eJournals unsere jugend 73/5

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Die gesundheitliche Beratung nach dem Prostituiertenschutzgesetz als bedarfsorientierter Beratungsraum für junge Erwachsene in der Sexarbeit

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2021
Giovanna Gilges
Prostitution ist in Deutschland ab dem 18. Lebensjahr legal, womit sie auch von jungen Erwachsenen ausgeübt wird. Zum Stichtag 31.12.2018 zählte das Statistische Bundesamt 32.799 Anmeldungen zur Sexarbeit; aufgrund erheblicher Verzerrungen sind diese Zahlen allerdings nicht repräsentativ (BMFSFJ 2020, 16), da sie nur die genehmigten Anmeldeverfahren zeigen und keine Angabe zur tatsächlichen Zahl aller Sexarbeitenden machen. Im Kalenderjahr 2017 waren 4% der registrierten Personen im Alter von 18–21 Jahren, zu 2018 konnten 6% festgehalten werden (BMFSFJ 2020, 17, 21).
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222 unsere jugend, 73. Jg., S. 222 - 227 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art36d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die gesundheitliche Beratung nach dem Prostituiertenschutzgesetz als bedarfsorientierter Beratungsraum für junge Erwachsene in der Sexarbeit Prostitution ist in Deutschland ab dem 18. Lebensjahr legal, womit sie auch von jungen Erwachsenen ausgeübt wird. Zum Stichtag 31. 12. 2018 zählte das Statistische Bundesamt 32.799 Anmeldungen zur Sexarbeit; aufgrund erheblicher Verzerrungen sind diese Zahlen allerdings nicht repräsentativ (BMFSFJ 2020, 16), da sie nur die genehmigten Anmeldeverfahren zeigen und keine Angabe zur tatsächlichen Zahl aller Sexarbeitenden machen. Im Kalenderjahr 2017 waren 4 % der registrierten Personen im Alter von 18 - 21 Jahren, zu 2018 konnten 6 % festgehalten werden (BMFSFJ 2020, 17, 21). von Giovanna Gilges Jg. 1985; promoviert zum schwangeren Körper im parlamentarischen Politikfeld der Prostitution (2013 - 2017) an der Ruhr-Universität Bochum, Gründungsmitglied der Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung e.V.; berät als Angestellte im ÖGD Sexarbeiter*innen nach § 10 ProstSchG Im Jahr 2017 trat das Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (ProstSchG) in Kraft und erweitert das seit 2002 rechtskräftige Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (ProstG). Seitdem muss nun die Ausübung sexueller Dienstleistungen persönlich angemeldet werden. Zum Anmeldeverfahren sieht das Gesetz in § 10 ProstSchG eine Beratung zu Fragen der Krankheitsverhütung, der Empfängnisregelung, der Schwangerschaft und der Risiken des Alkohol- und Drogengebrauchs vor. Da Sexarbeit in der Tat anspruchsvoll ist, bedarf es eines gewissen Maßes an professionellem Wissen über Sexualität(en), Verhandlungsstrategien und auch an Erfahrungskompetenzen in Schutzmaßnahmen zur Vermeidung von gesundheitlichen Risiken beim Sex (safer sex) und sicheres Arbeiten aus der Arbeitsperspektive von Prostituierten (safer work). Weil der Gesetzgeber sexarbeitende Volljährige unter 21 Jahren als besonders schutzbedürftig und grundsätzlich weniger erfahren betrachtet, ist vorgesehen, sie entsprechend öfter zu Beratungsgesprächen zu bitten, damit öfter auf ihre Lebensumstände eingegangen werden kann. Deswegen darf die Frage gestellt werden, wie viel sexuelle Bildung für junge Erwachsene in dieser gesundheitlichen Beratung stattfinden kann. Die Antwort ist so kurz, wie sie eindeutig ist: Die gesundheitliche Beratung nach ProstSchG ist bedauerlicherweise nicht geeignet, um als bedarfsorientierter Interaktionsraum für stigmatisierte, marginalisierte und/ oder von Rassismus betroffene Sexarbeiter*innen einge- 223 uj 5 | 2021 Sexuelle Beratung und Sexarbeit setzt werden zu können; insbesondere nicht, um sich als ein Ort für sexuelle Bildung für junge Erwachsene anzubieten. Diese Antwort möchte ich zur weiteren Auseinandersetzung etwas ausführen und anschließend eine Perspektive anbringen, die junge Erwachsene im Kontext der Prostitution als weniger defizitär betrachtet. Wie verläuft das Anmeldeverfahren zur Tätigkeit sexueller Dienstleistung? Das Anmeldeverfahren erfolgt in zwei Hauptschritten und ist