unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Kritische Sexuelle Bildung im Kontext von Herrschafts- und Marginalisierungsprozessen bei Mädchen* und jungen Frauen*
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Lisa Schneider
Anne Kaplan
Karla Verlinden
Alle Menschen haben ein Recht auf sexuelle Bildung – auch marginalisierte Mädchen* und junge Frauen*. Dieses zu unterstreichen, zu erläutern und zu diskutieren dient nicht der „Verbesonderung“, sondern dem Sichtbarmachen einer Gruppe junger Menschen, deren Bedürfnisse im gesellschaftlichen Diskurs und der sexuellen Bildungspraxis oft ungehört bleiben.
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194 unsere jugend, 73. Jg., S. 194 - 200 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art31d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kritische Sexuelle Bildung im Kontext von Herrschafts- und Marginalisierungsprozessen bei Mädchen * und jungen Frauen * Alle Menschen haben ein Recht auf sexuelle Bildung - auch marginalisierte Mädchen* und junge Frauen*. Dieses zu unterstreichen, zu erläutern und zu diskutieren dient nicht der„Verbesonderung“, sondern dem Sichtbarmachen einer Gruppe junger Menschen, deren Bedürfnisse im gesellschaftlichen Diskurs und der sexuellen Bildungspraxis oft ungehört bleiben. von Lisa Schneider Jg. 1984; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Förderpädagogik der Universität Siegen, Gründungsmitglied des Arbeitskreises „Kritische Sexuelle Bildung“, Mitbegründerin und Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins „EXIT - EnterLife e.V.“ 1. Einstieg: Fallbeispiele Zum Einstieg möchten wir drei Fallbeispiele darreichen: 1. Michelle (18 Jahre alt) ist eine junge trans* Frau. Inhaftiert ist sie im geschlossenen Jugendvollzug ausschließlich mit jungen cis Männern, da ihre Transition zur Zeit der Inhaftierung nicht abgeschlossen war. Das bedeutet für sie neben allen Folgen der Haft (Vereinzelung auf der Zelle, keine Möglichkeit, frei zu kochen, zu arbeiten, …) Dr.’in Anne Kaplan Jg. 1982; Akademische Oberrätin im Fachgebiet Soziale und Emotionale Entwicklung in Rehabilitation und Pädagogik an der Technischen Universität Dortmund, Gründungsmitglied des Arbeitskreises „Kritische Sexuelle Bildung“, freie Mitarbeiterin des gemeinnützigen Vereins „EXIT - EnterLife e.V.“ Prof.’in Dr.’in Karla Verlinden Jg. 1981; Professur Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Resilienz an der Katholischen Hochschule NRW (Standort Köln), Gründungsmitglied des Arbeitskreises „Kritische Sexuelle Bildung“, approb. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin 195 uj 5 | 2021 Kritische Sexuelle Bildung und Marginalisierung auch: unfreiwilliger Kontakt zu (vermeintlichen) cis Männern, Konfrontation mit hypermaskulinen Inszenierungen und Abwertungen von trans* Menschen, kein Zugang zu Kleidung, Medikamenten und Kosmetikprodukten. Die Institution sieht Michelle mit dem Geschlecht, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde. Alle Bediensteten und Mitinhaftierten sprechen sie auch so an. Ihre sexuelle Identität verstehen die Psycholog*innen der Institution als „Phase“ und möchten sie in der Therapie bearbeiten. 