eJournals unsere jugend 73/3

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Kein Fortschritt für Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderung

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2021
Irmgard Handt
Schon lange steht die Schnittstelle zwischen Jugend- und Eingliederungshilfe in der Diskussion. Insbesondere das Thema „Mehr Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe“ steht dabei neben vier weiteren inhaltlichen Schwerpunktthemen (Beteiligung, Kinderschutz, Unterbringung und Prävention im Sozialraum) im Fokus. Der jetzt vorliegende Referentenentwurf zur Novellierung des SGB VIII zeigt dabei Licht und Schatten. Eine erste Bewertung zeigt Stärken und Schwächen auf.
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117 unsere jugend, 73. Jg., S. 117 -120 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art20d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kein Fortschritt für Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderung Referentenentwurf zur Novellierung des SGB VIII schafft weder eine zeitnahe noch zielgruppenorientierte Perspektive Schon lange steht die Schnittstelle zwischen Jugend- und Eingliederungshilfe in der Diskussion. Insbesondere das Thema „Mehr Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe“ steht dabei neben vier weiteren inhaltlichen Schwerpunktthemen (Beteiligung, Kinderschutz, Unterbringung und Prävention im Sozialraum) im Fokus. Der jetzt vorliegende Referentenentwurf zur Novellierung des SGB VIII zeigt dabei Licht und Schatten. Eine erste Bewertung zeigt Stärken und Schwächen auf. von Irmgard Handt Jg. 1966, Sozialarbeiterin, Abteilungsleiterin, Caritasverband Oberhausen e.V. Unzweifelhaft ist die Zeit mehr als reif für einen Veränderungs- und Anpassungsprozess. So machte der Dialogprozess „Mitreden - Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe“ mehr als deutlich, wie groß der Änderungsbedarf an der Schnittstelle Jugendhilfe/ Eingliederungshilfe ist - zum Beispiel in Richtung einer gesamtverantwortlichen Zuständigkeit für alle Leistungsbezüge der Kinder-, Jugend- und Eingliederungshilfe (BMFSFJ 2020). Insgesamt betrachtet, kann dem „Referentenentwurf eines neuen Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen“ (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG 2020) attestiert werden, dass die in der Fachwelt geforderten Parameter aufgegriffen und in einzelnen Normen umgesetzt werden sollen. Kritisiert werden muss in diesem Kontext allerdings die Tatsache, dass die Perspektive bis zur vollumfänglichen Umsetzung mit einer Übergangsphase von sieben Jahren deutlich zu lang bemessen ist. Neben positiven Überlegungen wie beispielsweise der Einführung eines Verfahrenslotsen im Jahr 2024 ist zu kritisieren, dass bis zur endgültigen Umsetzung des Gesamtpakets erst noch ein weiteres Bundesgesetz zu verabschieden ist, in dem konkrete Regelungen zu Personenkreis, Art und Umfang der Leistungen sowie zur Kostenbeteiligung enthalten sein sollen. Damit wird die Klärung wichtiger und grundsätzlicher Fragestellungen zum wiederholten Mal und mit ungewissem Ausgang vertagt. Das wiederum bedeutet, dass sich Schnittstellenprobleme, Umsetzungs- und Zuständigkeitsfragen entsprechend fortsetzen, da es im aktuellen Entwurf keine konkret definierten Lösungsansätze für den Übergang gibt. 118 uj 3 | 2021 Kein Fortschritt für junge Menschen mit Behinderung Im Konkreten geht es hier insbesondere um junge Erwachsene mit einer psychischen Behinderung, die in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe bzw. in einer besonderen Wohnform der Eingliederungshilfe leben und auf dem Weg in ein selbstverantwortliches Erwachsenenleben besonders