eJournals unsere jugend 73/3

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Die Chance nutzen: mit dem SGB VIII-Reformentwurf die Weichen grundlegend richtig stellen

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2021
Klaus Esser
Der Beitrag beschreibt die grundlegenden Stärken und Schwächen des SGB VIII aus der Perspektive der Jugendhilfepraxis. Die Entwicklung von inklusiven Angeboten in einer exemplarischen Jugendhilfeeinrichtung wird aufgezeigt und damit verdeutlicht, dass die freien Träger sich schon über mehr als 25 Jahre mit dem Aufbau von Hilfen für Kinder und Jugendliche und junge Erwachsene mit unterschiedlichen Behinderungen befassen. Anhand des Reformentwurfes werden die Änderungsnotwendigkeiten beschrieben, die diesen richtungsweisenden Entwurf noch mit den letzten Details zu einem wegweisenden und in die Zukunft führenden Gesetz ausgestalten.
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98 unsere jugend, 73. Jg., S. 98 -109 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art18d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Klaus Esser dipl. Heilpädagoge und Erziehungswissenschaftler, Geschäftsführer der Bethanien Kinderdörfer gGmbH und Vorsitzender des Bundesverbandes katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe (BVkE). Er ist Vater von zwei erwachsenen Kindern. Sein Sohn ist geistig behindert und lebt in einer Wohnstätte für Menschen mit Behinderung. Die Chance nutzen: mit dem SGB VIII-Reformentwurf die Weichen grundlegend richtig stellen Wie die „große Lösung“ verwirklicht werden kann und wie den jungen Erwachsenen endlich echte Zukunftschancen mitgegeben werden können Der Beitrag beschreibt die grundlegenden Stärken und Schwächen des SGB VIII aus der Perspektive der Jugendhilfepraxis. Die Entwicklung von inklusiven Angeboten in einer exemplarischen Jugendhilfeeinrichtung wird aufgezeigt und damit verdeutlicht, dass die freien Träger sich schon über mehr als 25 Jahre mit dem Aufbau von Hilfen für Kinder und Jugendliche und junge Erwachsene mit unterschiedlichen Behinderungen befassen. Anhand des Reformentwurfes werden die Änderungsnotwendigkeiten beschrieben, die diesen richtungsweisenden Entwurf noch mit den letzten Details zu einem wegweisenden und in die Zukunft führenden Gesetz ausgestalten. Das SGB VIII - Stärken und Schwächen 1991 wurde nach mehr als 20 Jahren fachlicher und politischer Diskussion das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) aus den 20er Jahren abgelöst durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII). Das SGB VIII ist ein gutes Gesetz. Es schreibt die Rechte von Kindern und Jugendlichen fest, es bekräftigt die Erziehungsrechte und -pflichten von Eltern, es regelt Eingriffsrechte des Staates (Wächteramt), wo das Kindeswohl gefährdet ist, es konstituiert die Arbeit des Jugendamtes und es regelt die Beteiligungsrechte von Kindern und Eltern im Hilfeplanverfahren. An einigen Stellen ist das SGB VIII 99 uj 3 | 2021 Chancen nutzen und Weichen richtig stellen aber lückenhaft. Bei seiner Entstehung konnte sich die Politik nicht auf die „große Lösung“ einigen, die schon damals in der Diskussion war. Das heißt, statt der Gesamtzuständigkeit des SGB VIII für alle Kinder und Jugendlichen hat man die Minderjährigen mit einer Behinderung im System der Behindertenhilfe - SGB XII - belassen. Später wurden in einer kleinen Korrektur Minderjährige mit einer seelischen Behinderung (oder einer Bedrohung dieser) in den § 35 a hineingenommen. Dieser scheinbar kleine Schritt war aber schon ein Hinweis darauf, dass die Teillösung nur eine Kompromisslösung war. Scheinbar klein war der Schritt, weil immerhin mit dem § 35 a die Kinder- und Jugendhilfe zum Rehabilitationsleistungsträger wurde. Es hat eine Weile gedauert, bis in Jugendämtern und Facheinrichtungen angekommen ist, dass die Überwindung von funktionalen Störungen, Lern- und Sprachstörungen und vielen anderen ambulant zu behandelnden Einschränkungen in der kindlichen Entwicklung Teil der Kinder- und Jugendhilfe ist. Die Umsetzung des § 35 a im stationären Bereich ist schwierig geblieben. Immer noch sehen Einrichtungen und Jugendämter es als nicht notwendig an, die Diagnostik zu durchlaufen und die Umwandlung von einer Erziehungshilfe nach § 27/ 34 in eine Hilfe nach § 35 a zu vollziehen. Das geschieht oft mit dem Hinweis, dem Kind werde ja bereits umfassend und individuell geholfen. Es wird aber verkannt, dass mit einer Zuordnung zum § 35 a die Inanspruchnahme von individuellen Zusatzleistungen und längerfristigen Hilfen erleichtert wird. Diese Leistungen führen zu Kosten, die die öffentliche Jugendhilfe belasten und die zu einer Restriktion der Inanspruchnahme führen. Wenn eine flächendeckende Diagnostik bei allen stationären und teilstationären Fällen erfolgen würde, würden die Zahlen in diesem Bereich sicherlich explodieren. Hinzu kommt die Tatsache, dass die § 35 a-Fälle über das 18. Lebensjahr hinaus regelmäßig zu - notwendigen - längeren Verläufen führen, sodass die Kostenträger die Nutzung des § 35 a eher ablehnend handhaben. Die zweite große Schwachstelle des SGB VIII betrifft die jungen Erwachsenen, die nach dem Gesetz das Recht auf Hilfe bis zum 21. Lebensjahr haben, im Einzelfall sogar bis zum 27. Lebensjahr. Die Wirklichkeit ist jedoch eine