJ 2020, 1) Vor dem Hintergrund dieser in der Praxis beobachteten Lücken einer bedarfsgerechten Unterstützung Jugendlicher und junger Erwachsener auf dem Weg in den Beruf haben die Bundesverbände der Jugendsozialarbeit Vorschläge erarbeitet, wie die Jugendsozialarbeit im Kontext der SGB VIII-Reform gesetzlich gestärkt werden kann (Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit 2020). Stärkung der Jugendsozialarbeit durch die SGB VIII-Reform In der Jugendsozialarbeit wird der sehr grundsätzlich formulierte gesetzliche Auftrag und die offene Leistungsbeschreibung ohne konkrete Aufzählung von Leistungsarten im § 13 SGB VIII sehr begrüßt, wenn auch die Formulierungen unter dem Gesichtspunkt eines inklusiven Jugendhilfeauftrages überprüft werden sollten. Die Schwäche der im § 13 SGB VIII geregelten Jugendsozialarbeit wird vorrangig in der unzureichenden Praxisumsetzung gesehen. Insgesamt wünschen sich die Fachkräfte der Jugendsozialarbeit ein reales Mehr an sozialpädagogischen Unterstützungsangeboten nach § 13 (1), an passgenauen, sozialpädagogisch orientierten Berufsausbildungen nach § 13 (2) sowie eine stärkere Nutzung des sozialpädagogisch begleiteten Wohnens für junge Menschen in der Schul- und Berufsausbildung nach § 13 (3). Da die Jugendsozialarbeit als Infrastrukturleistung konzipiert ist, stellt sich die Frage, wie die strukturelle Ausgestaltung vor Ort entwickelt und gesichert werden kann. Nach Auffassung der Bundesverbände der Jugendsozialarbeit ist deshalb eine aktivere und verantwortlichere Rolle 68 uj 2 | 2021 Die Rolle der Jugendsozialarbeit im neuen KJSG des öffentlichen Jugendhilfeträgers bei der Abstimmung und Koordinierung der Angebote der Jugendsozialarbeit mit den angrenzenden Förderangeboten anderer Rechtskreise notwendig. Diese grundsätzlichen Einschätzungen bilden den Hintergrund für die Vorschläge des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit zur Stärkung des Handlungsfeldes der Jugendsozialarbeit im Kontext der SGB VIII-Reform. Zielsetzung dieser Impulse ist es, dass Angebote der Jugendsozialarbeit vor Ort ausreichend vorhanden sind und mit den Fördermaßnahmen anderer Rechtskreise im Übergang Schule und Beruf abgestimmt werden, sodass eine bedarfsgerechte Gesamtplanung erfolgt. Die Jugendsozialarbeit sollte so mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhalten und eine bessere finanzielle Ausstattung erfahren. 1. Vorschlag: Die Lebenssituation Jugendlicher und junger Erwachsener im Jugendhilfeausschuss zum Thema machen Die Lebenssituation junger Menschen im Übergang zwischen Schule und Beruf ist seit der Einführung des SGB II und dem Ausbau der Kindertagesbetreuung und des offenen Ganztages zunehmend aus dem Blick der Jugendhilfeausschüsse geraten. Damit die Lebenslagen Jugendlicher und junger Erwachsener zukünftig gleichwertiger in den Blick genommen werden, sollte bei der gesetzlichen Beschreibung der Aufgaben des Jugendhilfeausschusses unzweifelhaft auch die Beschäftigung mit der Jugendphase aufgelistet werden. Die soziale und berufliche Integration Jugendlicher und junger Erwachsener würde so als Thema in Jugendhilfeausschüssen gesichert. Vorschlag § 71 (neu): Jugendhilfeausschuss, Landesjugendhilfeausschuss … (2) Der Jugendhilfeausschuss befasst sich mit allen Angelegenheiten der Jugendhilfe, insbesondere mit 1. der Erörterung aktueller Problemlagen junger Menschen und ihrer Familien, insbesondere auch Jugendlicher und junger Erwachsener, sowie mit Anregungen und Vorschlägen für die Weiterentwicklung der Jugendhilfe. … Was hieße diese Veränderung für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen? Die Erörterung aktueller Problemlagen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der gesetzlichen Aufgabenbeschreibung des Jugendhilfeausschusses zu verankern, sichert eine breitere öffentliche Wahrnehmung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Im Diskurs über