2. Fabienne (16 Jahre alt) lebt mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung. Sie ist stark in ihrer Mobilität eingeschränkt und benutzt im Alltag einen Rollstuhl. Sie besucht eine inklusive Gesamtschule und geht gerne zur Schule. Im Alltag ist sie bei vielen Tätigkeiten - Essen, Trinken, Waschen, Toilettengang, Lageveränderungen - auf Unterstützung angewiesen. Fabienne hatte noch nie ein Date, hat noch nie jemanden geküsst, hatte noch nie Sex. Sie kennt kaum andere Menschen mit Behinderung, niemanden mit Behinderung, der in einer Partnerschaft lebt; niemals hat sie mit einem anderen Menschen mit Behinderung über Liebe und Sexualität gesprochen. In Filmen und Serien sieht sie nur Repräsentationen von Sexualität von Menschen ohne Behinderung. 3. Milena (21 Jahre alt) lebt in einer Sammelunterkunft für Menschen mit Fluchtbiografie. Sie ist vor sechs Jahren aus Afghanistan nach Deutschland gekommen und hat eine Duldung. Die Duldungsfristen werden allerdings immer kürzer, weshalb ihr Aufenthaltsstatus prekärer wird. Damit verbunden ist ein Arbeitsverbot, weswegen Milena jeden Monat nur knapp 180 Euro zur Verfügung stehen. Milena lebt mit der Angst vor einer Abschiebung. Sie ist lesbisch und lebt in einer Beziehung mit einer anderen Bewohnerin* der Unterkunft - doch der zuständige Mitarbeiter der Ausländerbehörde glaubt, das sei ein Vorwand, um nicht abgeschoben zu werden: Er kenne sonst „keine einzige lesbische Frau aus Afghanistan“, sagt er. Eine Rückkehr nach Afghanistan ist für Milena undenkbar, denn sie geht davon aus, dass sie ihre sexuelle Orientierung dort nicht offen leben kann. Was können diese Beispiele verdeutlichen? Sie zeigen die Marginalisierung und Diskriminierung hinsichtlich verschiedener Herrschaftskategorien: Die Mädchen* und jungen Frauen* erleben neben Sexismen zusätzlich mindestens Rassismen, Ableismen und Transfeindlichkeit. 2. Der Kontext: Diskriminierungs- und Marginalisierungsprozesse bei Mädchen* und jungen Frauen* entlang verschiedener Herrschaftskategorien Die dargelegten Fallbeispiele lassen Lebenslagen erkennen, die mit dem Begriff der sozialen Marginalisierung beschrieben werden. Analytisch präziser und weniger stigmatisierend als andere Begriffe - wie etwa „Bildungsarmut“ oder „Bildungsbenachteiligung“ - beschreibt er sehr deutlich die Lebenssituation von Menschen und den gesellschaftlichen Prozess sozialer Ausschlüsse (Neef/ Keim 2007). Damit werden das unfreiwillige gesellschaftliche „Positioniert-Werden“ unterstrichen und die herrschenden Macht- und Ungleichheitsverhältnisse betont (Ottersbach 2010). Das Leben von Menschen, die sozial marginalisiert werden, ist geprägt von Ausschlüssen gesellschaftlicher Teilhabe und Partizipation in Bezug auf Bildung, Gesundheit, Wohnen, zivile und politische Entscheidungsprozesse, Freizeit und Kultur (Neef/ Keim 2007, 284). 196 uj 5 | 2021 Kritische Sexuelle Bildung und Marginalisierung Ferner soll hier das Konzept der Intersektionalität (Crenshaw 1989) hinzugenommen werden, um Vielfachdiskriminierungen, ihre spezifische Verwobenheit und Potenzierung in den Biografien und Lebenssituationen junger marginalisierter Mädchen* und Frauen* - wie sie in den Beispielen oben beschrieben werden - mitzudenken. Das Konzept der Intersektionalität umfasst klassischerweise die Dimensionen race, class und sex/ gender. Crenshaw legt anhand der Metapher einer Straßenkreuzung (intersection) dar, wie bei der Diskriminierung Schwarzer Frauen wechselseitig die Kategorien race und sex ausgeblendet wurden. Die intersektionale Perspektive stellt auf die Verwobenheit dieser Kategorien ab, gezielt entgegen einer eindimensionalen, additiven Perspektive. Schwarze Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen kritisieren, dass bei feministischen Themen wie Sexualität, Gewalt, Arbeitsteilung oder Sprache ausschließlich die Erfahrungen