andere: Mit 18, spätestens 19 ist in der Regel Schluss mit der Jugendhilfe. Noch während der Schul- oder Berufsausbildung müssen die jungen Erwachsenen die stationären Hilfen verlassen und stehen ohne Begleitung und nur mit der minimalsten wirtschaftlichen Hilfe aus den Leistungssystemen des SGB 2 da. Das ist für alle jungen Erwachsenen, die keinen familiären Rückhalt haben, fatal und macht viele Erfolge der vorherigen Jahre wieder zunichte. Ob die SGB VIII-Reform hier den Mut hat, wesentliche Verbesserungen zu regeln, ist ein Prüfstein der Reform, der gut beobachtet werden muss. Entwicklung von integrativen und inklusiven Angeboten in einer Jugendhilfeeinrichtung Der Autor war von 1992 bis 2017 Leiter einer Jugendhilfeeinrichtung. In dieser Zeit sind integrative und inklusive Angebote entstanden. Bei der Jugendhilfeeinrichtung handelt es sich um ein Kinder- und Jugenddorf, das seit der Gründung 1956 ein familienanaloges Konzept verfolgt. 1992 war die Einrichtung geprägt von den Kinderdorffamilien, die als Lebensgemeinschaften familienersetzende Hilfen durchgeführt haben. 2017 war das Kinder- und Jugenddorf ein breit aufgestelltes Zentrum der Kinder- und Jugendhilfe mit einer Angebotspalette von ambulant bis stationär, mit Intensiv- und Regelgruppen, mit Kitas, einem Familienzentrum, Bereitschaftspflege. Der kurze Rückblick soll insbesondere die Entwicklung der Hilfen für Heranwachsende mit Behinderungen aufzeigen. 1992 waren die Einrichtung und die gesamte Jugendhilfe dabei, das „neue“ SGB VIII umzusetzen und insbesondere das Instrument der Hilfeplanung aufzubauen. Die Ausrichtung auf 100 uj 3 | 2021 Chancen nutzen und Weichen richtig stellen die stärkere Einbeziehung der Eltern und die Einbeziehung systemischer Sichtweisen waren fachliche Herausforderungen dieser Zeit. Das Kinder- und Jugenddorf war darauf ausgerichtet, Kinder aus Familien aufzunehmen, die eine eher mittel- und langfristige Perspektive hatten. Das ist für die familienanalogen Lebensgemeinschaften (Kinderdorffamilien) und für manche langfristig angelegten Wohngruppen ein Wesensmerkmal. Es kamen immer wieder Geschwistergruppen aus Familien, die geringe Ressourcen hatten und bei denen die Einschätzung bestand, dass eine kurzfristige Rückkehr in die Herkunftsfamilie nicht möglich war (die Spezifizierung der Kinder- und Jugenddörfer im Vergleich zu anderen stationären Hilfen wurde evaluiert durch die KES-Studie [Kinderdörfer- Effekte-Studie]). Auf dieser Grundlage waren bei den aufgenommenen Geschwistern eher die familialen Ressourcen der Grund für die Aufnahme. Die aufgenommenen Kinder waren jünger als der Durchschnitt der Aufnahmen in der stationären Jugendhilfe und damit lag bei vielen noch keine Diagnostik vor, sondern es dominierten bei der Aufnahme Entwicklungsrückstände, Verhaltensproblematiken und familiäre Konflikte. Im Verlauf der Betreuung übernahmen die pädagogischen MitarbeiterInnen die Verantwortung für die Versorgung und Entwicklung der Kinder. Bei der Integration der aufgenommenen Kinder in die regionalen Kindertageseinrichtungen und in die Schule bestand die Notwendigkeit der ersten Einschätzung von Lern- und Bildungsvoraussetzungen. Es erwies sich schnell, dass viele Kinder mit Lern- und Entwicklungsbeeinträchtigungen dabei waren, die eine intensivere Diagnostik und eine umfangreichere Förderung benötigten. Ein Kind mit einer Behinderung in der Jugendhilfe Bei manchen Kindern wurde eine Behinderung diagnostiziert. Bei diesen Kindern wurde der Bruch der Systeme Erziehungshilfe und Behindertenhilfe offensichtlich. Das Kinderdorf hatte immer eine klare Haltung zu Kindern mit einer Behinderung. Im Rahmen des Familienkonzepts gilt für Kinder mit einer Behinderung das Gleiche, was gilt, wenn eine Familie ein behindertes Kind bekommt. Wenn ein Kind in eine Familie hineingeboren wird, dann unternimmt diese Familie alles, um dem Kind die bestmöglichen Entwicklungschancen zu bieten. Bildung, medizinische und therapeutische Versorgung werden im Rahmen familialer Aufgaben integriert. Nicht das Kind ist es, das die Familie verlassen muss - das behinderte Kind ist in erster Linie Kind und hat nur zusätzlichen Förderbedarf. Dieser Förderbedarf muss aus der Familie heraus von den Fachinstitutionen angeboten werden. Für die Institution gilt im Prinzip das Gleiche: Wenn eine Behinderung bei einem Kind vorliegt, ist das kein Grund, dieses Kind nicht aufzunehmen. Wenn bei einem bereits betreuten Kind eine Behinderung diagnostiziert wird, ist das kein Grund, allein deswegen die Einrichtung zu verlassen. Vielmehr ist die Frage: Wo ist der beste Lebens- und Betreuungsort für das Kind? Und: Welche Förderung muss die Einrichtung innerhalb und außerhalb der Einrichtung für das Kind erbringen? Die Erfahrungen mit den Systemen haben die Umsetzung dieser Haltung aber oft schwer gemacht. Wenn eine Behinderungsdiagnose, z. B. „geistige Behinderung“, vorlag, wurde das im Hilfeplanverfahren dokumentiert. Die Jugendämter reagierten regelmäßig mit der Abgabe dieses Falles an die überörtliche Sozialhilfe/ Behindertenhilfe. In NRW ist das der Landschaftsverband Rheinland (LVR). Mit der Abgabe des Falles war auch die Kostenabgabe verbunden. Wenn der LVR den Fall übernahm, kam es regelmäßig zu einer Weigerung der Übernahme, weil das Kind ja wegen des