Lebenslagen im Jugendalter kann das gesellschaftliche Verständnis für die Jugend verbessert werden, sodass Jugendliche und junge Erwachsene wieder positiver in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Fachlich fundierte Informationen zu Lebenslagen und Hilfebedarfen in der Jugendphase versachlichen den Diskurs und können einen wichtigen Beitrag zur Teilhabe aller jungen Menschen an Bildung und Ausbildung und zu mehr Respekt und Wertschätzung gegenüber den Jugendlichen leisten. Davon können alle Jugendlichen profitieren. Wie berücksichtigt der Referentenentwurf zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz diesen Vorschlag? Laut Referentenentwurf soll in den § 71 SGB VIII eingefügt werden, dass selbstorganisierte Zusammenschlüsse 1 nach § 4 a (neu) zukünftig als beratende Mitglieder dem Jugendhilfeausschuss 1 Selbstorganisierte Zusammenschlüsse nach diesem Buch sind solche, die sich die Unterstützung, Begleitung und Förderung von AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe zum Ziel gesetzt haben sowie Selbsthilfekontaktstellen. Sie umfassen Selbstvertretungen sowohl innerhalb von Einrichtungen und Institutionen als auch das gesellschaftliche Engagement zur Vertretung eigener Interessen sowie die verschiedenen Formen der Selbsthilfe. 69 uj 2 | 2021 Die Rolle der Jugendsozialarbeit im neuen KJSG angehören (BMFSFJ 2020). Sollte es vor Ort solche selbstorganisierten Zusammenschlüsse geben und betroffene Jugendliche damit zu Wort kommen, stellt dies sicher eine Bereicherung der Debatte im Jugendhilfeausschuss dar. Für das Arbeitsgebiet der Jugendsozialarbeit - als Infrastrukturleistung - wäre allerdings zusätzlich eine faktenbasierte Analyse des Arbeits-, Ausbildungs- und Wohnungsmarktes sowie einer Bildungs- und Jugendhilfestatistik dringend geboten. Der kommunale Fachausschuss würde durch die vorgeschlagene zusätzliche Ergänzung bei den Aufgaben des Jugendhilfeausschusses im § 71 SGB VIII stärker in die Verantwortung genommen, sich aktiv mit der Lebenssituation der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu beschäftigen und damit die Wahrnehmung der Jugend in der Öffentlichkeit positiv zu beeinflussen. 2. Vorschlag: Die Jugendsozialarbeit in der Finanzplanung der Kommunen angemessen berücksichtigen Der regelhafte Einbezug der Jugendsozialarbeit in die Jugendhilfeplanung und eine diesbezüglich angemessene Finanzausstattung sollten gesetzlich gesichert werden. Insbesondere für die Förderung junger Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf am Übergang ist es unabdingbar, Leistungen der Jugendsozialarbeit vorzuhalten und die Förderung nicht ausschließlich dem Jobcenter und der Arbeitsagentur zu überlassen. Um eine Finanzausstattung der Jugendsozialarbeit vor Ort sicherzustellen, sollte im § 79 SGB VIII geregelt werden, dass ein angemessener Anteil der Jugendhilfemittel (auch) für die Jugendsozialarbeit festzuschreiben ist. Vorschlag § 79 (neu): Gesamtverantwortung, Grundausstattung (Absatz 2) neu: … Von den für die Jugendhilfe bereitgestellten Mitteln haben sie einen angemessenen Anteil sowohl für die Jugendarbeit als auch für die Jugendsozialarbeit zu verwenden. … Was hieße diese Veränderung für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen? Wenn − laut Gesetz − ein angemessener Anteil der für die Kinder- und Jugendhilfe bereitgestellten Mittel für die Jugendsozialarbeit zu verwenden ist, dann muss in jedem Fall eine Planung für das Arbeitsfeld der Jugendsozialarbeit erfolgen und fachlich begründet werden. Insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene, die zur Sicherstellung ihrer Teilhabe an Gesellschaft und (Aus-)Bildung auf eine entsprechende Angebotsplanung nach § 13 SGB VIII angewiesen sind, profitieren hier. Mit einer Jugendhilfeplanung, die auf faktenbasierten Analysen von aktuellen Lebenslagen Jugendlicher und junger Erwachsener beruht, können ausreichend sozialpädagogische