unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
31
2021
733
Auf dem Weg zu einer Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien
31
2021
Norbert Müller-Fehling
Die Kinder- und Jugendhilfe wird inklusiver. Der entscheidende Schritt zur Gesamtverantwortung für alle jungen Menschen mit Behinderung wird mit ungewissem Ausgang vertagt. Werden die Familien mit einem behinderten Kind bis dahin den Weg ins Jugendamt finden? Nur dann profitieren sie von den Verbesserungen und nur dann können sich die Jugendämter auf die Ende der 20er Jahre auf sie zukommenden Aufgaben vorbereiten.
4_073_2021_003_0110
110 unsere jugend, 73. Jg., S. 110 -116 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art19d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Norbert Müller-Fehling Jg. 1953, Sozialarbeiter, langjähriger ehemaliger Geschäftsführer des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V., bvkm, Beauftragter des Verbandes für die Reform des SGB VIII Auf dem Weg zu einer Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien Der Gesetzentwurf zum KJSG 2020 vom 2.12. 2020 aus der Perspektive von Eltern mit behinderten Kindern Die Kinder- und Jugendhilfe wird inklusiver. Der entscheidende Schritt zur Gesamtverantwortung für alle jungen Menschen mit Behinderung wird mit ungewissem Ausgang vertagt. Werden die Familien mit einem behinderten Kind bis dahin den Weg ins Jugendamt finden? Nur dann profitieren sie von den Verbesserungen und nur dann können sich die Jugendämter auf die Ende der 20er Jahre auf sie zukommenden Aufgaben vorbereiten. Die vorliegenden Stellungnahmen zum Referentenentwurf und die Stimmung bei den Anhörungen und Videokonferenzen lassen auf eine grundsätzliche und breite Zustimmung zum Reformvorhaben der Kinder- und Jugendhilfe schließen. Es ist von einem historischen Meilenstein (Bundesjugendkuratorium 2020; Bundesvereinigung Lebenshilfe 2020) oder von wertvollen rechtlichen Weiterentwicklungen des Kinder- und Jugendrechts (AGJ 2020; AFET 2020) die Rede − ein wahres Kontrastprogramm zu den Reaktionen auf die ersten Arbeits- und Diskussionsentwürfe 2016. Die drohende Unterhöhlung von Rechtsansprüchen, die Beschneidung von Elternrechten, die Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts oder die Eingriffe in das Verhältnis von öffentlicher und freier Jugendhilfe haben Abwehrschlachten gegen das Reformvorhaben ausgelöst, in deren Pulverdampf die inklusiven Elemente nicht mehr wahrnehmbar waren. Das ist bei dem inzwischen vorliegenden Gesetzentwurf grundlegend anders. Es gibt weitergehende Wünsche und Forderungen, Klarstellungs- und Konkretisierungsbedarf, auch Ablehnung von Einzelregelungen, vor allem aber viele konstruktive Änderungsvorschläge. Das alles wird von Lob und Anerkennung für den Entwurf und für die AutorInnen im BMFSFJ begleitet. Die Transparenz und der Dialog im Beteiligungsprozess „Mitreden - Mitgestalten“ haben daran einen gewichtigen Anteil. In diesem Umfeld haben auch die Regelungen, die zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe hinführen, eine Chance, als zentrale und wertvolle Elemente der Weiterentwicklung des Kinder- 111 uj 3 | 2021 Auf dem Weg zu einer Jugendhilfe für alle und Jugendrechts wahrgenommen zu werden. Schon die vom Bundesministerium initiierten Dialogformate beim Deutschen Verein und beim Deutschen Institut für Urbanistik haben die Begegnung und den Austausch zwischen VertreterInnen der Kinder- und Jugendhilfe und der Verbände der Hilfe und Selbstvertretung behinderter Menschen und ihrer Familien ermöglicht