Jugendhilfebedarfes - sprich der familiären Situation - hilfebedürftig sei und nicht wegen der Behinderung. Diese gegenseitige Zuschiebung der Verantwortung dauerte im Einzelfall monatelang. In dieser Zeit lief die Hilfe im Kinderdorf selbst- 101 uj 3 | 2021 Chancen nutzen und Weichen richtig stellen verständlich weiter, die nicht gezahlten Kosten liefen zu Lasten des Kinderdorfes auf. Das Kind erhielt alle notwendigen Hilfen und besuchte die behinderungsbedingt festgelegte Schule, ärztliche Hilfe wurde gesucht und therapeutische Maßnahmen wahrgenommen. Wenn am Ende dieser Zuständigkeitssuche feststand, dass der LVR fallzuständig war, kamen als erste Reaktion des LVR die Bestätigung der Zuständigkeit und die Information an die Jugendhilfeeinrichtung: „Da Sie keine anerkannte Einrichtung der Behindertenhilfe sind, kann das Kind nicht bei Ihnen betreut werden, sondern muss in eine spezielle Einrichtung der Behindertenhilfe.“ Exklusion war das systematische Ergebnis einer Kosten- und Zuständigkeitsverschiebung. Das Kind, das sich im Kinderdorf wohl fühlte, das dort mit seinen Geschwistern ein familiäres Leben führte, das alle notwendigen Hilfen erfuhr, sollte zum Opfer der Systeme werden. Die Einrichtung hat dann regelmäßig Widerspruch eingelegt und nach weiteren Wochen und Monaten wurden ebenso regelmäßig Einzelfallentscheidungen getroffen. In diesen Fällen hat der LVR die Entgelte, die nach den Regeln der Kinder- und Jugendhilfe (§ 78ff SGB VIII) festgelegt worden waren, übernommen. Die Fallführung im Rahmen einer Beteiligung am Hilfeplanverfahren hat der LVR nicht übernommen, die Fälle wurden im Rahmen der Sachbearbeitung der Behindertenhilfe nach SGB XII geführt. Welche Behinderungsformen gibt es in der Jugendhilfe-Einrichtung? Im Laufe der 25 Jahre, die der Autor für die genannte Einrichtung überblicken kann, wurden Kinder und Jugendliche mit einer Vielzahl verschiedener Behinderungen und Beeinträchtigungen betreut: ➤ Lernbehinderung - es gab alle Ausprägungen der Lernbehinderung, oft in Kombination mit verschiedenen Symptomatiken und Diagnosen, in Verbindung mit sozialen oder emotionalen Belastungen. Einige Kinder schafften den Hauptschulabschluss bzw. den Übergang in die Regelschule und einen Ausbildungsberuf. Andere lagen am Rande der geistigen Behinderung und benötigten im weiteren Verlauf die Betreuung der Behindertenhilfe. ➤ Geistige Behinderung - alle Formen und Ausprägungen der geistigen Behinderung kamen vor. Eine Integration von Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung in die Gruppen der Jugendhilfe ist vielfach gut gelungen. Im Laufe der Entwicklung hat sich oft abgezeichnet, ob nach Beendigung der Betreuung in der Kinderdorfgruppe eine Weiterbetreuung im Rahmen der stationären Behindertenhilfe notwendig ist oder ob der junge Erwachsene mit einer geistigen Behinderung so selbstständig leben kann, dass eine Betreuung im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens in der Eingliederungshilfe (BeWo) möglich ist. ➤ Motorische bzw. Körperbehinderungen - in der Einrichtung wurden Kinder mit spastischen Symptomen, Minderwuchs, operationsbedürftiger Skoliose, Glasknochenkrankheit betreut, die phasenweise einen Rollstuhl benötigten. Die Einrichtung ist nicht komplett barrierefrei, viele Gebäude und Gruppenhäuser bieten aber barrierefreien Wohnraum oder wurden barrierefrei umgebaut. ➤ Chronische Krankheiten - PKU, Diabetes, Mukoviszidose. ➤ Seelische Behinderung oder drohende seelische Behinderung - wie oben beschrieben, wurden nicht alle Kinder mit einer entsprechenden Symptomatik unter der Leistungsform § 35 a SGB VIII betreut. Eine große Zahl der betreuten Kinder wurde im Rahmen der spezifischen Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diagnostik untersucht und behandelt. Die Behandlungen wurden in Zusammenarbeit 102 uj 3 | 2021 Chancen nutzen und Weichen richtig stellen der PädagogInnen mit den FachärztInnen besprochen und von den FachärztInnen verordnet und kontrolliert. Spezielle Therapien fanden durch externe Fachpraxen und Therapieeinrichtungen statt. Beispielhaft seien hier die Diagnosen Hyperaktivität, ADHS, FAS (Fetales Alkoholsyndrom) genannt. Die in der Jugendhilfe weit verbreiteten, für die betroffenen Kinder erheblich belastenden Symptome (Schlafstörungen, Angstzustände, Unruhe, Aggressivität, Weglaufen, Suchtmittelmissbrauch, Bindungsstörungen, Konzentrationsstörungen, u. v. m.) führen dazu, dass zeitweise 40 % der im Kinderdorf betreuten Kinder eine kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung durchlaufen haben. Systemüberschreitung unmöglich - und doch möglich Nach einigen Jahren stand fest, dass es durchgehend eine Gruppe von 6 bis 10 Kindern und Jugendlichen in den stationären Gruppen gab, die eine Behinderung aufwiesen und in der Zuständigkeit des LVR im Rahmen von Einzelfall-Ausnahmeregelungen betreut wurden. Um für diese Gruppe und für die Einrichtung Sicherheit zu schaffen, wurde 1999 ein Antrag auf Anerkennung einer bestimmten Platzzahl für Kinder mit Behinderung nach SGB XII gestellt. Ein umfangreiches Antrags- und Konsultationsverfahren führte zu keinem Ergebnis. Die Anerkennung einer bestimmten Platzzahl stationärer Plätze für Minderjährige wurde 2003 mit der Begründung abgelehnt, es gebe ausreichend Plätze für Minderjährige