unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG)
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Jan Kepert
Im Folgenden wird aus rein juristischer Sicht eine Bewertung einiger mit dem KJSG beabsichtigter Neuregelungen im SGB VIII vorgenommen. Die Betrachtung konzentriert sich dabei auf die Themenfelder Inklusion, Beteiligung der Kinder und Eltern sowie Kinderschutz. Während die Neuregelungen im Bereich der Inklusion und der stärkeren Beteiligung der Eltern und Kinder grundsätzlich sehr zu begrüßen sind, besteht nach hiesiger Auffassung im Bereich des Kinderschutzes dringender gesetzlicher Änderungsbedarf, welcher mit dem Referentenentwurf nicht aufgegriffen wird.
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87 unsere jugend, 73. Jg., S. 87 - 94 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art16d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Jan Kepert Professor für Öffentliches Recht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl Nähere Angaben zum Autor und Hinweise zu Rechtsberatungs- und Fortbildungsangeboten unter https: / / www.kepert-sgbviii.de/ Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG) Anmerkungen aus Sicht der Rechtswissenschaft Im Folgenden wird aus rein juristischer Sicht eine Bewertung einiger mit dem KJSG beabsichtigter Neuregelungen im SGB VIII vorgenommen. Die Betrachtung konzentriert sich dabei auf die Themenfelder Inklusion, Beteiligung der Kinder und Eltern sowie Kinderschutz. Während die Neuregelungen im Bereich der Inklusion und der stärkeren Beteiligung der Eltern und Kinder grundsätzlich sehr zu begrüßen sind, besteht nach hiesiger Auffassung im Bereich des Kinderschutzes dringender gesetzlicher Änderungsbedarf, welcher mit dem Referentenentwurf nicht aufgegriffen wird. 1. Das „3-Phasen-Modell“ zur Umsetzung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe 1.1 Inklusive Lösung im Sinne einer Eingliederungshilfe für alle Kinder und Jugendlichen Regelungen zur Umsetzung der inklusiven Jugendhilfe sind insbesondere in Art. 1 des KJSG (§ 10 Abs. 4 S 3 SGB VIII), in Art. 8 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 sowie in Art. 9 KJSG enthalten. Die inklusive Ausrichtung des SGB VIII soll dabei in drei Stufen verfolgt werden. Mit Inkrafttreten der überwiegenden Neuregelungen soll auf der 1. Stufe sofort der Leitgedanke der Inklusion in mehreren Regelungen verankert werden. So soll zunächst die Zielbestimmung des § 1 SGB VIII um die Aspekte einer selbstbestimmten und gleichberechtigten Teilhabe ergänzt werden. Allerdings soll auch teilweise das Leistungsrecht inklusiv ausgestaltet werden. So soll § 11 SGB VIII geändert werden, um die „Zugänglichkeit und Nutzbarkeit“ der Leistungen des § 11 SGBVIII unter Berücksichtigung spezifischer behinderungsbedingter Bedarfe zu sichern (Referentenentwurf KJSG, 90, Stand 5. 10. 2020). Mit Neuregelungen in § 22 und § 22 a SGB VIII soll die inklusive Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege festgeschrieben werden. Mit §§ 36ff SGB VIII soll eine fallbezogene Zusammenarbeit verschiedener Träger (insbesondere auch der Rehabilitationsträger) normiert werden. 88 uj 2 | 2021 Der KJSG-Referentenentwurf aus juristischer Sicht Mit der 2. Stufe soll mit Wirkung zum 1. Januar 2024 ein „Verfahrenslotse“ in § 10 b SGB VIII implementiert werden. Mit der 3. Stufe mit Wirkung zum 1. Januar 2028 soll dann die vorrangige Zuständigkeit der Jugendhilfe für die Leistungen der Eingliederungshilfe aller Kinder und Jugendlichen festgeschrieben werden. Dies wird auch auf junge Volljährige nach § 41 SGB VIII Auswirkungen haben. Die Regelung zum „Verfahrenslotsen“ soll dann wieder außer Kraft treten (s. hierzu Art. 9 Referentenentwurf KJSG, Stand 5. 10. 