weißer Frauen problematisiert werden (vgl. hooks 1981; Crenshaw 1989). Eng verbunden ist damit auch die politische Praxis sowie die Betonung emanzipatorischen Handelns (Walgenbach 2012). In diesem Sonderheft soll eine Erweiterung der intersektionalen Perspektive für die Praxis der sexuellen Bildung erfolgen und entsprechend sechs weitere Differenzkategorien aufgenommen werden, die an konkreten Lebenslagen orientiert sind: sexuelle Orientierung und sexuelle Identitäten, un*sicherer Aufenthaltsstatus, Unterbringung in institutionellen Un*freiheitskontexten, Dis*ability und il*legalisierte Arbeit. 3. Sexuelle Bildung junger Mädchen* und Frauen* Sexualität ist zentraler Bestandteil menschlicher Entwicklung, Identität und Gesundheit (WHO 2006). Gerade bei jungen Menschen, die sich noch in ihrer Entwicklung befinden, nehmen Sexualität und sexuelle Identitätsentwicklung einen zentralen Stellenwert ein (Fend 2005, 268). Insofern ist die Begleitung ihrer sexuellen Entwicklung eine zentrale pädagogische Aufgabe, die dem Bereich der sexuellen Bildung zuzuordnen ist. Das Verständnis „sexueller Bildung“, das dieser Sonderausgabe zugrunde liegt, ergänzt und umfasst traditionelle Begriffe wie Sexualpädagogik, Sexualerziehung und sexuelle Aufklärung. Sexuelle Bildung erweitert den zumeist problemorientierten Blick der „klassischen“ sexualerzieherischen und sexualpädagogischen Felder (ohne diesen zu verleugnen) (Sielert 2013) um einen ressourcenorientierten Fokus auf Sexualität. Sexuelle Bildung umfasst selbstbestimmte Lernformen und hat sexuelle Selbstbestimmung auf Grundlage der (sexuellen) Menschenrechte zum Ziel. Durch altersgerechte, subjekt- und themenzentrierte Angebote spricht sexuelle Bildung alle Alters- und Personengruppen an. Gleichzeitig verhindern die Organisationsstrukturen von (sexuellen) Bildungsangeboten oft, auf die heterogenen Bedürfnisse junger Menschen verschiedener Lebenslagen einzugehen und Herrschaftsverhältnisse sowie Machtkontexte, in denen sich junge Menschen und sexuelle Bildner*innen bewegen, zu thematisieren, zu reflektieren und damit (ein Stück weit) zu dekonstruieren (Kleinau/ Siemoneit 2020) - im schulischen Bereich etwa der Versuch, an den obligatorischen Sexualkundeunterricht anzuknüpfen, im Bereich der außerschulischen Bildung bestimmte Förderstrukturen oder (versuchte, u. a. politische) Einflussnahme von außen. Zusätzlich sind die Kontexte, in denen sich die hier angesprochenen Mädchen* und jungen Frauen* befinden, solche, die (fast ausschließlich) durch aufsuchende Arbeit erreicht werden können: Das Gefängnis verdeutlicht die Notwendigkeit aufsuchender Arbeit plakativ, denn es sind tatsächlich Mauern und geschlossene Türen zu „überwinden“, ebenso Kontexte der Sexarbeit/ (Zwangs-)Prostitution usw. Selten suchen diese (jungen) Menschen 197 uj 5 | 2021 Kritische Sexuelle Bildung und Marginalisierung pädagogische Fachkräfte auf (bzw. können es schlicht nicht, wie im Gefängnis) und noch viel seltener fordern sie (sexuelle) Bildung für sich ein. Der Fokus auf „marginalisierte Frauen* und Mädchen*“ geht mit einem Dilemma einher: Das Ansinnen der Sichtbarmachung nicht sichtbarer Gruppen durch die Fokussierung auf ihre „Besonderheiten“, um damit ihr Recht auf (sexuelle) Bildung thematisieren zu können, bei gleichzeitiger Wortergreifung für sie. Dieses Dilemma kann einzig offengelegt und reflektiert werden, denn nur so wird deutlich, woran es eigentlich mangelt: an sicheren Räumen für marginalisierte Mädchen* und junge Frauen*, die sie sich selbst