in den anerkannten Einrichtungen für Menschen mit Behinderung in der Region. Die Weiterführung der Ausnahmeregelung in Einzelfällen wurde aber zumindest bestätigt und es wurde ein neuer Bereich entwickelt, der für einige der behinderten jungen Erwachsenen bis heute eine sichere Perspektive bietet, das BeWo (Ambulant Betreutes Wohnen für Menschen mit Behinderung), zuerst nach SGB XII, heute nach dem Bundesteilhabegesetz SGB IX. Das Kinderdorf hat für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Bereich der Jugendhilfe nach § 41 SGB VIII einen ambulanten Übergangsbereich geschaffen, der ein Wohntraining im Kinderdorf vorsieht mit Trainingswohnungen, die eine nahe Anbindung der jungen Erwachsenen ermöglichen. Im zweiten Schritt können die jungen Erwachsenen eigene Wohnungen anmieten oder Wohnungen beziehen, die die Einrichtung anmietet. In diesen eigenen vier Wänden ist eine ambulante Betreuung möglich, für die eine definierte Stundenanzahl (Fachleistungsstunden) vereinbart wird. Für die jungen Erwachsenen entstehen eine Vielzahl von Aufgaben und Herausforderungen, die gemeistert werden müssen und die im Idealfall mit einer relativ stabilen Selbstständigkeit enden. Die Jugendhilfe ermöglicht den jungen Erwachsenen hier nur eine sehr kurze Zeitspanne für Erfahrungen und Experimente. Deshalb gibt es kein kongruentes Ergebnis, sondern auf der Skala des Gelingens und Scheiterns sehr viele Zwischentöne. Was aber die pädagogische Betreuung kennzeichnet, ist die hohe Beteiligung der jungen Menschen an den Entscheidungen und Zielen und es sind die Themen, die alle jungen Erwachsenen auf ihrem Entwicklungsweg behandeln: Finanzen, die Strukturen von Hilfeinstitutionen, Anträgen und Ämtern, der Umgang mit Suchtmitteln, die Regulation von Beziehungen zu Freundeskreisen und Peers, Sexualität, Medien, Ausbildung und Beruf, das persönliche Lebensumfeld, Ernährung und die ganze Palette der eigenen Lebensentscheidungen, die der Alltag den jungen Menschen abverlangt. Oft sind noch psychische Belastungen aufzuarbeiten und familiäre Bezüge neu zu definieren. Die Erfahrungen mit den jungen Erwachsenen mit Behinderungen, die nicht zwingend eine vollstationäre Weiterbetreuung benötigen, haben das Kinderdorf dazu gebracht, diesen Personenkreis in die ambulante Betreuung einzu- 103 uj 3 | 2021 Chancen nutzen und Weichen richtig stellen beziehen. Es waren zuerst Einzelne, die ambulant betreut wurden. Als das gelang, hat die Einrichtung mit dem LVR eine Vereinbarung zur Erbringung von ambulanten Leistungen nach dem SGB XII (Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung) getroffen. Die Rechtsgrundlage wurde mittlerweile ins SGB IX (Bundesteilhabegesetz) überführt. Damit wurde das Kinderdorf 2008 zum Träger von (ambulanten) Leistungen der Behindertenhilfe im Rahmen des Betreuten Wohnens (BeWo). Die MitarbeiterInnen haben sich in die Systematik des Individuellen Hilfeplans (IHP) eingearbeitet und fortan wuchs die Gruppe der jungen Erwachsenen, die als Menschen mit einer Behinderung in eigenen Wohnungen oder vom Kinderdorf angemieteten Wohnungen betreut wurden. 2016 konnte ein neu erbautes Apartmenthaus eröffnet werden, das für sechs junge Erwachsene mit und ohne Behinderung eine Wohnung mit ambulanter Betreuung anbietet. Seitdem arbeitet der BeWo-Bereich des Kinderdorfes mit einem inklusiven Selbstverständnis. Die jungen Erwachsenen aus der Jugendhilfe und die jungen Erwachsenen, die im Rahmen der Hilfe für Menschen mit Behinderungen betreut werden, werden durch ein Team betreut, nach den gleichen Zielen und mit den gleichen sozialpädagogischen Ansätzen. Allen gemein ist die Zielsetzung, als vollwertiges Mitglied teilzuhaben am gesellschaftlichen Leben. Eingestreute inklusive Plätze Nachdem über viele Jahre hinweg immer zwischen 5 und 10 % der betreuten Kinder in die Kategorie der behinderten oder beeinträchtigten Kinder gefallen waren, wurde ein erneuter Versuch unternommen, mit dem Landesjugendamt als betriebserlaubniserteilende Stelle nach § 45 SGB VIII die Anerkennung der Plätze, die über lange Zeiträume mit behinderten Kindern belegt waren, zu erreichen. Seit 2016 weist die Betriebserlaubnis des Kinderdorfes „eingestreute inklusive Plätze“ auf. Für diese Plätze gibt es eine eigene Leistungsbeschreibung, die einen geringen Mehrbetreuungsaufwand vorsieht. Damit ist der Schritt aus der Einzelfalllösung in die systematische Anerkennung der Betreuung von Kindern mit einer Behinderung oder einer besonderen Beeinträchtigung erfolgt. Und: Es gibt keine Sondergruppen, die erneut die berechtigte Frage nach der Exklusion stellen würden, sondern die eingestreuten Plätze ermöglichen es dem Kinderdorf, Kinder mit einer Behinderung gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung in einer Gruppe zu betreuen - so wie es auch in Familien der Fall ist, in die ein behindertes Kind hineingeboren wurde. Behinderte und nichtbehinderte Kinder wachsen gemeinsam auf - das ist keine Utopie, das ist jahrelange Realität im Kinder- und Jugenddorf. Rechtliche Grundlagen und die Finanzierungsmodalitäten sind immer noch getrennte Systeme, wann wird sich hieran endlich etwas ändern? Aus der integrativen Kindertagesstätte wird ein inklusives Familienzentrum Als erste Jugendhilfeeinrichtung in der Region wurde dem Kinderdorf 2010 