auf externe Unterstützung angewiesen sind. Diese Personengruppe hat kaum eine Lobby: Oft fällt es ihr schwer, sich für die eigenen Belange einzusetzen. Nun drohen viele Betroffene durch das Netz der Hilfe zu fallen. Insoweit ergibt sich auch hier ein konkreter Regelungsbedarf an der Schnittstelle der Jugendzur Eingliederungshilfe, für den aber im Referentenentwurf kein Lösungsansatz zu finden ist. Grundsatzüberlegungen Im 14. Kinder- und Jugendbericht wird zutreffenderweise festgestellt, dass die Entwicklungsphase zwischen Ende des Jugendalters und dem Erreichen des Erwachsenenalters eine ganz eigene Lebensphase darstellt. Es ist somit obsolet, von festen Zeitpunkten auszugehen, die den Anfang und das Ende dieser Phase festlegen. Damit wird die Jugendphase nicht mit dem 18. Geburtstag beendet und auch das Erwachsensein nicht mit diesem Datum festzumachen sein (BMFSFJ 2013). Der Referentenentwurf berücksichtigt diese Erkenntnis sowie einige entsprechende Forderungen aus der Diskussion um das Gesetz zur Frage der Hilfen für junge Erwachsene. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass sich junge Erwachsene „nicht einfach in einem Teilabschnitt einer verlängerten Jugendphase, noch sich in einem sich veränderten Erwachsenenalter befinden. Diese Phase ist eine ganz eigene Lebensphase des Übergangs“ (BMFSFJ 2013, 186). Diese Phase ist schon für junge Menschen in der Jugendhilfe, die keine Behinderung haben, eine schwierige Phase. Sie benötigen eine gute Begleitung und Beratung. Dieser Umstand ist mittlerweile erkannt worden und der Referentenentwurf trägt dem z. B. mit dem neuen § 41a KJSG Rechnung. Auch die Entwicklungen unter der Überschrift „Careleaver“ - junge Menschen, die die Fürsorge durch stationäre Jugendhilfe verlassen - zeigen, dass diese Sichtweise auf die Phase des Übergangs Eingang in die Fachdebatte und Fachpraxis gefunden hat (Careleaver e. V. 2020). Im Dialogprozess „Mitreden - Mitgestalten“ findet man Interviewaussagen junger Menschen zum psychischen Druck bei anstehender Beendigung der Jugendhilfe, den sie, verursacht durch die unklare Perspektive, erlebt haben (BMFSFJ 2020). Dieser Perspektivwechsel auf das „Erwachsenwerden“ ist ohne Abstriche positiv zu bewerten. Allerdings fehlen in diesem Kontext Antworten auf die besonderen Herausforderungen der jungen Menschen mit einer seelischen bzw. psychischen Behinderung. Gemeint sind Personen, die bisher in einer Jugendhilfeeinrichtung leben und dort zunächst weiterleben wollen und sollen. Gemeint sind hier aber auch junge Erwachsene mit einer Behinderung, die in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe leben, jedoch im Rahmen der Jugendhilfe nach § 41 i. V. m. § 35 a SGB VIII dort untergebracht wurden. Durch die Reform der Eingliederungshilfe mit dem neuen Bundesteilhabegesetz (BTHG) und durch die fehlenden Klärungen im SGB VIII entstehen massive Probleme an der Schnittstelle beider Systeme. Das führt beispielsweise dazu, dass junge Erwachsene entweder gar nicht die Hilfe bekommen, die für notwendig und geeignet angesehen wird. Oder aber, dass in einer Einrichtung der Jugendhilfe bzw. in einer besonderen Wohnform der Eingliederungshilfe unterschiedliche Finanzierungssysteme existieren. Hierdurch erhalten Betroffene mit möglicherweise identischem Krankheitsbild und Hilfebedarf unterschiedliche Leistungen. Konkret führt dieser Sachverhalt auch dazu, dass zwar in Fallkonferenzen des Jugendamtes eine besondere Wohnform der Eingliederungshilfe als geeignete Hilfe angesehen wird, diese aber aufgrund der bestehenden gesetzlichen Unklarheiten letztlich nicht bewilligt wird. 119 uj 3 | 2021 Kein Fortschritt für junge Menschen mit Behinderung Wo liegen die