wie folgt zu skizzieren: Zunächst muss die Person eine gesundheitliche Beratung im Gesundheitsamt oder einer anderen hierfür nach Landesrecht bestimmten Behörde in Anspruch nehmen. Die dort ausgestellte, gültige gesundheitliche Bescheinigung ist eines der vorzuweisenden Dokumente beim Ordnungsamt, bei dem nach einem Informationsgespräch über Rechte und Pflichten und nach Überprüfung der Identität und ggfs. des Aufenthalts- und Arbeitsstatus eine gültige Anmeldebescheinigung ausgestellt werden kann. Auf Wunsch kann die sich anmeldende Person eine zusätzliche Anmeldebescheinigung auf einen selbstgewählten Aliasnamen ausstellen lassen; dann bedarf es eines dritten Schrittes „zurück“ zum Gesundheitsamt, um sich dort auch die dazugehörige gesundheitliche Bescheinigung auf den Aliasnamen ausstellen zu lassen. Die Anmeldebescheinigung ist bei Personen ab 21 Jahren grundsätzlich für zwei Jahre und bei Personen unter 21 Jahren für ein Jahr gültig. Bei Ablauf der Gültigkeitsfrist können die Bescheinigungen entsprechend verlängert werden. Ähnlich gilt das für die Gültigkeitsdauer der gesundheitlichen Bescheinigung. Bei Personen ab 21 Jahren gilt diese für zwölf Monate, wobei Personen unter 21 Jahren alle sechs Monate die gesundheitliche Beratung in Anspruch nehmen müssen (§§ 5 (1), 5 (4), 7 und 10 (3) ProstSchG). Wer meldet sich an? Es melden sich überwiegend Personen an, die in den Arbeitssegmenten tätig sind, die von den Kontrollbehörden leicht(er) zugänglich sind, wie z. B. Bordellhäuser, Straßenstrich und Studios. Ebenso Personen, deren online-Inserate oder online-Präsenz im Allgemeinen durch fehlende Bezahlschranken für Kontrollbehörden leicht(er) zugänglich sind. Weiter meldet sich an, wer nicht illegalisiert arbeiten möchte oder sich dies nicht erlauben kann. Demgegenüber melden sich Personen nicht an, welche aufgrund ihres Aufenthaltsstatus oder ihrer Arbeitserlaubnis keine Anmeldebescheinigung erhalten würden. Sowie Personen, die das Risiko eines Outings nicht eingehen können oder wollen und/ oder sich aus prinzipiellen Gründen nicht anmelden möchten. Ferner melden sich jene nicht an, die ihre Ausübung sexueller Dienstleistung nicht als Prostitution definieren. Begrenzungen der gesundheitlichen Beratung in ihrer Form als verpflichtende Beratung Neben dem gesetzlichen Auftrag, die Personen orientiert an ihrer persönlichen Lebenssituation zu Aspekten ihrer (sexuellen) Gesundheit zur beraten, sieht § 10 (2) ProstSchG vor, dass die Beratung ein Ort ist, an dem etwaige Zwangs- und Notlagen offenbart werden können. Sofern ein Beratungsbedarf bezüglich gesundheitlicher oder sozialer Situation festgestellt wird, kann der/ die Berater*in mit Einverständnis der betreffenden Person möglichst zielgruppenspezifisch vermitteln - damit ist der eigentliche Handlungsradius erreicht. Eine kurz- oder mittelfristige sozialarbeiterische Begleitung der Person ist nicht weiter vorgesehen. Etliche Fachberatungsstellen, Fachvereine und andere institutionelle Verbände äußerten in den vergangenen Jahren erhebliche Kritik an der gesetzlichen Installation dieser gesundheitlichen 224 uj 5 | 2021 Sexuelle Beratung und Sexarbeit Beratung. So hält eine Stellungnahme von Gesundheitsämtern und dem Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des ÖGD fest: „Eine Mitwirkung von Gesundheitsämtern bei der Umsetzung des Entwurfs stimmt nicht mit den geltenden Rechtsnormen überein, da sie im Widerspruch zum bewährten IfSG steht. Sie gefährdet zudem die Erfolge der auf Vertrauen beruhenden Präventionsarbeit der Gesundheitsämter.