die Übernahme der Trägerschaft eines integrativen Kindergartens angetragen. Die Übernahme einer vormals durch die evangelische Kirche getragenen Kita durch das Kinderdorf, das in katholischer Trägerschaft steht, hat einen Weiterentwicklungsschub für die Kita und die Jugendhilfeeinrichtung zur Folge gehabt. Die ökumenische Perspektive wurde für die Kita entwickelt, das trägt und prägt bis heute das fundamentale christliche Selbstverständnis, das ohne konfessionelle Richtungskämpfe auskommt. Für die Inklusion hat die Jugendhilfeeinrichtung ihre pädagogische Expertise in der Jugendhilfe und ihre Leitungserfahrung in die Kita- Arbeit eingebracht, sodass aus dem integrativen Kindergarten in mehreren Schritten eine inklusive Einrichtung und ein Familienzentrum werden konnte. Die Kompetenz der Einrich- 104 uj 3 | 2021 Chancen nutzen und Weichen richtig stellen tung in Bezug auf die heilpädagogische und therapeutische Förderung von Kindern mit Beeinträchtigung und die große Erfahrung der Kita, wie Familien mit Kindern ohne Beeinträchtigung vom selbstverständlichen gemeinsamen Aufwachsen und Lernen profitieren, hat auch der Jugendhilfe wertvolle Erfahrungen in der Inklusion mitgegeben. Notwendigkeit der Beendigung der zwei Säulen Aus diesen genannten Praxisperspektiven ist die Überwindung der zwei Systemsäulen Behindertenhilfe (getragen durch die überörtliche Sozialhilfe im SGB IX) und Jugendhilfe (organisiert durch kommunale Arbeits- und Finanzierungsstrukturen nach Maßgabe des SGB VIII) dringend geboten. Außer der dringenden Notwendigkeit, ein einheitliches Rechtssystem für alle Minderjährigen als Grundlage für die Leistungen und Hilfeformen zu schaffen, ist aber eine Voraussetzung unabdingbar: Das Vertrauen in die Arbeit der kommunalen Strukturen, insbesondere in die Arbeit der regionalen Jugendämter, ist für alle von der Systemänderung Betroffenen herzustellen oder zu verbessern. Verbesserung der Position der Jugendämter als notwendige Startoption für die inklusive Jugendhilfe Die öffentliche Jugendhilfe hat bereits in den vergangenen Jahren eine markante Entwicklung durchlaufen. Sie ist für die Jugendhilfeplanung und damit für das Vorhalten verlässlicher Strukturen und Partner in der Leistungserbringung zuständig. Der ASD ist auf der einen Seite präventiv tätig, greift Bedarfe und familiäre Konflikte auf und vermittelt Hilfen, um Familien in Notlagen zu helfen und Kindern zu ihrem Recht und zu ihrem Schutz zu verhelfen. Auf der anderen Seite ist der ASD mit der Wächterfunktion versehen: Wenn Eltern ihre Pflicht zur Erziehung und Versorgung ihrer Kinder erheblich vernachlässigen und das Kindeswohl gefährdet ist, müssen Jugendämter zum Schutz der Kinder auch gegen den Willen von Eltern tätig werden und familienrechtliche Klärungen einleiten und die Kinder in diesen Prozessen begleiten. Das Dilemma, einerseits zu helfen und andererseits zu intervenieren, ist konstitutiv für den ASD. Die Folge sind Konflikte, Kritik und Auseinandersetzungen, die einer fortwährenden kritischen Analyse bedürfen. Eltern können die Intervention der Jugendämter und Familiengerichte kritisieren, trotzdem kann die getroffene Entscheidung zum Schutz des Kindes richtig sein. Aber was ist, wenn die Akteure des Kinderschutzes falsche Prioritäten setzen und fachlich fragwürdige Entscheidungen treffen? Bei schwerwiegenden Gewalttaten von Eltern gegen Kinder wird mittlerweile routinemäßig die Vorarbeit der Jugendämter in Frage gestellt und der Vorwurf wird laut: Warum hat das Jugendamt nicht vorab diese schlimme Entwicklung vorhergesehen und verhindert? Aber Aufgabe, Position und Rolle des Jugendamtes werden schon viele Jahre lang diskutiert. Neue Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Arbeitsbedingungen der Jugendämter nicht dazu geeignet sind, alle Aufgaben sachgemäß und umfangreich auszuführen (Beckmann/ Ehlting/ Klaes 2018). Vor dem Hintergrund der Diskussion um Inklusion ist diese Bestandsaufnahme nicht nur ein Anlass dafür, die Jugendamtsarbeit heute kritisch zu überprüfen und die Bedingungen systematisch zu verbessern. Nein, diese Ausgangslage in den Jugendämtern ist nicht dazu geeignet, der Inklusion in der Jugendhilfe ein gute Startposition zu geben. Wenn Kontinuität und Stabilität der unterstützenden Systeme ein positiver Wirkfaktor für das Gelingen von Erziehungshilfe ist, sollten die Arbeitsbedingungen der Fachkräfte in Jugendämtern regelmäßig überprüft und systematisch verbessert werden. Zum einen geht es um die sächliche Ausstattung, Räume, Medien, Arbeitsinstrumente, zum anderen sind die klas- 105 uj 3 | 2021 Chancen nutzen und Weichen richtig stellen sischen Personalentwicklungsinstrumente hilfreich zur Erfassung der Ist-Situation und zur systematischen Verbesserung der Arbeitsrealität. Allein die regelmäßige Erfassung von Kennzahlen im Personalmanagement wie der Krankenquote, der Fluktuationsquote und der Quote von Überlastungsanzeigen kann Hinweise zur Belastung der Fachkräfte liefern. Eine systematische Auswertung und Analyse kann zum Benchmark mit anderen Arbeitsbereichen dienen. Die Erkenntnisse können dazu herangezogen werden, geeignete Mittel zur Verbesserung der Belastungen und Schwerpunkte für die Weiterentwicklung zu finden. Die Messung der Arbeitszufriedenheit, der psychischen Belastung und die