Ursachen? Bis heute leben in Jugendhilfeeinrichtungen junge Menschen, bei denen im Hilfeverlauf eine Behinderung festgestellt wird und die nach Erreichen der Volljährigkeit weiter in der Einrichtung verbleiben (müssen). In dieser besonderen Phase des Übergangs kann es von großer Bedeutung für den weiteren Stabilisierungsverlauf sein, dass diese Menschen ihre vertrauten AnsprechpartnerInnen und MitbewohnerInnen behalten, bis tatsächlich der Schritt in eine eigene Wohnung oder in eine besondere Wohnform der Eingliederungshilfe erfolgen kann. Es braucht auch Zeit bis zu einer Klärung, ob der/ die junge Erwachsene dauerhaft selbstständig leben kann oder eine ambulante Betreuung bzw. eine besondere Wohnform benötigt. Je nach Konstellation bleibt der Kostenträger hier das Jugendamt (§ 41 i. V. m. § 35 a SGB VIII). Es kommt aber durchaus vor, dass die Kostenträgerschaft vom Jugendamt zum Träger der Eingliederungshilfe wechselt - auch wenn der betroffene Mensch weiter in einer Jugendhilfeeinrichtung lebt. Aus der Perspektive des betroffenen Menschen sind das gute Hilfeangebote, die der Übergangsphase vom Jugendlichen zum Erwachsenen Rechnung tragen. Ebenso gab es in der Praxis junge Erwachsene, die im Rahmen der Jugendhilfe (§ 41 i. V. m. § 35 a SGB VIII) in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe leben. Je nach Hilfebedarf kann eine solche Einrichtung genau das richtige Angebot darstellen. Beispielhaft seien hier die Einrichtungen „Christophorus Haus“ und „Schloss Bellinghoven“ genannt - beides besondere Wohnformen der Eingliederungshilfe für junge Erwachsene mit psychischer Beeinträchtigung des Caritasverbandes Oberhausen e. V. Über viele Jahre wurden beide Angebote von Jugendämtern aus ganz Deutschland angefragt. Finanziert wurde jeweils in der Systematik der Einrichtung (hier konkret nach der Systematik und den Vergütungssätzen der Eingliederungshilfe). Im Hilfeverlauf klärte sich dann in der Regel bis spätestens zum 25. Lebensjahr, teilweise aber auch erst etwas später, wie eine dauerhafte Perspektive für die jungen Erwachsenen aussehen kann. Über viele Jahre wurden so junge Erwachsene mit der Jugendhilfe als Kostenträger in einer solchen Einrichtung der Eingliederungshilfe begleitet, gefördert und auf ein selbständiges und eigenverantwortliches Leben vorbereitet - teilweise einschließlich einer Berufsausbildung. Seit Umsetzung der letzten Reformstufe des BTHG treten nun massiv Probleme auf. Kernpunkt dieser letzten Stufe war die Trennung der Leistungen in der Eingliederungshilfe in „existenzsichernde Leistungen“ und „Fachleistungen“. Das bedeutet an dieser Stelle, dass Menschen in einer besonderen Wohnform zum 1. 1. 2020 einen Antrag auf die genannten existenzsichernden Leistungen beim örtlichen Sozialamt stellen mussten und seitdem ihr eigenes Geld zur Existenzsicherung (Geld für Miete, Lebensunterhalt etc.) auf ihr eigenes Konto gezahlt erhalten. Vom Eingliederungshilfeträger werden lediglich die erforderlichen Fachleistungen vergütet. Das gesamte Umstellungsverfahren erstreckte sich über mehrere Monate. Die Leistungen wurden insgesamt neu berechnet. Im Kontext von Jugendhilfeeinrichtungen müsste dies eigentlich bedeuten, dass bei einem anstehenden Wechsel eines jungen Menschen mit Behinderung von der Jugendin die Eingliederungshilfe ebenfalls eine Trennung der Leistungskomplexe durchzuführen wäre. Der junge Mensch müsste also existenzsichernde Leistungen beantragen, die Fachleistungen wären entsprechend mit dem Eingliederungshilfeträger zu verhandeln. Dem ist glücklicherweise schon im BTHG entgegengewirkt worden. „Der Fall eines bzw. einer sich vorübergehend (noch) in einer SGB VIII-Einrichtung befindlichen Volljährigen darf im Fall der Leistungserbringung nach dem SGB IX wie der Fall eines bzw. einer Minderjährigen abgerechnet werden. Auf diese Weise müssen Einrichtungen und Träger der Eingliederungshilfe keine parallelen Abrechnungsstrukturen für Minderjährige und Volljährige führen.