und damit zu einem besseren Verständnis und zu einer Annäherung der unterschiedlichen Kulturen der beiden Systeme beigetragen. Die gewonnenen Kenntnisse voneinander und das Verständnis beider Systeme füreinander haben zu einem konstruktiven Austausch und zu der Erkenntnis geführt, dass die fachlichen Herausforderungen einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe bewältigt werden können. Kinder- und Jugendhilfe wird inklusiver Der Beteiligungsprozess und die wissenschaftlichen Begleitprojekte haben aber auch einmal mehr die Defizite der Kinder- und Jugendhilfe gegenüber jungen Menschen mit körperlicher und/ oder geistiger Behinderung und ihren Familien sichtbar gemacht. Der dort identifizierte Handlungsbedarf hat sicher wesentlich dazu beigetragen, dass die im Gesetzentwurf aufgegriffenen Themen und Lösungsansätze zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe die weitgehende Zustimmung sowohl der Kinder- und Jugendhilfe als auch der Hilfe und Selbstvertretung behinderter Menschen und ihrer Familien finden. Insbesondere beim Kinderschutz, in Kindertageseinrichtungen und bei der Jugendarbeit ist die im Beteiligungsprozess angemahnte Berücksichtigung der Belange und besonderen Bedarfe junger Menschen mit Behinderung und ihrer Familien gelungen aufgegriffen und beim Leistungserbringungsrecht, der Strukturentwicklung, der Qualitätssicherung und Finanzierung berücksichtigt. Von der Zusammenarbeit der Leistungsträger beim Zuständigkeitsübergang, von den Ombudsstellen, der Anforderung, Beratung und Beteiligung in wahrnehmbarer Form durchzuführen, werden junge Menschen mit Behinderung und Eltern behinderter Kinder ebenso profitieren können wie von der Stärkung und Einbeziehung ihrer selbstorganisierten Zusammenschlüsse. Bedauerlich ist, dass auf dem Weg vom Referentenentwurf zum Gesetzentwurf die Verbindlichkeit der Übergangsplanung und der Zusammenarbeit der Jugendhilfe mit der Eingliederungshilfe zum Teil verloren gegangen ist. Sie reduziert die öffentliche Jugendhilfe an dieser Schnittstelle im Wesentlichen auf ihre Funktion als Rehabilitationsträger. Offen bleiben alltagsunterstützende Leistungen für besonders belastete Familien. Von den verbesserten Regelungen der Betreuung in Notsituationen werden Eltern mit Behinderung und Familien mit einem Kind mit Behinderung nur temporär und in Einzelfällen profitieren können. Die Bereitstellung alltagsunterstützender Hilfen für besonders belastete Familien durch die Kinder- und Jugendhilfe bleibt damit eine wichtige Zukunftsaufgabe, um die Teilhabe, Erziehung und Entwicklung aller jungen Menschen zu ermöglichen. Mit dem KJSG wird die Kinder- und Jugendhilfe inklusiver. An den Problemzonen zwischen Jugendhilfe und Eingliederungshilfe Wie aber sieht es an den Schnittstellen insbesondere zur Eingliederungshilfe aus? Der Vorspann zum Entwurf, die allgemeine Gesetzesbegründung und die Begründungen einzelner Regelungen beschreiben die Defizite und liefern viele überzeugende Argumente für den Weiterentwicklungsbedarf zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe und für eine Zusammenführung der Leistungen für alle jungen Menschen unter dem Dach des SGB VIII. Aber es bleiben Lücken. Die rechtlichen Unsicherheiten für Eltern mit Behinderung bleiben ungelöst. Mit dem BTHG wurden Leistungen zur unterstützten Eltern- 112 uj 3 | 2021 Auf dem Weg zu einer Jugendhilfe für alle schaft im Spektrum der Assistenzleistungen (§ 78 Abs. 3 SGB IX) ausdrücklich konkretisiert. In der Praxis geht dieser Anspruch oft ins Leere, da die Abgrenzung