erarbeiten und (mit-)gestalten dürfen, in denen sie sie selbst sein dürfen, ihre Anliegen und Themen einbringen können, in denen sie Gehör finden und einfühlsam begleitet werden. Insofern ist die Anlage dieser Sonderausgabe als Suchbewegung zu verstehen, innerhalb derer der Diskurs sexueller Bildung speziell für diese marginalisierten Gruppen (er-)öffnet werden soll. 3.1 Entwurf für eine kritische sexuelle Bildung An dem skizzierten Dilemma setzt eine kritische sexuelle Bildung an, die auch den analytischen Blick auf sexual- und geschlechtsbezogene Macht- und Herrschaftsstrukturen umfasst und dabei die oben erläuterten theoretischen Prämissen und Implikationen einer intersektionalen und marginalisierungssensiblen Perspektive zugrunde legt. Unter Bezugnahme auf die kritische Theorie bzw. die Theorie kritischer Bildung (Heydorn 1979) und in Ergänzung sexualwissenschaftlicher wie -pädagogischer Aspekte lassen sich mindestens fünf Maximen einer kritischen sexuellen Bildung bestimmen: 1. Kritischer Bildungsbegriff: In einem kritischen Verständnis befindet sich Bildung immer zwischen Emanzipation - also Befreiung - aus Unmündigkeit (Messerschmidt 2007, 48) bei gleichzeitiger Unterwerfung der Subjekte unter den jeweils herrschenden Wertekanon (Heydorn 1979). Bildung ist also immer auch mit der Anpassung der Subjekte an bestimmte (soziale) Gepflogenheiten und Erwartungen verbunden. Diese der Bildung immanente Widersprüchlichkeit lässt sich nie ganz auflösen (Rose/ Koller 2012). Das oben skizzierte Dilemma der Verfasserinnen* stößt in dieselbe Richtung. 2. Bezug zu kritischen Gesellschaftstheorien und Analyse der Verhältnisse: Kritische sexuelle Bildung bezieht sich auf kritische Gesellschaftstheorien, die die gesellschaftlichen Verhältnisse als gestalt- und veränderbar verstehen. Anschlussfähig an die oben skizzierten Ausführungen erscheint die Einnahme einer intersektionalen Perspektive, um ein marginalisierungs- und diskriminierungssensibles Bildungsangebot zu gestalten und bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten bzw. Ungerechtigkeiten wahrzunehmen, zu analysieren, zu reflektieren und möglichst nicht zu reproduzieren. Anzuerkennen ist dabei insbesondere die gegebene Situation von Frauen* und Mädchen*, die durch spezifische sexistische, tradierte Diskriminierungs- und Disziplinierungsverhältnisse geprägt ist, welche sich (mit ihnen) historisch analysieren lassen. 3. Kritische Zeitdiagnosen: Eine solche Analyse wird durch eine kritische Zeitdiagnose ermöglicht. In Bezug auf sexuelle Bildung lassen sich Traditionen, Herrschafts- und Patriarchatspraxen herausarbeiten, mittels derer Mädchen* und Frauen* unterworfen und diszipliniert werden: Angefangen bei der Sexualaufklärung in der Weimarer Republik, die 198 uj 5 | 2021 Kritische Sexuelle Bildung und Marginalisierung darauf abzielte, junge Frauen* vor ungewollten Schwangerschaften und somit der Ächtung als „gefallenes Mädchen“ zu schützen (Herzog 2005), bis hin zu aktueller, schulischer Sexualpädagogik, in der bei der Thematisierung von Masturbation zumeist nur männliche Masturbation angesprochen wird. Bis heute sind sexuelle Bildungsinhalte vornehmlich von weißen Männern* bestimmt und didaktisiert - von Akteuren* also, die selbst (Hetero-)Sexismus, Rassismus und zumeist Klassismus unerfahren sind. 4. Kritik und Reflexion der eigenen Positioniertheit: Unter Hinzunahme dieser historischen Entwicklung sind innerhalb einer kritischen sexuellen Bildung die gegenwärtigen (sozialen) Verhältnisse zu analysieren