2020). Bei dieser „inklusiven Lösung“ mit Wirkung zum 1. Januar 2028 geht es zunächst einmal um die Zusammenführung der Eingliederungshilfe für körperlich, geistig und seelisch behinderte Kinder und Jugendliche unter dem Dach des SGB VIII. Ebenfalls erfasst bleiben sollen Leistungen im Falle einer drohenden Behinderung. An der dringenden Notwendigkeit einer Zusammenführung der Eingliederungshilfeleistungen für alle Kinder und Jugendlichen lässt sich nach hiesiger Auffassung nicht zweifeln. Eine reine „Bereinigung der Schnittstellenproblematik“ bei Beibehaltung unterschiedlicher Zuständigkeiten verschiedener Rehabilitationsträger ist zur Herstellung einer gleichberechtigten Teilhabe nicht tauglich. Weder Regelungen zum Vorrang-/ Nachrangverhältnis in § 10 SGB VIII noch verfahrensrechtliche und materielle Regelungen im SGB IX (§§ 14ff SGB IX; §§ 25ff SGB IX usw.) können die de lege lata bestehenden „Verschiebebahnhöfe“ und „schwarzen Löcher“, die zulasten der jungen Menschen wirken, beseitigen. Nur eine einheitliche Anspruchsgrundlage gegenüber einem feststehenden Sozialleistungsträger kann einen uneingeschränkten Zugang zu gleichberechtigter Teilhabe sichern. 1.2 Inklusive Lösung im Sinne einer Zusammenführung erzieherischer und behinderungsbedingter Bedarfe Obgleich sich dies dem Gesetzestext des KJSG bisher nicht entnehmen lässt, sollen die beabsichtigten Rechtsänderungen zum 1. Januar 2028 wohl über eine Zusammenführung der Eingliederungshilfe im SGB VIII hinausgehen. Zusätzlich zur Zusammenführung der Eingliederungshilfe unter dem Dach des SGB VIII geht es dem Gesetzgeber augenscheinlich auch um eine Neuregelung der de lege lata getrennten Leistungen zur Deckung eines „erzieherischen Bedarfs“ und der Leistungen in Bezug auf einen „behinderungsbedingten Bedarf “. Die bisherige „Kategorisierung“ von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und solchen ohne Behinderung soll wohl aufgegeben werden. Künftig sollen alle Leistungen des SGB VIII „an einer Inklusionsperspektive“ ausgerichtet werden (Referentenentwurf KJSG, 52f, Stand 5. 10. 2020). Nach den beabsichtigten Neuregelungen in Art. 1 des KJSG (§ 10 Abs. 4 S 3 SGB VIII) in Art. 8 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 sowie in Art. 9 KJSG sollen die Rechtsänderungen nach Erlass eines weiteren Bundesgesetzes zum 1. Januar 2028 in Kraft treten. Durch die Rechtsänderungen aufgrund Inkrafttretens des KJSG wird es damit noch nicht unmittelbar zur Umsetzung des inklusiven Leistungsrechts im skizzierten Sinne kommen. 2. Ein einheitlicher Leistungstatbestand? Hinsichtlich des Aspekts einer Aufgabe der Trennung von erzieherischen und behinderungsbedingten Bedarfen ist die im Jahr 2017 mit dem KJSG-Entwurf beabsichtigte Schaffung eines gemeinsamen Leistungstatbestandes in den Blick zu nehmen. Mittels einer Neuregelung in § 27 SGB VIII sollte eine Anspruchsgrundlage für „Leistungen zur Entwicklung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche“ geschaffen werden (Arbeitsentwurf vom 23. 8. 2016 für ein Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen). 89 uj 2 | 2021 Der KJSG-Referentenentwurf aus juristischer Sicht Eine solche gemeinsame Regelung in einem Leistungstatbestand ist kritisch zu hinterfragen. Zunächst ist festzustellen, dass mit dem dargestellten Gesetzesentwurf aus dem Jahr 2016 unter der Überschrift „Leistungen zur Entwicklung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche“ nur scheinbar ein gemeinsamer Leistungstatbestand vorgegeben wurde. Während die bisherige Hilfe zur Erziehung in § 27 Abs. 2 neu geregelt werden sollte, war eine Normierung der Eingliederungshilfe in § 27 Abs. 3 beabsichtigt. Die Verortung der jeweiligen Leistung sollte damit in unterschiedlichen