zwischen dem Anspruch auf Hilfe zur Erziehung und Leistungen der Eingliederungshilfe auf Elternassistenz und Elternbegleitung, insbesondere bei Eltern mit einer psychischen oder geistigen Behinderung, ungeklärt bleibt. Komplexleistungen könnten hier eine Lösung bieten. Im Beteiligungsprozess ist vielfach und unbestritten deutlich geworden, welche Bedeutung die fachliche Begleitung von Pflegeverhältnissen mit einem Kind mit Behinderung hat. Ebenfalls unbestritten war, dass oft weder die eigentlich zuständige Eingliederungshilfe noch die Kinder- und Jugendhilfe ihren Verpflichtungen nachkommt, diese Pflegeverhältnisse angemessen zu unterstützen und zu begleiten. Es ist unverständlich, dass der Entwurf die seit langem bestehenden Defizite nicht aufgreift. Auch wenn Pflegeeltern und -kinder von Verfahrenslotsen, von der Beteiligung der Jugendhilfe an der Gesamtplanung und der gegenüber dem Referentenentwurf verwässerten Übergangsplanung profitieren können, so wird doch die eigentliche Lösung erneut auf einen Zeitpunkt nach 2028 mit ungewissem Ausgang vertagt. Gefordert ist ein Pflegekinderdienst, der den Standards der Kinder- und Jugendhilfe gerecht wird und der die Pflegefamilien hinsichtlich der behinderungsspezifischen Fragestellungen begleiten kann. Die Betroffenen in beiden Bereichen sind weiterhin auf die Kooperationsbereitschaft und den guten Willen der Leistungsträger angewiesen. Unter den geltenden Bedingungen bewegen sich die Familien und die Leistungsträger zwischen „Wenn alle guten Willens sind, ist fast alles möglich“ und „Beim Geld hört die Freundschaft auf“. Das erzeugt Unsicherheit auf allen Seiten und wird erst überwunden, wenn die Jugendhilfe für alle Leistungen für junge Menschen mit Behinderung und ihre Familien zuständig sein wird. Und das kann dauern. Drei Stufen zur inklusiven Lösung Der Entwurf sieht drei Stufen vor, die zu einer einheitlichen Leistungsverantwortung der Kinder- und Jugendhilfe führen sollen. In der ersten Stufe erhält die Kinder- und Jugendhilfe eine grundsätzlich inklusive Ausrichtung. Sie bekommt einen Beratungsauftrag für alle jungen Menschen und ihre Familien zu Jugendhilfeleistungen und zur Orientierung an den Schnittstellen zu anderen Leistungssystemen (§ 10 a). Darüber hinaus erhält sie die Möglichkeit zur fallbezogenen Zusammenarbeit im Hilfe- und Gesamtplanverfahren. Die Beratung, insbesondere bei Schnittstellenfragen zur Eingliederungshilfe, hilft den Familien und wird die MitarbeiterInnen im Jugendamt an die Lebenslagen, Anliegen und Probleme junger Menschen mit Behinderung und der Familien mit einem Kind mit Behinderung heranführen. Die Einbeziehung insbesondere der Eingliederungshilfe in die Hilfeplanung der Kinder- und Jugendhilfe, die Beteiligungsmöglichkeit des Jugendamtes am Gesamtplanverfahren der Eingliederungshilfe und die Möglichkeit, eine Gesamtplankonferenz zu initiieren, helfen im Einzelfall. Es besteht die Erwartung, dass sich durch die unmittelbare Begegnung mit der Familie und die Betrachtung ihrer Situation aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven gelungene Lösungen finden lassen. Aber auch hier bewegen wir uns weiter zwischen dem guten Willen und dem Geld, bei dem die Freundschaft aufhört. Der Weg ins Jugendamt Damit das neue Beratungsangebot seine Wirkung entfalten kann, müssen die Familien erst einmal den Weg ins Jugendamt finden. So wie die Lebenswelten von Kindern mit und ohne Behinderung vielfach noch getrennt sind, haben auch die Eltern behinderter Kinder keine Idee von einem Jugendamt, das Beratung, Unterstützung