Hilfen am Übergang von Schule zu Beruf geplant und realisiert werden. Wie berücksichtigt der Referentenentwurf zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz diesen Vorschlag? Im Referentenentwurf wird im § 79 (neu) Satz 2 SGB VIII der Träger der öffentlichen Jugendhilfe aufgefordert, die erforderlichen Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen bedarfsgerecht (mit Verweis auf die Jugendhilfeplanung in § 80) vorzuhalten und für ein entsprechendes Zusammenwirken Sorge zu tragen. Verbindliche Strukturen der Zusammenarbeit sollen aufgebaut und weiterentwickelt werden. Diese Formulierung umfasst sowohl Einrichtungen und Dienste bezogen auf die individuellen Rechtsansprüche im SGB VIII als auch auf die Infrastrukturleistungen. Bisher ist es leider häufig ohne gesetzliche Klärung nicht gelungen, dass verbindliche und umfassende Strukturen der Jugendsozialarbeit vor Ort aufgebaut werden konnten. Dem Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit scheint ein gesetzlicher Auftrag zur fachlich angemessenen Planung und Finanzierung der Jugendsozialarbeit notwendig, um den Aufbau nachhaltiger Strukturen in der Jugendsozialarbeit zu sichern. 70 uj 2 | 2021 Die Rolle der Jugendsozialarbeit im neuen KJSG 3. Vorschlag: Zur Abstimmung der unterschiedlichen Leistungen der Sozialleistungsträger am Übergang Schule - Beruf eine Arbeitsgemeinschaft nach § 78 SGB VIII einrichten Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII werden eingerichtet, um bestehende Förderangebote ggf. zu ergänzen und diese abzustimmen. Insbesondere in der beruflichen Integration gibt es im Kontext der unterschiedlichen Zuständigkeiten der Rechtskreise SGB II, III und VIII viel Abstimmungsbedarf. Eine spezielle Arbeitsgemeinschaft nach § 78 SGB VIII, in der die unterschiedlichen Rechtskreise, aber auch die Praxis vor Ort vertreten sind, sollte über die Verbesserung der Leistungen gemeinsam beraten sowie die rechtskreisspezifischen Angebote, die Schnittstellen, aber auch entstandene Förderlücken im Blick haben. Die Förderangebote sollten fachlich ausgewertet und in ihrer Qualität und Passgenauigkeit weiterentwickelt werden. Die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Trägern der freien Jugendhilfe in dieser Arbeitsgemeinschaft könnte erheblich dazu beitragen, fehlenden Teilhabechancen von jungen Menschen entgegenzuwirken und die Jugendsozialarbeit deutlich spürbar als Handlungsfeld der Jugendhilfe zu etablieren. § 78 (neu eingefügt): Arbeitsgemeinschaften … (2) Kommen bei Leistungsansprüchen der jungen Menschen vergleichbare Leistungen anderer Sozialleistungsträger in Betracht, soll mit der Einrichtung einer Arbeitsgemeinschaft zu Fragen der sozialen und beruflichen Integration (iSd. § 13 SGB VIII) die Qualitätssicherung evaluiert, fachlich ausgewertet und begleitet werden. Was hieße diese Veränderung für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen? In Fragen der sozialen und beruflichen Integration am Übergang von Schule zu Beruf bieten unterschiedliche Sozialleistungsträger Unterstützung an. Die Vielfalt der Förderangebote führt bei Jugendlichen und ihren Familien oft zu Verunsicherungen bei der Wahl der richtigen Hilfe. Die spezielle Arbeitsgemeinschaft kann Transparenz für die Jugendlichen und ihre Familien über die Förderlandschaft schaffen. Trotz zahlreicher, aber meist standardisierter Angebote der Arbeitsförderung fehlen für Jugendliche und junge Erwachsene mit hohem Unterstützungsbedarf oft die passenden und vor allem zeitnahen Hilfen. Notwendige Ergänzungen der Förderangebote sollten hier ausgelotet und deren Realisierung angeregt werden. Gerade Jugendliche, deren Teilhabechancen gefährdet sind, würden von dieser Fachdebatte in einer Arbeitsgemeinschaft nach § 78 SGB VIII profitieren und passgenaue Hilfen erhalten können. Wie berücksichtigt der Referentenentwurf zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz diesen Vorschlag? Im vorliegenden Referentenentwurf wird im § 78 (neu) SGB VIII darauf hingewiesen, dass in den Arbeitsgemeinschaften darauf hingewirkt werden soll, „… dass die geplanten Maßnahmen aufeinander abgestimmt werden, sich gegenseitig ergänzen und in den Lebens- und Wohnbereichen von jungen Menschen und Familien ihren Bedürfnissen, Wünschen und Interessen entsprechend zusammenwirken …“ (BMFSFJ 2020, 31). Allerdings bezieht sich der Referentenentwurf auf die Abstimmung von Maßnahmen innerhalb der Jugendhilfe bezogen auf die Lebens- und Wohnbereiche von jungen Menschen und ihren Familien. Hier fehlt der Blick auf die Lebenssituation Jugendlicher und junger Erwachsener im Kontext der Berufsfindung und -einmündung. Auch geht es hier nicht um die Förderangebote anderer Rechtskreise. Zur Stärkung der Jugendsozialarbeit wäre es wichtig, dass zusätzlich der Ausbildungs- und Arbeitsbereich der jungen Menschen in den Blick genommen wird. Erwähnenswert ist die jetzt im § 78 (neu) SGB VIII 71 uj 2 | 2021 Die Rolle der Jugendsozialarbeit im neuen KJSG geregelte Beteiligung selbstorganisierter Zusammenschlüsse nach § 4 a (neu). Wenn diese Beteiligung vor Ort gelingt, können Förderlücken in Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII auch grundsätzlich aus Betroffenensicht thematisiert werden. Die Beteiligung der Betroffenenorganisationen in allen Arbeitsgemeinschaften ersetzt eine fachliche, rechtskreisübergreifende und Praxis einbindende Diskussion um eine passgenaue Förderstruktur im Übergang Schule - Beruf in einer speziellen Arbeitsgemeinschaft allerdings nicht. In einer umfassenden Begleitung der Förderstruktur durch eine Arbeitsgemeinschaft nach § 78 SGB VIII - vor Ort unter Beteiligung von selbstorganisierten Zusammenschlüssen - läge eine gute Chance, passgenaue und wirksame sozialpädagogische Hilfen zum Ausgleich von fehlenden Teilhabechancen zu initiieren und sicherzustellen. 4. Vorschlag: Eine rechtskreisübergreifende Finanzierung zwischen den Sozialleistungsträgern SGB II, III und VIII sichern Die unterschiedlichen Rechtskreise wenden sich zum Teil an unterschiedliche Jugendliche und junge Erwachsene. So richtet sich das SGB III mit Beratungsleistungen prinzipiell an alle Jugendlichen im Übergang, das SGB II adressiert ausschließlich LeistungsempfängerInnen - Ausnahme ist § 16 h SGB II. Zu beachten ist aber, dass LeistungsempfängerInnen im SGB II und auch MigrantInnen mit entsprechendem Aufenthaltsstatus von den Förderleistungen im SGB III häufig nicht profitieren und ausbildungsbegleitende Förderungen nicht für die Ausbildungen in vollzeitschulischen Berufsausbildungen zugänglich sind. Nur das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist für alle Jugendlichen, die in Deutschland leben, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus und ihrer Lebensunterhaltssicherung zuständig und ermöglicht mit seinen Förderungen gesellschaftliche Teilhabe. In der Praxis wäre es hilfreich und inklusiv gedacht, wenn alle ratsuchenden Jugendlichen im Übergang Schule - Beruf (z. B. in Jugendberufsagenturen) an den Förderangeboten teilhaben könnten und die Teilhabe nicht ausschließlich für die vom Rechtskreis adressierten Jugendlichen erfolgen müsste. Die große Heterogenität der Jugendlichen in allen Rechtskreisen scheint Anlass genug, eine gemeinsame Finanzierung vorzuschlagen, sodass der Zugang aller zu einem entsprechenden Förderangebot sichergestellt werden kann. Zudem wäre auch denkbar, ergänzende Aspekte der Förderung, wie es z. B. eine intensive sozialpädagogische Begleitung der Jugendhilfe darstellt, in eine arbeitsmarktorientierte Förderung des SGB II oder III zu integrieren und in das Gesamtkonzept einzufügen. Eine rechtskreisübergreifende Förderung der jungen Menschen könnte nachhaltiger wirken, wenn sich die unterschiedlichen Sozialleistungsträger an den Förderangeboten des jeweils anderen beteiligen