Absätzen mit unterschiedlichen Tatbestandsvoraussetzungen und unterschiedlichen Rechtsfolgen erfolgen (ausführlich hierzu Kepert 2018, 16). Im Zuge einer künftigen Neuregelung ist nach hiesiger Auffassung zu berücksichtigen, dass zwischen einer Hilfe zur Erziehung und einer Eingliederungshilfe rechtlich nicht unerhebliche Unterschiede bestehen. Die Eingliederungshilfe setzt das Vorliegen einer (drohenden) Behinderung auf Tatbestandsseite voraus. Die Hilfe zur Erziehung knüpft hingegen an das Vorliegen eines Erziehungsdefizits, welches in seiner rechtlichen Ausformung von dem Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG bestimmt wird, an. Wiesner ist daher in seinem Befund zuzustimmen, dass nicht unerhebliche rechtliche Schwierigkeiten damit verbunden sind, die Systeme der Hilfe zur Erziehung und der Eingliederungshilfe zusammenzuführen. Auch ist ihm in der Feststellung beizupflichten, dass Teilhabe für behinderte Kinder und Jugendliche rechtlich etwas anderes bedeuten kann als Teilhabe für nicht behinderte junge Menschen (Wiesner 2017, 4f ). Jedenfalls ist die wohl beabsichtigte Ausgestaltung eines einheitlichen Leistungstatbestandes kritisch zu begleiten. Mit der mit dem KJSG in den Jahren 2016/ 2017 vorgeschlagenen Neuregelung sollte der Rechtsanspruch auf die Hilfe (bzw. Leistung) von dem kumulativen Vorliegen zweier Tatbestandsvoraussetzungen abhängig gemacht werden. Während es de lege lata gem. § 27 Abs. 1 SGB VIII auf Tatbestandsseite ausreichend ist, dass ein Erziehungsdefizit gegeben und die jeweilige Hilfe geeignet und notwendig ist (ausführlich hierzu Kunkel/ Kepert in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 27 Rn. 1ff ), sollte mit der Neuregelung die zusätzliche Tatbestandsvoraussetzung der Nichtgewährleistung von Teilhabe verankert werden. Damit sollte eine bisher nicht erforderliche zusätzliche Tatbestandsvoraussetzung normiert werden, für die zudem keine Definition im SGB VIII vorgesehen war. Mit dieser Neuregelung wäre nach hiesiger Auffassung nicht unerhebliche Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Frage verbunden gewesen, was unter einer Teilhabebeeinträchtigung nicht behinderter Kinder und Jugendlicher zu verstehen ist. Auch diesbezüglich ist mit Wiesner zu betonen, dass eine Teilhabebeeinträchtigung eines behinderten Kindes regelmäßig durch eine fehlende Fähigkeit des Kindes zur Teilhabe gekennzeichnet ist. Bei einem nicht behinderten Kind kann selbstverständlich eine mangelnde Teilhabe auch auf einer fehlenden Fähigkeit zur Teilhabe aufgrund eines entstandenen Defizits beim Kind beruhen. Allerdings geht es hier insbesondere auch um die Frage, ob überhaupt ein Wille zur Teilhabe an bestimmten gesellschaftlichen Angeboten besteht. In diesem Kontext kommt dem Recht der Eltern auf Erziehung nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, welches auch eine Entscheidung über Art und Weise der Teilhabe beinhaltet, entscheidende Bedeutung zu (s. hierzu auch Wiesner 2017, 4). Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass eine unbestimmte Anspruchsgrundlage - so wie sie nach hiesiger Auffassung mit § 27 Abs. 2 der Arbeitsfassung im Jahr 2016/ 2017 vorgelegt worden ist - zum Nachteile des anspruchsberechtigten Bürgers wirken kann. Bei Beantragung eines begünstigenden Verwaltungsaktes geht eine Ungewissheit über das Vorliegen einer anspruchsbegründenden Tatbestandsvoraussetzung zulasten des den Verwaltungsakt fordernden Bürgers (s. hierzu Kallerhoff in Stelkens/ Bonk/ Sachs, 2018, § 24 VwVfG Rn 55 mwN). Neuregelungen sind daher unter diesem Aspekt kritisch zu hinterfragen. 