und Begleitung bei der Bewälti- 113 uj 3 | 2021 Auf dem Weg zu einer Jugendhilfe für alle gung des Alltags mit einem Kind mit Behinderung und beim Zugang zu dazu notwendigen Leistungen geben kann. Auch die Leistungserbringer der Eingliederungshilfeleistungen werden eher zurückhaltend über die neuen Unterstützungsmöglichkeiten der Jugendhilfe informieren. Sie beanspruchen die fachliche Expertise für die Leistungen für Menschen mit Behinderung. Die Ämter werden vorrangig als Gegenüber bei der Durchsetzung von Ansprüchen ihrer KlientInnen wahrgenommen. Die Verantwortungsgemeinschaft von freien und öffentlichen Trägern ist in der Eingliederungshilfe noch nicht sehr ausgeprägt. Es ist auch eher unwahrscheinlich, dass die MitarbeiterInnen der Eingliederungshilfeträger von sich aus auf die neuen Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten der Jugendhilfe hinweisen werden. Das Deutsche Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung beschreibt in der Sachstandsanalyse für eine Weiterentwicklung und Verbesserung der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen ausführlich die unterschiedlichen Verfahrens- und Sichtweisen von Jugendhilfe und Eingliederungshilfe sowie die Unterschiede in der fachlichen Qualifikation und die Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit. Noch stoßen in der Mehrheit Verwaltungsfachleute der Eingliederungshilfe auf pädagogische und sozialpädagogische Fachkräfte in den Jugendämtern. In einigen Bundesländern trifft eine örtliche Kinder- und Jugendhilfe auf überörtliche Träger der Eingliederungshilfe. Auch das erschwert die gegenseitige Wahrnehmung und die Entwicklung einer Kultur der Zusammenarbeit. Der Träger der Eingliederungshilfe kann von der Beteiligung der öffentlichen Jugendhilfe am Gesamtplanverfahren absehen, wenn dies zu Verzögerungen führen würde. Unter den beschriebenen Bedingungen muss davon ausgegangen werden, dass die Beteiligung der Jugendhilfe am Gesamtplanverfahren regelmäßig als Verzögerung des Verfahrens angesehen wird. Die Abweichungsoption (Artikel 4 § 117 Abs. 6 SGB IX neu) wird damit zum Hindernis. Die Entscheidung zur Beteiligung des Jugendhilfeträgers sollte allein bei den Leistungsberechtigten liegen. Damit die neuen Beratungsleistungen und die Beteiligung am Gesamtplanverfahren die Wirkung für die Familien und die Annäherung von Eingliederungshilfe und Jugendhilfe erreichen können, müssen die Jugendämter diese Angebote offensiv an die betreffenden Familien herantragen. Dazu ist eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit notwendig. Vor allem aber müssen die Beratungspflichten der Eingliederungshilfe in § 106 SGB IX um den zwingenden Hinweis auf die Schnittstellenberatung ergänzt werden. Mit vielfältigen Zustimmungserfordernissen der Leistungsberechtigten ist durch das BTHG eine wesentliche Grundlage für ein partizipatives Bedarfsfeststellungsverfahren geschaffen worden. Partizipation gehört zum Wesenskern der Hilfeplanung der Kinder- und Jugendhilfe. Das ist vielleicht der Grund dafür, dass die Initiierung einer Gesamtplankonferenz nicht unter den Zustimmungsvorbehalt der leistungsberechtigten Person gestellt wurde. Gleiches gilt für die Einbeziehung anderer Sozialleistungsträger und der Schule in das Hilfeplanverfahren. Familien mit einem Kind mit Behinderung und Eltern mit Behinderung haben oft die Erfahrung machen müssen, dass sie um die Leistungen des Sozial- und Gesundheitsbereichs kämpfen müssen. Das Amt wird häufig als das Gegenüber erlebt, dem eine Leistung abgerungen werden