Nutzung der Instrumente Mitarbeiterbefragung und individuelle Mitarbeiterentwicklung flankieren auf der Grundlage eines klaren entwicklungsfördernden Führungskonzeptes die Mitarbeiterbindung und die fachliche Weiterentwicklung jedes Einzelnen. Konzepte zur Supervision, Teamentwicklung, Fort- und Weiterbildung stärken die fachliche Position. Die Struktur der Besoldung und Honorierung der Tätigkeiten der Jugendämter ist ebenfalls zu überprüfen. Erfordert die Durchführung der staatlichen Aufgaben im Krisenfeld zwischen Elternrecht und Kindeswohl nicht zumindest die Option der Verbeamtung, wie sie in den Bereichen Bildung, Sicherheit und Recht selbstverständlich ist? Es ist erforderlich, die Fachkräfte in Jugendämtern besser auszustatten, damit die Weiterentwicklung der inklusiven Jugendhilfe in eine funktionierende Jugendamtsarbeit integriert werden kann. SGB VIII-Reform - der Gesetzesentwurf Seit dem 05.10.2020 liegt der Referentenentwurf des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen - das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KSJG) - des Bundesfamilienministeriums den Verbänden und der Fachöffentlichkeit vor. Bemerkenswert war und ist der breit angelegte Konsultations- und Dialogprozess, der unter dem Motto „Mitreden - Mitgestalten“ über ein Jahr lang die Gesetzesänderungsbedarfe erfasst hat. Die spannende Frage, wie viele Inhalte und Impulse des Prozesses in dem Reformentwurf enthalten waren, wird derzeit auf Verbändeebene und in Fachdiskursen analysiert. Mit dem Referentenentwurf wird das in der letzten Legislaturperiode beschlossene, aber nicht umgesetzte Kinder- und Jugendstärkungsgesetz nach einer Auswertung der Ergebnisse des Dialogprozesses „Mitreden - Mitgestalten“ weiterentwickelt. Inhaltlich ist der Entwurf in fünf zentrale Themenbereiche untergliedert: I. Besserer Kinder- und Jugendschutz II. Stärkung von Kindern und Jugendlichen, die in Pflegefamilien oder in Einrichtungen der Erziehungshilfe aufwachsen III. Hilfen aus einer Hand für Kinder mit und ohne Behinderungen IV. Mehr Prävention vor Ort V. Mehr Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien Der Entwurf wird von vielen Akteuren begrüßt und positiv gewertet. Er hat eine Reihe von Aspekten, die in dem Dialogprozess angesprochen wurden, in das Gesetz eingefügt. Themen wie Ombudstellen, Beteiligung, Kinderschutz und die Situation von Care Leavern sind im Reformvorschlag enthalten und gute Grundlagen für eine Verbesserung. An zwei markanten Stellen wird der Reformentwurf den Erwartungen nicht gerecht: in der Inklusion und in der Verbesserung der Situation für junge Erwachsene. Dies ist umso bedauerlicher, als der Reformprozess das erste Mal nach vielen Jahren der Diskussion die Gelegenheit bietet, diese beiden zentralen Schwachpunkte des ansonsten sehr guten Gesetzes auszugleichen. 106 uj 3 | 2021 Chancen nutzen und Weichen richtig stellen 1. Inklusion Zeitplanung Die Ratifizierung von Artikel 7 UN-BRK in Deutschland beinhaltet die Verpflichtung, notwendige und hinreichende Maßnahmen zur Teilhabeermöglichung aller jungen Menschen zu schaffen. Der aktuelle Entwurf löst diese Verpflichtung nicht ein, sondern vertagt die Entscheidung mindestens bis in das Jahr 2027. Die lange Vorlaufzeit von sieben Jahren und die Selbstverpflichtung des Gesetzgebers in § 10 Abs 4 SGB VIII-E schieben die dringend notwendigen Regelungen nur hinaus. Damit verzögert der Gesetzgeber die notwendige Weichenstellung und vertagt die Entscheidung. Das „3-Phasen-Modell“ Die inklusive Lösung im Sinne einer Eingliederungshilfe für alle Kinder und Jugendlichen, Regelungen zur Umsetzung der inklusiven Jugendhilfe, sind insbesondere in Art. 1 des KJSG (§ 10 Abs. 4 S 3 SGB VIII), in Art. 8 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 sowie in Art. 9 KJSG enthalten. Die inklusive Ausrichtung des SGB VIII soll dabei in drei Stufen verfolgt werden. Stufe 1 Mit Inkrafttreten der überwiegenden Neuregelungen soll auf erster Stufe sofort der Leitgedanke der Inklusion in mehreren Regelungen verankert werden. So soll insbesondere die Zielbestimmung des § 1 SGB VIII um die Aspekte einer selbstbestimmten und gleichberechtigten Teilhabe ergänzt werden. Mit Neuregelungen in § 22 und § 22a SGB VIII soll die inklusive Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege festgeschrieben werden. Mit § § 36ff SGB VIII soll eine fallbezogene Zusammenarbeit verschiedener Träger (insbesondere auch der Rehabilitationsträger) normiert werden. Stufe 2 Mit der zweiten Stufe soll mit Wirkung zum 1. Januar 2024 ein „Verfahrenslotse“ in § 10b SGB VIII implementiert werden. Stufe 3 Mit der 3. Stufe mit Wirkung zum 01. 01. 