und zu kritisieren. Das schließt eine reflektierte Auseinandersetzung mit den „vorgegebenen gesellschaftlichen Lebensbedingungen“ (Scherr 1997, 51), den immanenten Herrschafts- und Machtgefügen sowie die eigene (oftmals weiße, akademische, privilegierte) Positioniertheit der Bildner*innen darin ein. Mit Kritik ist in diesem Sinne kein Bemängeln der aktuellen Situation gemeint, sondern eine Analyse und Konzentration auf einen möglichen gesellschaftlichen Wandel: Dazu ist eine stetige kritische Reflexion sexueller Bildung, ihrer Inhalte, ihrer Settings und ihrer Akteur*innen nötig, ebenso wie Kritik an den diese Bildungskontexte rahmenden gesellschaftlichen Verhältnissen. 5. Subjekt- und Lebensweltorientierung: Subjekt- und Lebensweltorientierung meint die Ausrichtung von Bildungsangeboten an den Interessen, Bedürfnissen, Themen und Lebenslagen junger Menschen (Scherr 1997). Das bedeutet, dass die spezifischen Lebenskontexte der Mädchen* und jungen Frauen* und ihre Fragen an sexuelle Bildung zum Ausgangspunkt dieser Bildungsangebote gemacht werden. 3.2 Implikationen einer kritischen sexuellen Bildung im Kontext von Herrschafts- und Marginalisierungsprozessen Für die Praxis einer (kritischen) sexuellen Bildung ergeben sich aus den bisherigen Ausführungen und Maximen mindestens folgende Implikationen (Kaplan/ Schneider 2019): ➤ An erster Stelle die Wahrnehmung, Anerkennung und Analyse der strukturellen Problematiken, die den Lebenslagen junger Frauen* und Mädchen* zugrunde liegen, ihr subjektives Erleben rahmen und ihr Verhalten mitbedingen. Die Prozesse intersektionaler Diskriminierung und Ausschlüsse entlang der oben beschriebenen Herrschaftskategorien und -verhältnisse sind hierfür elementare Wissensbestände der professionell pädagogisch Tätigen und der Mädchen* und Frauen*. Daran anknüpfend steht die Würdigung und Wertschätzung alternativer Lebensentwürfe angesichts einer heterogenen, vielschichtigen und komplexen Welt. Hiermit rückt die Thematisierung, Bearbeitung und Didaktisierung von Themen und Inhalten jenseits eines „bürgerlichen Bildungskanons“ ins Zentrum: Diskussionen und Gespräche zu (eigenen) Diskriminierungserfahrungen, insbesondere Sexismus; Wissensvermittlung (Rechtswissen), Beratung und Empowerment- Übungen zu sexualisierten Missbrauchs- und Gewalterfahrungen; Informationen und Beratung zu (eigenen) Erfahrungen der Sexarbeit und Zwangsprostitution. ➤ Gleichzeitig geht damit ein Sicherstellen der Teilhabe am „humanistischen Bildungskanon“ einher, um die Chance junger Menschen auf Teilhabe an der (bürgerlichen) Mehrheitsgesellschaft zu wahren. Damit ist der Kern einer emanzipatorischen sexuellen Jugendbildung angesprochen: die kritische Auseinandersetzung mit sexualisierten und sexuellen Herrschaftsverhältnissen inklusive (bürgerlich verorteten) 199 uj 5 | 2021 Kritische Sexuelle Bildung und Marginalisierung Themenspektren um Sexualität, Partnerschaft, Liebe, Kinder, Familie, sexuelle Bedürfnisse, Vorlieben, (sexuelle) Rechte und sexuelle Identitätsentwicklung. Diese Form der bildenden Auseinandersetzung kann als „strategisches Lernen“ bezeichnet werden, das sowohl herrschendes als auch marginalisiertes Wissen einbezieht und kritisch reflektiert (Spivak 2012). ➤ Den pädagogischen Professionellen kommt die Verantwortung für die (kritische) Kommunikation und Information der von ihnen vorgefundenen Gegebenheiten an Politik und Gesellschaft im Sinne des „Wissenschafts- und Menschenrechtsmandats“ zu (Staub-Bernasconi 2007, 13ff ), auch, um