muss. Ein Jugendamt, das sich unterstützend an die Seite der Familien stellt, gehört nicht zu ihren Erfahrungen. Deshalb sollten die Beteiligung Dritter an der Hilfeplanung und die Initiierung einer Gesamtplankonferenz nur in Abstimmung mit den Familien erfolgen. Anderenfalls besteht das Risiko, dass die Beteiligung Dritter doch nur als eine weitere Möglichkeit angesehen wird, Verantwortung und Leistungen abzuschieben. Das wiederum gehört sehr wohl zu den Erfahrungen von Eltern mit Behinderung und Familien mit einem Kind mit Behinderung. 114 uj 3 | 2021 Auf dem Weg zu einer Jugendhilfe für alle Zwischen Case-Management und Behindertenbeauftragter Familien mit einem Kind mit Behinderung sind besonders belastete Familien: ➤ Sie können für das Zusammenleben mit einem behinderten Kind und die Erziehung selten auf Erziehungserfahrungen aus der eigenen Familie zurückgreifen. ➤ Sie müssen ihren Kindern besonders förderliche Bedingungen gestalten, damit diese ihre Entwicklungsmöglichkeiten entfalten können. ➤ Sie müssen sich für und gegen Therapien, Förderkonzepte oder medizinische Eingriffe entscheiden. ➤ Sie müssen Pflege, Therapie, medizinische Versorgung, Hilfsmittel und Förderung und Inklusion organisieren und in ihrem Alltag unterbringen. ➤ Oft müssen sich die Eltern auch um die Finanzierung kümmern. ➤ Dabei sollen sie natürlich auch nicht ihre nichtbehinderten Kinder, sich selbst und ihre Partnerschaft vernachlässigen. Viele Eltern behinderter Kinder bewältigen diese Anforderungen, manche auch mit der Unterstützung und Erfahrung anderer Eltern in Selbsthilfeorganisationen. Aber nicht nur schwierige Lebensverhältnisse können dazu führen, dass Familien den Herausforderungen nicht gewachsen sind. Die Überforderungssituation der Eltern stellt ein zusätzliches Entwicklungsrisiko für das Kind dar. Die Funktion des Verfahrenslotsen kann hier helfen und bietet die Möglichkeit, bestehende Mängel abzumildern. Das sind gute Gründe, den Jugendämtern, die sich dazu in der Lage sehen, die Einrichtung der Funktion des Verfahrenslotsen auch schon vor 2024 zu ermöglichen. Um eine wirksame Unterstützung für die Familien leisten zu können, sollten die Verfahrenslotsen auch den Zugang zu den Leistungen anderer Sozialleistungsträger begleiten und mit den Kompetenzen der Jugendhilfe die Eltern unterstützen, ihren Kindern förderliche Lebensbedingungen zu gestalten. Unverständlich ist die Beschränkung der Funktion auf den Übergangszeitraum bis 2028. Mit der erweiterten Aufgabenstellung sollte das Angebot zum Standard der Kinder- und Jugendhilfe gehören. Neben der Case-Management-Funktion erhält der Verfahrenslotse die Rolle des Behindertenbeauftragten des Jugendamtes. Hier sammeln sich Kenntnisse zur Lebenssituation von Familien mit einem Kind mit Behinderung und Eltern mit Behinderung. Behinderungsspezifisches Fachwissen wird gebündelt, um strukturbildend die Zusammenführung der Leistungen für alle jungen Menschen mit Behinderung im Jugendamt vorzubereiten. Deshalb ist es richtig, dass die Funktion des Verfahrenslotsen unmittelbar im Jugendamt angesiedelt ist. Auch mit einem Verfahrenslotsen im Jugendamt werden die ergänzenden unabhängigen Beratungsstellen (EUTB) weiterhin die Beratung von Familien mit einem Kind mit Behinderung und Eltern mit Behinderung anbieten und damit eine „zweite Meinung“ ermöglichen. Die Eingliederungshilfe bleibt noch für lange Zeit der Anlaufpunkt für junge Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung. Deshalb muss die Eingliederungshilfe verpflichtend auf die Funktion des