2028 soll dann die vorrangige Zuständigkeit der Jugendhilfe für die Leistungen der Eingliederungshilfe für alle Kinder und Jugendlichen festgeschrieben werden. Dies wird auch auf junge Volljährige nach § 41 SGB VIII Auswirkungen haben. Skeptisch wird das Dreiphasenmodell der Inklusion, besonders die Entscheidung der Verlagerung der Finanzierungsverantwortung auf 2024, bewertet. Das vorgeschlagene dreistufige Vorgehen ist im Kern nachvollziehbar. Trotzdem bleibt ein Bedauern zurück, weil der Entwurf nicht mutig genug war, einen schnellen und verbindlichen Übergang zu regeln. Eine verbindlichere Formulierung der drei Stufen hätte zu mehr Rechtssicherheit und Planungsklarheit geführt. Die inklusive Ausgestaltung des SGB VIII ist eine Herausforderung für die noch zu treffenden Finanzierungsregelungen und die organisatorische Umsetzung der beteiligten föderalen Ebenen. Es macht aber keinen Sinn, diese Herausforderung noch auf einige Jahre zu verschieben, ohne sie verbindlich vorzubereiten. Inklusive Hilfeplanung Inklusion braucht ein Hilfeplanverfahren, das die AdressatInnen der Hilfeleistungen stärkt und die Zuständigkeit von Leistungen unter einem Dach zusammenführt. Insbesondere der Aspekt der Zusammenführung ist im KJSG lediglich als Zukunftsoption ausgestaltet. Dem Jugendamt wird mit den Änderungen in den §§ 36 Abs. 3 und 36b Abs. 3 SGB VIII eine erheb- 107 uj 3 | 2021 Chancen nutzen und Weichen richtig stellen liche Prüfungs- und Koordinierungsverantwortung übertragen, indem im Hilfeplanprozess andere Sozialleistungsträger, Rehabilitationsträger und andere öffentliche Stellen einbezogen werden müssen. „Die Erziehungshilfefachverbände verweisen an dieser Stelle auf die Praxis und betonen nachdrücklich, dass die Wertigkeit, welche einerseits dem Hilfeplanverfahren zugesprochen wird, und die gleichermaßen rechtlich schwache Ausgestaltung des Hilfeplanverfahrens kaum zu vereinbaren sind“ (AFET/ BVkE/ EREV/ IGFH 2020, 2). Ein Aufbau von Kompetenzen in den Jugendämtern ist eine Notwendigkeit für das Gelingen der inklusiven Hilfeplanung. Eine Regelung analog zum § 2 Abs. 3 SGB X wäre sinnvoll. Nach dieser würde das Jugendamt zwar frühzeitig die Hilfe koordinieren, wäre aber so lange in der Leistungspflicht, bis der zuständig gewordene Leistungsträger mit der Leistungserbringung beginnt. Die schwach ausgestaltete rechtliche Stellung der Eltern und der jungen Menschen im Prozess des Hilfeplanverfahrens ist zu stärken. Dies sollte durch die Normierung des Hilfeplans als materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung ergänzend in § 36 Abs. 2 SGB VIII geschehen. Damit würde dem Hilfeplan auch bei Leistungsentscheidungen ein stärkeres Gewicht zukommen. Anspruchsberechtigter Personenkreis Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist die notwendige sorgfältige Klärung des anspruchsberechtigten Personenkreises. Es liegt einerseits nahe, diesen in § 27ff SGB VIII auf die jungen Menschen selbst zu erweitern, andererseits darf der eigenständige und subjektive Anspruch der Personensorgeberechtigten nicht aufgegeben werden. Anspruchsberechtigt sollen also die jungen Menschen selbst und die Sorgeberechtigten werden. Die Frage des Leistungstatbestands Inklusion kann nur gelingen, wenn junge Menschen mit und ohne Behinderung von einer gemeinsamen Anspruchsgrundlage gegenüber einem Primärverpflichteten profitieren können. Aus fachlich-praktischer Perspektive besteht ansonsten die Gefahr, dass das Jugendamt zwar für alle jungen Menschen zuständig ist, diese aber in der Verwaltungspraxis zwei unterschiedliche und stigmatisierende Verfahren für junge Menschen mit und ohne Behinderung durchlaufen müssen (BVkE/ EREV/ Kepert 2020). Verfahrenslotsen Die Implementierung der im Gesetz verankerten Verfahrenslotsen ist umstritten. Auf der einen Seite ist verständlich, dass diese Instanz in der Übergangsphase als Koordinierungsstelle fungiert, die den Hilfestellern bzw. Leistungsberechtigten die verschiedenen Leistungsbereiche aufzeigt und sie im besten Fall dorthin begleitet. Diese Instanz wird aber zum Teil als „Case-Management“ definiert, wobei die Fallzuständigkeit im Rahmen der Hilfeplanung immer beim Jugendamt verbleibt. Insofern ist eher die Frage, ob das Fallmanagement des Jugendamts nicht eher verbessert und gestärkt werden muss, als eine Instanz zu schaffen, die ausschließlich eine beratende Funktion hat. Auf der anderen Seite liegt der Beratungsbedarf der Familien auf der Hand, denen man eine unabhängige Instanz wünscht, die keine eigenen Interessen verfolgt und die keinem leistungsbeschränkenden Kostendruck unterworfen ist. Warum mit der Lotsenfunktion gewartet wird bis 2024, ist nicht nachvollziehbar. Eine Schaffung dieser Stellen bei den öffentlichen Trägern der Erziehungshilfen muss mit Verabschiedung des Gesetzes in Angriff genommen werden. Anzuregen ist außerdem, dass die Tätigkeiten der Verfahrenslotsen im Sinne einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe „auf das gesamte Leistungsrecht nach §§ 11 bis 41 SGB VIII“ (BVkE/ EREV/ Kepert 2020, 19) und darüberhinausgehend auf alle Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch ausgeweitet werden. 