könnten. Im Rahmen der rechtskreisübergreifenden Zusammenarbeit, insbesondere in Jugendberufsagenturen, sollten Möglichkeiten der gemeinsamen Finanzierung von Förderangeboten geschaffen werden, um endlich Hilfen aus einer Hand zu schaffen. Im Rahmen der gesetzlichen Regelungen ist das zurzeit leider nicht möglich. Hier kommt es in den wenigen Realisierungen gemeinsamer Förderplanungen in der Regel zu additiven Finanzierungen von zwei Förderungen, die im Zweifelsfall von unterschiedlichen Trägern durchgeführt werden und eine ganzheitliche Förderung der Jugendlichen unmöglich machen. Um Möglichkeiten der gemeinsamen Finanzierung zu schaffen, müsste im SGB VIII eine gesetzliche Klarstellung vorgenommen und in den Sozialgesetzbüchern II und III jeweils eine neue gesetzliche Grundlage geschaffen werden, sodass in allen drei Sozialgesetzbüchern eine klare Rechtsregelung erfolgt. 72 uj 2 | 2021 Die Rolle der Jugendsozialarbeit im neuen KJSG Dem jeweiligen Sozialleistungsträger sollte damit erlaubt werden, sich an Fördermaßnahmen anderer Sozialleistungsträger finanziell dann zu beteiligen, wenn zusätzlich auch Jugendliche aus dem jeweils anderen Rechtskreis in die Förderung einbezogen werden oder wenn auf diesem Wege notwendige ergänzende Förderelemente hinzutreten können. So kann die berufliche und soziale Teilhabe junger Menschen gemeinsam ermöglicht werden. Im SGB VIII wird die Möglichkeit der finanziellen Beteiligung bei rechtskreisübergreifend konzipierten Fördermaßnahmen für integrationsgefährdete Jugendliche eingefügt. Gleichzeitig wird in den Sozialgesetzbüchern II und III eine analoge gesetzliche Grundlage für eine gemeinsame Finanzierung von ganzheitlich ausgerichteten Förderangeboten für Jugendliche im Kontext rechtskreisübergreifender Kooperationen, wie z. B. Jugendberufsagenturen, geschaffen. Alle drei neuen Gesetzeseinschübe sollen sich aufeinander beziehen. Was hieße diese Veränderung für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen? Wenn gemeinsame Förderungen mehrerer Rechtskreise wie vorgeschlagen konzipiert und finanziert werden, könnten die ratsuchenden Jugendlichen im Übergang von Schule zu Beruf (z. B. in Jugendberufsagenturen) an diesen Förderangeboten teilhaben, ohne dass als Teilnahmebedingung der Migrationshintergrund, Aufenthaltsstatus, Reha-Status oder die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft geprüft werden müssten. Die Finanzierungsströme würden im Hintergrund geregelt, für die Jugendlichen wäre der finanzierende Rechtskreis nicht ausschlaggebend für die Förderleistung. Im Gegensatz zu additiven Förderleistungen, die im Zweifelsfall von zwei Trägern durchgeführt werden, wären auf diesem Weg Hilfen aus einer Hand für die jeweiligen Jugendlichen realisierbar. Was sagt der Referentenentwurf zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz dazu? Hierzu gibt es im vorgelegten Referentenentwurf keinerlei Regelungen. Leider sind die vom Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit vorgelegten Vorschläge zur Stärkung der Jugendsozialarbeit in der rechtskreisübergreifenden Förderung am Übergang von der Schule in den Beruf vom vorgelegten Referentenentwurf nicht aufgenommen worden. Es sind einige Veränderungen im SGB VIII vorgeschlagen, die sich positiv auf Transparenz und öffentlichen Diskurs auswirken können. Eine strukturelle und finanzielle Stärkung der Jugendsozialarbeit ist bisher im Entwurf zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz jedoch nicht vorgesehen. Insgesamt stärkt der Referentenentwurf junge Menschen in der Wahrnehmung ihrer Interessen durch die Beteiligung von selbstorganisierten Zusammenschlüssen, aber auch durch das Einrichten von unabhängigen Ombudsstellen. Jugendliche und junge Erwachsene werden über ihre Zusammenschlüsse zukünftig Gelegenheiten haben, sich in den Gremien zu beteiligen und sich damit mehr Gehör für ihre Lebenslagen zu verschaffen. Innerhalb