Verfahrenslotsen hinweisen. Es wäre fatal, wenn die wissenschaftliche Begleituntersuchung feststellt, dass Beratung und Begleitung des Jugendamtes nicht in Anspruch genommen werden, weil das Angebot bei den AdressatInnen nicht angekommen ist. Es besteht die Absicht, die Zusammenführung der Leistungen in Angriff zu nehmen So lässt sich die dritte und entscheidende Stufe zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe beschreiben. Die Dialogforen und der Beteiligungsprozess haben gezeigt, dass eine Reform 115 uj 3 | 2021 Auf dem Weg zu einer Jugendhilfe für alle ohne die Zusammenführung der Leistungen für alle jungen Menschen und ihre Familien nicht gelingen kann. Die für den Übergang vorgesehenen Verbesserungen an den Schnittstellen zur Eingliederungshilfe helfen, lassen aber auch die Unzulänglichkeiten erkennen. Da ist es schon enttäuschend, dass nach dem langen Anlauf im Beteiligungsprozess, an dessen Ende Einigkeit über den Handlungsbedarf bestand, die verbindliche Weichenstellung für eine Zusammenführung ausbleibt. Handelt der Gesetzgeber nicht, entfällt der Verfahrenslotse und die Situation junger Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung bleibt unverändert. Das wird den selbstgesteckten Zielen des Gesetzesvorhabens nicht gerecht. Im Beteiligungsprozess gab es ein deutliches Votum für einen einheitlichen Leistungstatbestand der neuen Kinder- und Jugendhilfe. Die in § 10 Abs. 4 des Entwurfs gewählte Formulierung für die Zusammenführung der Leistungen irritiert. Leistungen für junge Menschen mit seelischer Behinderung sollen auch für junge Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung erbracht werden. Es stellt sich die Frage, warum hier nicht auf die Teilhabeleistungen des SGB IX Bezug genommen wird. Ist damit möglicherweise eine Vorentscheidung getroffen, die eine Zusammenführung durch die Erweiterung des § 35 a SGB VIII vorsieht? Wenn die Jugendhilfe der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen und/ oder körperlichen Behinderung zwar das Erdgeschoss freiräumt, aber sonst weitgehend unverändert die obere Etage bezieht, entgeht ihr die Chance, sich zu einer Kinder- und Jugendhilfe für alle weiterzuentwickeln, von deren Veränderungen alle profitieren können. Mit einer klaren Aussage zum einheitlichen Leistungstatbestand oder zumindest mit einer offenen Formulierung könnte an dieser Stelle dem Misstrauen begegnet werden. In diesem Zusammenhang stellen sich auch Fragen nach dem vorgesehenen Zeitplan. Bis Ende 2024 soll die Übernahme der vorrangigen Zuständigkeit der Jugendhilfe für die Eingliederungsleistungen aller jungen Menschen mit Behinderung prospektiv untersucht werden. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung dienen dem Gesetzgeber als Grundlage für die Ausgestaltung des Bundesgesetzes. Es ist zu erwarten, dass grundlegende Entscheidungen über die Art der Zusammenführung bis zum Gesetzesbeschluss offenbleiben. Es ist sehr schade, wenn der im Beteiligungsprozess so vielversprechend begonnene fachliche Dialog über die Ausgestaltung der Zusammenführung für mehrere Jahre unterbrochen wird. Erfahrungen mit der Einführung und Umsetzung des BTHG in der Behindertenhilfe haben gezeigt, dass viele Einrichtungen und Ämter eine ernsthafte Befassung mit anstehenden Veränderungen erst dann in Angriff nehmen werden, wenn sie durch die Gesetzeslage dazu gezwungen werden. Und selbst dann wird gerne nach weiteren Übergangsregelungen und Fristverlängerungen gerufen. Das ist verständlich angesichts der Aufgabenlast, die ohnehin zu bewältigen ist