108 uj 3 | 2021 Chancen nutzen und Weichen richtig stellen 2. Junge Volljährige/ Care Leaver/ Übergänge Die Tatsache, dass die Fachwelt sich so schnell auf den Begriff der Care Leaver verständigt hat, irritiert. Dass der Begriff von den ehemals Betreuten selbst adaptiert und angewendet wird, macht ihn für die Gruppe der ehemals Betreuten sympathisch. Allerdings wird er eben auch für die gesamte Problematik der zu frühen Hilfebeendigung angewendet, und das führt in die Irre. Der Begriff impliziert die Anerkennung der Tatsache, dass der junge Mensch die Hilfe bereits verlassen hat. Er hilft deshalb nicht zur Verwirklichung der Weiterführungsansprüche der Hilfe, auf die die jungen Erwachsenen ein Anrecht haben, das deutlich gestärkt werden muss. Inwieweit der Referentenentwurf die objektive Rechtsverpflichtung des öffentlichen Trägers und den subjektiven Rechtsanspruch der jungen Volljährigen wirklich spürbar verbessert, ist noch offen. Der Entwurf hält an der bisherigen Regelbestimmung „bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres“ fest. Diese Altersgrenze entspricht schon lange nicht mehr den Lebenslagen junger Volljähriger in unserer Gesellschaft. Der im § 41 SGB VIII-REF-E genutzte Begriff „Persönlichkeitsentwicklung“ verstärkt und perpetuiert die seit vielen Jahren kritisierte Tendenz, dass junge Volljährige sich selbst im Hilfeplanungsprozess mit ihren Schwächen als hilfebedürftig darstellen und damit defizitär definieren müssen. Es wird nicht auf die selbstbestimmte soziale Teilhabe, z. B. am regulären Ausbildungs- und Bildungssystem, abgehoben (z. B. durch die Akzeptanz der Teilhabe an Freiwilligenjahren), es werden keine individuellen Zielsetzungen anerkannt, es werden keine Berufsausbildungsziele als Zeithorizont für die Hilfe akzeptiert. Hier gibt es nicht nur Nachbesserungsbedarf, hier geht es um eine dringend notwendige Korrektur der Jugendhilfepraxis der letzten Jahrzehnte. Dazu gehört auch die Rückkehroption in eine Hilfe (sog. Coming-Back-Option), die im bisherigen Gesetz angelegt ist und leistungsrechtlich geregelt wird (§ 41 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII-REF-E). Weiterhin sollen durch das Gesetz die Schnittstellen zwischen den Sozialleistungstragenden in der Übergangsbegleitung ins Erwachsenenalter geklärt und dadurch Versorgungs- und Leistungslücken geschlossen werden. Die in § 41 Abs. 3 SGB VIII-REF-E im Hinblick auf Care Leaver konkretisierten Vorschriften aus § 36b Abs. 1 SGB VIII-REF-E zur verbindlichen Übergangsplanung in den Leistungsbereich anderer Sozialleistungsträger sind sinnvoll und notwendig. Diese Anforderung widerspricht aber der Praxis der Sozialleistungstragenden, erst dann tätig zu werden, wenn die Bedarfssituation eingetreten ist. Es gibt viele Beispiele in der Praxis, dass eine vorherige Klärung abgelehnt wurde und z. B. ein Jobcenter erst dann tätig wurde, wenn die schriftliche Mitteilung der Beendigung der Jugendhilfe vorlag. Es muss zumindest sichergestellt werden, dass der Jugendhilfeträger zuständig bleibt, bis der dann zuständig werdende Leistungsträger die Leistungserbringung verbindlich übernommen hat. Mit § 41a SGB VIII-REF-E wird die Nachbetreuung junger Volljähriger nach dem bisherigen § 41 Abs. 3 SGB VIII durch eine eigenständige Norm konkretisiert. Die Absenkung der Kostenheranziehung auf 25 % ist eine gute Veränderung in die richtige Richtung. Der BVkE hat für einen vollständigen Wegfall der Kostenheranziehung plädiert. Angesichts der Unmöglichkeit, einen finanziellen Sockel für die jungen Menschen in der Phase der Betreuung anzusparen, gehen diese jungen Menschen nicht nur regelhaft ohne ein finanzielles Polster in die Selbständigkeit, oft genug beginnt das selbständige Leben mit Schulden für die neue Wohnung, für den Führerscheinerwerb oder für die Übergänge von Lebenshaltung und laufenden Kosten. In Zukunft muss den jungen Menschen die Möglichkeit gegeben werden, Rücklagen für ihre Zukunft zu bilden. 109 uj 3 | 2021 Chancen nutzen und Weichen richtig stellen Eine weitergehende Verbesserung der Rechtslage zugunsten junger Volljähriger würde eintreten, wenn die heute als Ermessensentscheidung ausgestaltete Anspruchsgrundlage des § 13 Abs. 3 SGB VIII, welche jungen Menschen bis zum Alter von 26 Jahren offensteht, als gebundene Entscheidung neu gefasst werden würde. Die Forderung, die der BVkE seit Jahren erhebt, folgt dem Motto: „25 ist das neue 18.“ Diese Ausrichtung würde eine der wichtigsten Schwachstellen des SGB VIII endlich beenden. Dr. Klaus Esser Breslauer Str. 56 41366 Schwalmtal E-Mail: k.esser@bethanien-kinderdoerfer.de Literatur Beckmann, K., Ehlting, T., Klaes, S. (2018): Berufliche Realität im Jugendamt: der ASD in strukturellen Zwängen. Deutscher Verein, Berlin Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. (AFET), Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen e. V. (BVkE), Evangelischer Erziehungsverband (EREV), Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGFH) (2020): Stellungnahme zu einigen Regelungsaspekten im Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG) vom 5. 10. 2020. In: https: / / www.erev.de/ media/ stellungnahme-hze-verbaende-referenten entwurf-stand281020.pdf, 15. 11. 2020 BVkE, EREV, Kepert, J. (2020): Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder‐ und Jugendstärkungsgesetz - KJSG) vom 5.10.2020 im Rahmen des Modellprojekts Inklusion jetzt! in gemeinsamer Verantwortung des BVkE und des EREV auf Grundlage des Rechtsgutachtens von Prof. Dr. Jan Kepert. In: https: / / www.dji.de/ fileadmin/ user_upload/ dasdji/ stellungnahmen/ extern/ 2020_10_27_Stellungnah m e % 2 0 K J S G _ I n k l u s i o n j e t z t _ 2 3 1 0 2 0 2 0 . p d f, 15.11. 2020 Esser, K. (2020): Kinderschutz als Kernanliegen in der Erziehungshilfe. Jugendhilfe 1, 40 - 46 Esser, K., Macsenaere, M. (2012): Was wirkt in der Erziehungshilfe? Wirkfaktoren in Heimerziehung und anderen Hilfearten. Reinhardt, München/ Basel Esser, K., Macsenaere, M., Knab, E., Hiller, S. (Hrsg.) (2014): Handbuch der Hilfen zur Erziehung. Lambertus, Freiburg