gesellschaftliche Veränderungsprozesse anzustoßen. Hinzu kommt die Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Positioniertheit und der damit einhergehenden (weißen, akademischen) Privilegien. Damit muss sich auch Zurückhaltung ergeben, etwa um eher gleichgeschlechtliche sexuelle Angebote (besonders für sehr vulnerable Gruppen wie z. B. Mädchen* und junge Frauen* in Haft) zu ermöglichen. Ebenso geht es darum, (Sprech-)Räume freizugeben für BIPOC- und LGBTQIA*-Personen als pädagogisch Handelnde, denn wenn junge Menschen in professionell pädagogischen Bezügen ausschließlich weiße cis Personen (männlich noch dazu) erleben, werden Herrschaftsverhältnisse im Kleinen reproduziert. ➤ Indiziert erscheint zusätzlich die Ermutigung von Mädchen* und Frauen*, sich kritische sexuelle Bildung anzueignen und sich selbst zu bilden. 4. Fazit Die Reflexion bestehender Herrschaftsverhältnisse im Kontext sexueller Bildungsangebote erscheint nach den bisherigen Ausführungen indiziert. Die Verfasserinnen* schlagen hierfür eine Erweiterung vorliegender Konzeptionen und Didaktisierungen sexueller Bildung um eine kritische Perspektive vor. Diese wäre getragen von der Analyse gegebener gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen, der Reflexion der den Bildungssituationen immanenten Machtbedingungen sowie einer Subjekt- und Lebensweltorientierung, hier an denen der betreffenden Mädchen* und jungen Frauen*, ohne weiter zu stigmatisieren und Diskriminierungen zu reproduzieren, sondern indem ihre Wissens- und Erfahrungsbestände ernst genommen und inhaltlich aufgegriffen werden. Lisa Schneider Universität Siegen Adolf-Reichwein-Str. 2 57068 Siegen E-Mail: lisa.schneider@uni-siegen.de Dr.’in Anne Kaplan Technische Universität Dortmund Emil-Figge-Str. 50 44227 Dortmund E-Mail: anne.kaplan@tu-dortmund.de www.see.tu-dortmund.de Prof.’in Dr.’in Karla Verlinden Katholische Hochschule NRW Wörthstr. 10 50667 Köln E-Mail: k.verlinden@katho-nrw.de Tel.: (02 21) 7 75 73 65 Literatur Crenshaw, K. (1989): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. The University of Chicago Legal Forum 139, 139 - 167 Fend, H. (2005): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Springer VS, Wiesbaden Herzog, D. (2005): Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Siedler, München Heydorn, H.-J. (1979): Über denWiderspruch von Bildung und Herrschaft. Büchse der Pandora, Frankfurt a. M. hooks, bell (1981): Ain’t I a Woman. 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Pädagogische Korrespondenz 36, 44 - 59. www.pedocs.de/ volltexte/ 2013/ 7965/ pdf/ PaedKorr_2007_36_Messerschmidt_Von_ der_Kritik_der_Befreiungen.pdf, 31. 10. 2018 Rose, N., Koller, H.-C. (2012): Interpellation - Diskurs - Performativität. Sprachtheoretische Konzepte im Werk Judith Butlers und ihre bildungstheoretischen Implikationen. In: Ricken, N., Balzer, N. (Hrsg.): Judith Butler. Pädagogische Lektüren. Springer VS, Wiesbaden, 75 - 94 Scherr, A. (1997): Subjektorientierte Jugendarbeit. Eine Einführung in die Grundlagen emanzipatorischer Jugendarbeit. In: www.phfreiburg.de/ fileadmin/ da teien/ fakultaet3/ sozialwissenschaft/ sozio/ scherr/ SubjektorientierteJugendarbeit.pdf, 12. 9. 2018 Spivak, G. (2012): Righting Wrongs - Unrecht richten. Diaphanes, Zürich/ Berlin Sielert, U. (2013): Sexualaufklärung, Sexualpädagogik und sexuelle Bildung in Deutschland - Begriffe, Konzepte und gesellschaftliche Realitäten. Sexuologie 20 (3 - 4), 177 - 122 Staub-Bernasconi, S. 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