und durch die Reform sicher noch zunehmen wird. Das BTHG sah zwischen dem Gesetzesbeschluss und dem Inkrafttreten der „neuen Eingliederungshilfe“ 2020 einen Zeitraum von drei Jahren vor. Die Zusammenführung der Leistungen im SGB VIII ist sicher nicht weniger anspruchsvoll. Dafür bleibt zwischen Gesetzesbeschluss und Inkrafttreten nur ein Jahr. Eine Umsetzung in diesem Zeitraum ist kaum vorstellbar. Wenn nicht zehn Jahre bis zur Zusammenführung der Leistungen vergehen sollen, müssen mindestens zwei Jahre beim Vorlauf eingespart werden. Eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe kann sich nur entwickeln, wenn junge Menschen mit Behinderung in den Jugendämtern willkommen sind. Die neuen Herausforderungen dürfen nicht zu einer zusätzlichen belastenden Aufgabe, sondern müssen zum neuen Kerngeschäft der öffentlichen Jugendhilfe werden. Dazu muss sie im Hinblick auf die Anzahl und Qualifizierung ihrer Fachkräfte ausreichend ausgestattet werden. Der Gesetzentwurf gibt da- 116 uj 3 | 2021 Auf dem Weg zu einer Jugendhilfe für alle rauf keine Antwort. Ohne ein besonderes Engagement des Bundes wird es kaum gelingen, in den Städten, Kreisen und Gemeinden gute Bedingungen für die Reform zu schaffen. Die gelungene Umsetzung der Netzwerke Frühe Hilfen kann zum Modell für die Umsetzung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe werden. Die AGJ betitelt ihre Stellungnahme mit „Was lange währt, wird endlich gut“. Der Entwurf hat sicher das Potential dazu. Vor allem dann, wenn sich die eine oder andere Anregung aus dem Stellungnahmeverfahren am Ende doch noch im Gesetz wiederfindet. Andernfalls heißt es im Hinblick auf eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe besser: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“ Norbert Müller-Fehling bvkm Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. Tel. 015737287393 E-Mail: norbert.mueller-fehling@bvkm.de www.bvkm.de Literatur AFET − Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. (2020): Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz − KJSG) vom 5. 10. 2020. In: www.afet-ev.de/ themenplattform/ stellungnahme-zum-referentenentwurf-eines-ge setzes-zur-staerkung-von-kindern-und-jugendli chen-kinder-und-jugendstaerkungsgesetz-kjsgvom-05-10-2020, 13. 11. 2020 AGJ (2020): Was lange währt, wird endlich gut: Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen. Stellungnahme zum KJSG-RefE 2020 der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe − AGJ. In: https: / / www.agj.de/ filead min/ files/ positionen/ 2020/ AGJ-Stellungnahme_ zum_KJSG-RefE_2020_01.pdf, 13. 11. 2020 Bundesjugendkuratorium (2020): Inklusive Kinder- und Jugendhilfe nachhaltig ermöglichen! In: www. bundesjugendkuratorium.de/ stellungnahmen, 13. 11. 2020 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSF) (2020): Abschlussbericht Mitreden − Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe. In: https: / / www.mitreden-mitgestalten.de/ me diathek, 13. 11. 2020 Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. (2020): Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz − KJSG). In: www.lebenshilfe.de/ fileadmin/ Redaktion/ PDF/ Wissen/ public/ Stellungnahmen/ 20201026_BVLH_Stellungnahme_RefE_BMFSFJ_ KJSG.pdf, 13. 11. 2020 Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung (2019): Sachstandsanalyse für eine Weiterentwicklung und Verbesserung der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen. In: www. mitreden-mitgestalten.de/ sites/ default/ files/ down loads/ sachstandsanalyse_sgb_viii_final.pdf, 13.11. 2020