der Jugendhilfelandschaft sollen Jugendliche zukünftig in Konfliktsituationen in eigens dafür eingerichteten Ombudsstellen professionelle Hilfe und Unterstützung erhalten. Damit wird eine wünschenswerte Verbesserung der Partizipation von jungen Menschen in der Jugendhilfe angestoßen und Beschwerdemöglichkeiten innerhalb der Strukturen der Jugendhilfe geschaffen. Der Referentenentwurf schenkt den Schnittstellen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe besondere Aufmerksamkeit. Zur besseren Kooperation soll ein „Verfahrenslotse“ eingeführt werden, der als eine verbindliche Ansprechperson im Jugendamt Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Be- 73 uj 2 | 2021 Die Rolle der Jugendsozialarbeit im neuen KJSG hinderungen durch das gesamte Verfahren begleiten und ihre Rechte wahrnehmen soll. Die Erfahrungen bei der Förderung von Jugendlichen, die zur Sicherung ihrer Teilhabe in der Ausbildung auf große Unterstützung angewiesen sind, zeigen schon heute, dass das Wirken mehrerer Sozialgesetzbücher sich nicht von alleine steuert. Wenn mehrere Rechtskreise zusammenwirken, sollte immer ein Lotse zur Koordination der Hilfeleistungen zur Verfügung stehen. Aber nur ein unabhängiger Lotse kann die Zielsetzungen der Rechtskreise und Unterschiedlichkeiten der Förderangebote abwägen helfen und die Betroffenen beraten, wie sie ihre Interessen am besten umsetzen können. Es ist zu begrüßen, dass Jugendliche in ihren selbstorganisierten Zusammenschlüssen stärker wahrgenommen und einbezogen werden. Bedauerlich ist, dass die Jugendsozialarbeit im Referentenentwurf eine zu wenig beachtete Disziplin der Kinder- und Jugendhilfe bleibt. Birgit Beierling Referentin für Jugendsozialarbeit Abteilung Soziale Arbeit Der Paritätische Gesamtverband Oranienburger Str. 13 - 14 10178 Berlin E-Mail: jsa@paritaet.org Literatur Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) (2018): Wer passt hier nicht zu wem? Sozial benachteiligte und individuell beeinträchtigte junge Menschen und die Förderangebote im Übergang Schule - Beruf. Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ. In: https: / / www.agj. de/ fileadmin/ files/ positionen/ 2018/ Wer_passt_hier_ nicht_zu_wem__003_.pdf, 17. 11. 2020 AGJ (2020): Jugendsozialarbeit in Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe. Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ. In: https: / / www.agj.de/ fileadmin/ files/ positionen/ 20 20/ Jugendsozialarbeit_in_Verantwortung_der_Kin der-_und_Jugendhilfe.pdf, 17. 11. 2020 Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2016): Zwischen Freiräumen, Familie, Ganztagsschule und virtuellen Welten − Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsanspruch im Jugendalter. 15. Kinder- und Jugendbericht - BT-Drs. 18/ 11050. In: www.bmfsfj.de/ blob/ jump/ 115438/ 15kinder-und-jugendbericht-bundestagsdrucksachedata.pdf, 17. 11. 2020 BMFSFJ (Hrsg.) (2020): Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz − KJSG). Bearbeitungsstand: 5. 10. 2020. In: https: / / www.der-paritaetische.de/ fach info/ kinder-und-jugendstaerkungsgesetz-referenten entwurf-zur-reform-des-sgb-viii-vom-bmfsj-veroeffent lic/ , 16. 11. 2020 Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit (2019): Ansätze und Überlegungen aus Sicht des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit für eine Reform des SGB VIII. Beitrag zum Dialogforum „Modernisierung der Kinder- und Jugendhilfe“. In: https: / / jugendsozial arbeit.de/ wp-content/ uploads/ 2019/ 02/ FinalKommentierung_SGB-VII_Reformbedarf_KV_JSA_2019_ 02_08.pdf, 17. 11. 2020 Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit (2020): Impulse für die bevorstehende SGB VIII-Reform aus Sicht der rechtskreisübergreifenden Förderung am Übergang von der Schule in den Beruf. In: https: / / jugend sozialarbeit.de/ wp-content/ uploads/ 2020/ 06/ Final_ Zwischenruf_SGB_VIII_Reform_rkue_18_06_200. pdf, 17. 11. 2020