“ (DIJuF 2020, 2) Für die umgekehrte Situation der Jugendhilfefälle in besonderen Wohnformen der Eingliede- 120 uj 3 | 2021 Kein Fortschritt für junge Menschen mit Behinderung rungshilfe finden sich hingegen keine Regelungen. Die Leistungen werden nicht getrennt und es müssen eigene Vereinbarungen getroffen werden, wie eine angemessene Vergütung der verbundenen Leistung aussehen kann. Die Gelder gehen dann aber nicht wie bei den anderen KlientInnen auf deren Konto. Dies entspricht einer Ungleichbehandlung Betroffener in gleicher Lebenssituation. Die sich hieraus ergebenden Fragen und Probleme führen dazu, dass Jugendämter keine besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe bewilligen bzw. Belegungsstopps verhängen. Das ist für w. o. betroffene Menschen mehr als tragisch, wenn passgenaue und fachlich anerkannte Förderangebote aus derartigen Gründen nicht bewilligt werden. Was ist zu tun? Zu fordern ist in diesem Kontext, dass auch für junge Erwachsene in besonderen Wohnformen die Trennung der Leistungen möglich ist, damit nicht parallele Abrechnungsstrukturen entstehen und eine Gleichbehandlung der Betroffenen realisiert wird. Es sollte insoweit an einer Regelung gearbeitet werden, bei der die Sinnhaftigkeit der Hilfeart den Ausschlag für eine Bewilligung gibt und nicht die Zuordnung zu einem Kostenträger. Nicht zuletzt an dieser Stelle kommt die Forderung nach einer „großen Lösung“ ins Spiel, die alle Leistungen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung in einem Gesetz bündelt und der besonderen Phase des Übergangs ausreichend Rechnung trägt. Irmgard Handt Caritasverband Oberhausen e. V. Lothringer Straße 60 46045 Oberhausen E-Mail: irmgard.handt@caritas-oberhausen.de Literatur Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (2020): Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zum Entwurf eines neuen Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG). In: https: / / www.bagfw.de/ fileadmin/ user_upload/ Veroeffentlichungen/ Stel lungnahmen/ 2020/ 2020-10-26_Stellungnahme_ St %C3 %A4rkung_von_Kindern_und_Jugendlichen_KJSG.PDF, 16.11. 2020 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ ) (Hrsg.) (2020): Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG). Bearbeitungsstand: 5.10. 2020. In: https: / / www.der-paritaetische.de/ fachinfo/ kinder-undjugendstaerkungsgesetz-referentenentwurf-zurreform-des-sgb-viii-vom-bmfsj-veroeffentlic/ , 16. 11. 2020 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2020): Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung, Mitreden - Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe. In: https: / / www.bmfsfj.de/ blob/ 158532/ c1a544b357ca 570e0aa9688cdafd0b18/ abschlussbericht-mitre den-mitgestalten-data.pdf, 16. 11. 2020 Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2013): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland - 14. Kinder- und Jugendbericht - BT-Drs. 17/ 12200. In: https: / / www.bmfsfj.de/ blob/ 93146/ 6358c96a 697b0c3527195677c61976cd/ 14-kinder-und-ju gendbericht-data.pdf, 16. 11. 2020 Careleaver e. V.: Wer wir sind und was wir wollen? In: www.careleaver.de, 13. 11. 2020 Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. (DIJuF) (2020): Dritte Reformstufe BTHG: Neuregelung § 134 SGB IX und § 142 SGB IX. In: https: / / www. dijuf.de/ files/ downloads/ 2020/ DIJuF-Hinweise_Son derregelung_134 %20SGB %20IX__v._4.2.2020.pdf, 13. 11. 2020