90 uj 2 | 2021 Der KJSG-Referentenentwurf aus juristischer Sicht 3. Der Behinderungsbegriff Bei der Normierung des Behinderungsbegriffs im Zuge der mit Wirkung zum 1. Januar 2028 anvisierten Neuregelungen im SGB VIII wird vermutlich eine Harmonisierung der Begriffsbestimmungen mit den durch das Bundesteilhabegesetz eingetretenen Rechtsänderungen und Legaldefinitionen erforderlich werden. So differiert insbesondere der durch das Bundesteilhabegesetz neu in § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX normierte Behinderungsbegriff von der bisherigen Begriffsbestimmung in § 35 a Abs. 1 SGBVIII. Bei der Neubestimmung des Begriffs der Behinderung in § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX handelt es sich nach hier vertretener Auffassung entgegen der Einschätzung des Gesetzgebers nicht lediglich um eine „deklaratorische Anpassung“ an die UN-BRK (s. hierzu BT-Drs. 18/ 9522, 227). Vielmehr wird insbesondere der zweite Teil des zweigliedrigen Behindertenbegriffs neu bestimmt. Während nach alter Rechtslage auf die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft abgestellt worden ist, wird nunmehr zur Definition der Behinderung an die Wechselwirkungen zwischen einstellungs- und umweltbedingter Barrieren und der Hinderung an gleichberechtigter Teilhabe an der Gesellschaft angeknüpft. Diese Rechtsänderung wirkt nach hiesiger Auffassung nicht lediglich „deklaratorisch“. Mit dem Bundesteilhabegesetz wird zum 1. Januar 2023 in § 99 SGB IX eine Regelung für den leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe in Abweichung von dem„übergeordneten“ Behinderungsbegriff des § 2 SGB IX getroffen werden. Damit wird eine Spezifizierung des Behinderungsbegriffs als Zugangsvoraussetzung erfolgen (BT-Drs. 18/ 9522, 275). Nach Art. 26 Abs. 5 des Bundesteilhabegesetzes tritt die Neuregelung in § 99 SGB IX allerdings erst zum 1. Januar 2023 in Kraft, wenn bis dahin das Bundesgesetz nach § 99 Abs. 7 SGB IX verkündet wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt gilt für den leistungsberechtigten Personenkreis der Verweis auf § 53 SGB XII in der am 31. 12. 2019 geltenden Fassung. Sowohl § 53 SGB XII in der bisherigen Fassung als auch § 99 SGB IX in der mit dem BTHG ab dem 1. Januar 2023 intendierten Fassung stellen auf das Kriterium der Wesentlichkeit ab. Danach liegt eine Behinderung nur bei einer wesentlichen Teilhabebeeinträchtigung vor. Nach der ursprünglichen Vorgabe des Bundesteilhabegesetzes zu § 99 SGB IX würde der Leistungszugang nach hiesiger Auffassung künftig deutlich erschwert werden. Für einen Leistungszugang wäre es erforderlich, dass die Teilhabe in fünf Lebensbereichen ohne Unterstützung nicht möglich ist. Nur wenn auch mit Unterstützung „die Ausführung von Aktivitäten“ nicht möglich ist, würde es ausreichen, wenn die Ausführung von Aktivitäten in mindestens drei Lebensbereichen überhaupt nicht mehr möglich ist (BT-Drs. 18/ 9522, 276). Bei Nichtvorliegen dieser hohen Voraussetzungen würde nach § 99 Abs. 2 SGB IX in der zunächst ab 1. Januar 2023 beabsichtigten Fassung lediglich die Möglichkeit bestehen, nach Ermessen Leistungen der Eingliederungshilfe zu erhalten. Damit unterscheidet sich die Rechtslage im Eingliederungshilferecht nach dem SGB IX deutlich von der bisherigen Rechtslage nach § 35 a SGB VIII (s. hierzu auch BT-Drs. 19/ 4500, 87). In § 35 a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII wird auf das Kriterium der Wesentlichkeit verzichtet. Für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung der Teilhabebeeinträchtigung genügt es, wenn sich das Abweichen der seelischen Gesundheit auswirkt. Obgleich vielfach von Jugendämtern in der Verwaltungspraxis eine Teilhabebeeinträchtigung in mehreren Lebensbereichen gefordert wird, ist nach überwiegender Auffassung die Beeinträchtigung in einem einzigen Lebensbereich ausreichend. Allerdings muss die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sein, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt. Es muss damit auch für eine Leistungsgewährung nach § 35 a SGB VIII eine bestimmte Erheblichkeitsschwelle überschritten werden (s. hierzu m. w. N. Kepert/ Dexheimer in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 35 a Rn. 19). Dennoch werden mit § 35 a SGB VIII deutlich niedrigere Zugangsvoraussetzungen als mit der beab- 91 uj 2 | 2021 Der KJSG-Referentenentwurf aus juristischer Sicht sichtigten Neuregelung in § 99 SGB IX normiert. Dies erscheint sachgerecht. Schließlich geht es um die noch nicht abgeschlossene Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Bei einer Neuregelung der Eingliederungshilfe im SGB VIII wird daher darauf zu achten sein, welchen Regelungsinhalt § 99 SGB IX bis dahin aufweisen wird. Mittlerweile gibt es nicht unerhebliche Kritik an der mit dem Bundesteilhabegesetz zunächst intendierten Fassung des § 99 SGB IX. Es bleibt daher abzuwarten, welche Fassung § 99 SGB IX aufweisen wird (s. hierzu BMAS 2018/ 2019). Sollte es aber bei der mit dem Bundesteilhabegesetz intendierten Fassung des § 99 SGB IX bleiben oder sollten jedenfalls keine substanziellen Änderungen erfolgen, wird für das jugendhilferechtliche Eingliederungsrecht darauf zu achten sein, dass eine von § 99 SGB IX abweichende Regelung Eingang in den Gesetzestext findet. 4. Die Entwicklung eines einheitlichen Leistungskatalogs für junge Menschen mit und ohne Behinderung Bereits nach geltender Rechtslage ist es möglich, dass Hilfe zur Erziehung und Eingliederungshilfe zusammen erbracht werden (s. hierzu Kepert/ Dexheimer in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 35 a Rn. 25). Für die Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII folgt dies bereits aus § 35 a Abs. 4 SGB VIII. Die Leistungserbringung soll dann im Sinne einer „ganzheitlichen Betreuung“ erfolgen (ebd., § 35 a Rn. 69). Nichts anderes gilt für die gemeinsame Leistungserbringung von Eingliederungshilfe für körperlich oder geistig behinderte junge Menschen und Hilfe zu Erziehung. Das Leistungsrecht im SGB VIII setzt auf Tatbestandsseite eine Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung voraus, mit welcher die passgenaue Leistung im Hinblick auf den individuellen Bedarf zu bestimmen ist. Dabei muss insbesondere dem Grundsatz des Untermaßverbots genügt werden. Es muss die Leistung bewilligt werden, die tatsächlich wirksam und bedarfsdeckend ist (s. hierzu Kunkel/ Kepert in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 27 Rn. 10: Eine Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung ist bei § 19, § 27, § 35 a und § 41 geschuldet). Bereits nach geltender Rechtslage - und damit weit vor Inkrafttreten der Neuregelungen auf 3. Stufe im Jahr 2028 - ist daher eine Förderung des jungen Menschen mittels einer gleichzeitigen Erbringung von erzieherischen und behinderungsbedingten Bedarfen möglich und im Einzelfall rechtlich zwingend vorgegeben. Die Schaffung eines einheitlichen Leistungskatalogs, welcher über die bisher in § 35 a Abs. 4 SGB VIII enthaltene Regelung hinausgeht, könnte sehr hilfreich sein, um die skizzierten Rechtsgrundsätze, welche eine gemeinsame Leistungserbringung vorsehen, in der Verwaltungspraxis flächendeckend einlösen zu können. In Übereinstimmung mit den Ausführungen des BMFSFJ in der Gesetzesbegründung zum KJSG ist zu betonen, dass behinderungsbedingte Bedarfe von Kindern und Jugendlichen im Regelfall „im Kontext des familialen und sozialen Beziehungs- und Erziehungssystems“ eingebettet sind. Ebenso wie ein Ausfall an Erziehungsleistung zu einer behinderungsbedingten Teilhabebeeinträchtigung führen kann, kann auch ein „(besonderer) erzieherischer Bedarf dadurch entstehen, dass ein Kind/ Jugendlicher eine (drohende) Behinderung aufweist“ (s. hierzu Referentenentwurf KJSG, 54, Stand 5. 10. 2020). Um sicherzustellen, dass in einer solchen Situation dem erzieherischen und dem behinderungsbedingten Bedarf in einer das Untermaßverbot wahrenden Art und Weise Genüge getan wird, könnte ein einheitlicher Leistungskatalog hilfreich sein. 5. (Inklusive) Hilfeplanung und Elternarbeit Nach der mit § 36 Abs. 3 S. 2 SGB VIII intendierten Neuregelung sollen, soweit dies zur Feststellung des Bedarfs, der zu gewährenden Art 92 uj 2 | 2021 Der KJSG-Referentenentwurf aus juristischer Sicht der Hilfe oder der notwendigen Leistungen nach Inhalt, Umfang und Dauer erforderlich ist, insbesondere auch andere Sozialleistungsträger, Rehabilitationsträger oder öffentliche Stellen sowie die Schule beteiligt werden (Referentenentwurf KJSG, 20, Stand 5. 10. 2020). Damit soll die de lege lata in § 36 Abs. 2 S. 4 SGB VIII geregelte Beteiligung der Arbeitsverwaltung für Maßnahmen der beruflichen Eingliederung auf alle Sozialleistungsträger nach § 12 SGB I sowie Rehabilitationsträger und andere öffentliche Stellen erweitert werden. Mit der Neuregelung wird eine erhebliche Prüfungs- und Koordinierungsverantwortung für das Jugendamt festgeschrieben. Um dieser Verantwortung gerecht werden zu können, bedarf es aufseiten des Jugendamtes einer umfassenden Expertise hinsichtlich der bestehenden Gesamtleistungssysteme und der Zuständigkeiten. Ferner wird sich bei Inkrafttreten der Neuregelung die Frage in verstärkter Weise stellen, welche Leistungserbringer zusätzlich am Hilfeplanverfahren zu beteiligen sind. De lege lata bestimmt § 36 Abs. 2 S. 3 SGB VIII, dass Personen, Dienste oder Einrichtungen, die bei der Durchführung der Hilfe tätig werden, an der Aufstellung des Hilfeplans und seiner Überprüfung zu beteiligen sind. So könnte es angezeigt sein, bei unmittelbar bevorstehenden Zuständigkeitsübergängen eine Beteiligung des neuen Leistungserbringers zu initiieren. Dies wird auch Auswirkungen auf die Beratungspflicht nach § 36 Abs. 1 SGB VIII haben. Mit § 36 b SGB VIII soll eine Neuregelung geschaffen werden, welche eine rechtzeitige Einbindung anderer Sozialleistungsträger in die Hilfeplanung vorgibt. Hiermit soll bei einem Zuständigkeitsübergang vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe auf andere Sozialleistungsträger eine Kontinuität bei der weiteren Leistungserbringung gesichert werden. Nach der Gesetzesbegründung wird damit in Bezug auf Rehabilitationsleistungen § 25 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX konkretisiert (s. hierzu Referentenentwurf KJSG, 99, Stand 5. 10. 2020). Zudem sind Ergebnisse einer Teilhabeplanung im Hilfeplanverfahren zu berücksichtigen. Die bereits nach geltender Rechtslage zwingende Verschränkung von Teilhabe- und Hilfeplan wird damit gestärkt. Nach § 36 b Abs. 3 SGB VIII soll bei einem zu erwartenden Zuständigkeitsübergang auf den Träger der Eingliederungshilfe eine entsprechende Einbindung in die Hilfeplanung bereits ein Jahr vor dem anstehenden Zuständigkeitsübergang erfolgen. Spätestens sechs Monate vor dem voraussichtlichen Zuständigkeitsübergang hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe eine gemeinsame Konferenz zur Übergangsplanung durchzuführen. Dabei sind die Ergebnisse einer Teilhabeplanung zu berücksichtigen. Im Rahmen dieser Übergangsplanung haben der Träger der öffentlichen Jugendhilfe und der Träger der Eingliederungshilfe gemeinsam zu prüfen, welche Leistung nach dem Zuständigkeitsübergang dem Bedarf des jungen Menschen entspricht. Infolge der beabsichtigten Neuregelungen werden den Jugendämtern weitergehende Verpflichtungen bei der Hilfeplanung auferlegt werden. Das Jugendamt muss bereits auf der Stufe der Hilfeplanung prüfen, ob auch andere Institutionen (Sozialleistungsträger, Rehabilitationsträger, sonstige Dritte [insbesondere die Schule]) Leistungen zu erbringen haben. Insbesondere erhalten die im SGB IX enthaltenen Regelungen zur verpflichtenden Zusammenarbeit verschiedener Rehabilitationsträger einen gesteigerten Grad an Verbindlichkeit. Das Jugendamt muss mit den Neuregelungen aufgrund von gesetzlichen Verpflichtungen, die sich direkt aus dem Hilfeplanverfahren nach dem SGB VIII ergeben, sicherstellen, dass Dritte rechtzeitig in die Hilfeplanung einbezogen und Zuständigkeitsübergänge geplant werden. Damit kann vermieden werden, dass Leistungslücken entstehen und insbesondere ein Zuständigkeitsstreit auf dem Rücken des jungen Menschen ausgetragen wird. 93 uj 2 | 2021 Der KJSG-Referentenentwurf aus juristischer Sicht Allerdings ist auch zu betonen, dass die Wertigkeit, welche einerseits dem Hilfeplanverfahren zugesprochen wird („Motor des Leistungsrechts“ bzw.„Herzstück der Hilfeplanung“) und andererseits die rechtlich schwache Ausgestaltung des Hilfeplanverfahrens kaum zu vereinbaren sind. Die durch Dauerverwaltungsakt zu bewilligende Leistung nach §§ 27ff SGB VIII, § 35 a SGB VIII und § 41 SGB VIII ist im Sinne eines dynamischen Prozesses durch das Hilfeplanverfahren fortlaufend zu begleiten und zu überprüfen. Insbesondere für die (personensorgeberechtigten) Eltern und das Kind ist das Hilfeplanverfahren unter Transparenzgesichtspunkten von zentraler Bedeutung (Kunkel/ Kepert in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 36 Rn. 1 und 36). Obgleich § 36 Abs. 2 S. 2 SGB VIII mittels einer Soll-Vorschrift eine Pflicht zur Aufstellung eines Hilfeplans im Regelfall aufgibt, ist die Hilfeplanpflicht de lege lata lediglich als formelle Voraussetzung ausgestaltet, welche die Begründungspflicht nach §35 SGB X ergänzt (s. hierzu ebd., § 36 Rn. 48; aA Schmid-Obkirchner in Wiesner 2017, § 36 Rn. 79). Nach der Rspr. des BVerwG kann ein Verstoß gegen die Hilfeplanungspflicht daher folgenlos bleiben (BVerwG, Urt. v. 24. 6. 1999, 5 C 24/ 98, juris Rn. 39; BVerwG, Urt. v. 9. 12. 2014 - 5 C 32/ 13, juris Rn. 30). Die rechtliche Stellung der Eltern und des Kindes ist hinsichtlich des Hilfeplanverfahrens somit als schwach zu beurteilen. Eine Stärkung der Rechtsposition könnte mittels einer Normierung des Hilfeplans als materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung erfolgen. Dies würde das Gewicht des Hilfeplanverfahrens und die Rechtsstellung der Betroffenen deutlich stärken (ausführlich hierzu Kepert, 2020 a, 18). 6. Kinderschutz Obgleich das Thema Kinderschutz im Fokus des Beteiligungsprozesses „Mitreden - Mitgestalten“ stand, enthält der Referentenentwurf des KJSG kaum Regelungen zum Kinderschutz im engeren Sinne. § 8 a SGB VIII sowie § 42 SGB VIII sollen nur kleinere Änderungen erfahren. Nach hiesiger Auffassung besteht hier aber dringender Handlungsbedarf. So wäre es nach hiesiger Auffassung sehr hilfreich, wenn der Gesetzgeber eine Legaldefinition für den Begriff der Kindeswohlgefährdung im SGB VIII implementieren würde (hierzu Kepert 2020 a, 18 sowie Kepert 2020 b, 104). In § 8 a SGBVIII wären insbesondere klarstellende Regelungen zur Einschaltung Dritter i. S. d. § 8 a Abs. 3 SGB VIII hilfreich (ausführlich hierzu Salgo/ Kepert 2020, 418). In § 42 SGB VIII sollte eine Regelung i. S. d. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zum Entfallen der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage implementiert werden (hierzu Kepert 2020 a, 18 sowie Kepert 2020 b 104). Schließlich besteht nach hiesiger Auffassung dringender Handlungsbedarf im Bereich des § 65 SGB VIII. De lege lata kann selbst bei Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung eine Übermittlung anvertrauter Daten nach § 65 SGB VIII an das Familiengericht im Verfahren nach § 1666 BGB unzulässig sein. Dies ist nach hiesiger Auffassung nicht sachgerecht. Das Verhältnis von Kinderschutz und Datenschutz ist neu auszutarieren (Kepert 2020 c, 164). Prof. Dr. Jan Kepert Hochschule für Öffentliche Verwaltung Kehl Kinzigallee 1 77694 Kehl 94 uj 2 | 2021 Der KJSG-Referentenentwurf aus juristischer Sicht Literatur Kepert, J. (2018): „Große“ oder „inklusive“ Lösung im SGB VIII - Vorschläge für die Ausgestaltung einer möglichen Anspruchsgrundlage aus rechtlicher Sicht. Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 1, 16 Kepert, J. (2020 a): Die SGB VIII-Reform - Anmerkungen aus Sicht der Rechtswissenschaft. Jugendhilfe 58 (1), 18 - 34 Kepert, J. (2020 b): Kinderschutz durch das Jugendamt aus juristischer Sicht. Jugendhilfe 58 (2), 104 - 114 Kepert, J. (2020 c): Datenschutz und Kinderschutz. ZKJ 5, 164 Kunkel, P.-C., Kepert, J., Pattar, A. K. (Hrsg.) (2018): Sozialgesetzbuch VIII. Kinder- und Jugendhilfe. Lehr- und Praxiskommentar. 7. Aufl. Nomos, Baden-Baden Salgo, L., Kepert, J. (2020): Datenübermittlung an den Arbeitgeber durch das Jugendamt zur Wahrnehmung des Schutzauftrags - Teil 2, ZKJ 11 Stelkens, P., Bonk, H. J., Sachs, M. (Hrsg.) (2018): Verwaltungsverfahrensgesetz: VwVfG. 9. Aufl. C. H. Beck, München Wiesner, R. (2017): Stellungnahme in Sachverständigenanhörung zum KJSG am 19. 6. 2017. In: https: / / www. bundestag.de/ dokumente/ textarchiv/ 2017/ kw25pa-familie-jugendliche-510260 Nachruf Hans-Uwe Otto zählte zu den charismatischsten, einflussreichsten und international renommiertesten VordenkerInnen der Sozialen Arbeit. Er hatte Gast- und Honorarprofessuren in zahlreichen Ländern auf (fast) allen Kontinenten, war Ehrendoktor der Universität Halle-Wittenberg, der Universität Dortmund, der University of Ioannina (Griechenland) und der State University St. Petersburg (Russland) sowie Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Seine unzähligen theoretischen Werke, empirischen Forschungsprojekte, nationalen und internationalen Konferenzen, seine scharfsinnigen Kommentierungen sowie seine umfassende Nachwuchsförderung geben einen Hinweis auf die Produktivität und Kreativität, mit der Hans-Uwe Otto eine sozialwissenschaftlich fundierte und gerechtigkeitstheoretisch positionierte Soziale Arbeit voranzutreiben trachtete. Der zentrale Gegenstand seiner Arbeit war die Profession und reflexive Professionalisierung Sozialer Arbeit, die er demokratie-, wohlfahrts- und gesellschaftstheoretisch verortete. Trotz seiner Schärfe der Analyse und Kritik des Zustands der Profession und der Deformierung des Professionalisierungsprojekts blieb Hans-Uwe Otto hinsichtlich ihres demokratischen und emanzipatorischen Potenzials unbeirrt optimistisch. In diesem Sinne war Hans- Uwe Otto nicht nur ein herausragender Wissenschaftler, sondern vor allem ein gesellschaftskritischer Professionsintellektueller der zähen und kämpferischen Art. Mit den Waffen sozialwissenschaftlicher Theorie und Forschung, so war er überzeugt, ließe sich „ein höherer Kenntnisstand“ erreichen, „der es uns erlaubt, in der Position präziser zu sein“. Diese Positionen konnten, wie etwa zuletzt mit Blick auf Kapitalismus, neoliberalistischen Wohlfahrtsreformen, Managerialismus, Ungleichheit sowie Fragen der Ermöglichung eines guten Lebens an Präzision und Schärfe in der Sache kaum überboten werden. Mit Hans-Uwe Otto verliert eine emanzipatorische Soziale Arbeit eine ihrer herausragenden Persönlichkeiten. Prof. Dr. Holger Ziegler Am 27. Oktober 2020 verstarb Professor Dr. Dr. h. c. mult. Hans-Uwe Otto im Alter von 80 Jahren in Bielefeld