“ (BVÖGD 2015, 5) Grundvoraussetzung für das Gelingen einer Beratung - so die einstimmige Prämisse der Kritiker*innen - sei es, dass das Beratungsangebot aus freier Entscheidung und als fachliche Kompetenz angenommen wird (GSSG 2014/ 6). Darin liegt der entscheidende Punkt, der die gesundheitliche Beratung nach ProstSchG zu einer sich nie auflösenden Dissonanz erklingen lässt: in der Abwesenheit von Freiwilligkeit und der fehlenden Anonymität. Inwiefern fehlt es der Beratung an Freiwilligkeit und Anonymität? Freiwilligkeit - Nur wer eine gültige Anmeldebescheinigung erhalten hat, ist in der Lage, der Tätigkeit legal nachzugehen. Somit illegalisiert das ProstSchG sexarbeitende Personen, die der Anmeldung nicht nachkommen wollen oder können. Der initiale Anlass, die gesundheitliche Beratung in Anspruch zu nehmen, ist die Verpflichtung zur Beratung, um anschließend eine Anmeldebescheinigung bzw. eine Verlängerung dieser erhalten zu können. Die Deutungshoheit, ob eine solche Beratung individuell notwendig erscheint oder nicht, ist hier also verschoben und obliegt nicht der zu beratenden Person. Die Installation einer verpflichtenden Beratung spricht der Person somit die Freiwilligkeit ab und pauschalisiert ein Wissensdefizit qua Tätigkeit(-svorhaben). Anonymität - Sexarbeitende sind vom sogenannten Hurenstigma (Pheterson 1990) betroffen. Dieses Stigma und das damit verbundene aufgebaute Doppelleben, das viele Sexarbeiter*innen zum Selbstschutz und zum Schutz ihrer Nächsten aufbauen, zählt zu den dominanten Belastungen für die psychische und physische Gesundheit der betroffenen Personen. Individuell bestimmbare Rahmenbedingungen können die sexarbeitende Person dazu befähigen, sich selbstbestimmt gegenüber Dritten zu outen. Das Damoklesschwert eines Zwangsoutings schwebt jedoch täglich über ihnen. Den Gesundheitsämtern ist laut § 34 ProstSchG untersagt, Daten über die beratenen Personen und Inhalte der individuellen Beratung zu dokumentieren, die über die Erhebung betrieblicher Grunddaten hinausgehen. Nichtsdestotrotz ist in dem Verfahren zum Erhalt der gesundheitlichen Bescheinigung eine Anonymität nicht vorgesehen. Denn zur Ausstellung der Beratungsbescheinigung bedarf es der Vorlage des Personalausweises oder Reisepasses. Der Erhalt der gesundheitlichen Bescheinigung kann also nicht ohne Zwangsouting gegenüber der Institution stattfinden. Somit ist der gesundheitlichen Beratung nach ProstSchG das Zwangsouting strukturell inhärent und entzieht der betroffenen Person die Kontrolle. Ein Teil der Sexarbeitenden empfindet die verpflichtende und sich wiederholende Beratung als Zwang. Sie empfinden die Beratungspflicht und die Intention der Beratung als beschämend, infantilisierend, entwürdigend. Konsequenz aus diesen Begrenzungen Die gesetzlichen Vorgaben und die Rahmenbedingungen definieren die gesundheitliche Beratung nach ProstSchG als einen Verwaltungsakt im Anmeldeverfahren und damit als untrennbaren Bestandteil der Regulierung und Kontrollierung der Sexarbeiter*innen. Solange die gesundheitliche Beratung zum Erhalt einer Anmeldebescheinigung verpflichtend ist, wird die gesundheitliche Beratung an der Erfüllung ihrer Intention scheitern. Die ProstSchG-Berater*innen können noch so sehr versuchen, die Beratung so angenehm wie möglich zu gestalten; es wird immer unzureichend sein, denn die bestehende Abhängigkeit wird immer diskriminieren. 225 uj 5 | 2021 Sexuelle Beratung und Sexarbeit Folglich unterscheidet sich der Interaktionsraum dieser gesundheitlichen Beratung erheblich von anderen Interaktionsräumen, in denen sexuelle Bildung, sexuelle Gesundheit und Vertrauensarbeit mit sexarbeitenden Personen verhandelt und/ oder kommuniziert werden kann. Wenn auch die Intention des Gesetzes impliziert, dass insbesondere Sexarbeiter*innen unter 21 Jahren schutzbedürftig seien und in der Beratung ein bedarfsorientierter Interaktionsraum geschaffen werde, in dem Wissensdefizite sexueller Bildung ausgeglichen werden könnten, ist dennoch in der Realität ein halbjährlich stattfindendes, auf ca. 30 Minuten angelegtes Pflichtberatungsgespräch in einem Amtszimmer nicht wirklich der Ort, an dem diese Ziele mit Erfolg etabliert werden können. Ein Perspektivwechsel auf die gesundheitliche Beratung (ProstSchG) Die Person, die in die Beratung kommt, kommt nicht als Privatperson, sondern als selbstständige erwerbstätige. Sie kommt als eine Person, die mit sexueller Dienstleistung Geld verdient. Dieser Logik folgend ist die gesundheitliche Beratung im Kontext eines Anmeldeverfahrens zur Aufnahme der Tätigkeit sexueller Dienstleistung eine arbeitsgesundheitliche Beratung, die aufgrund der Spezifika „Intimität“ und „sexuelles Handeln“, die der Sexarbeit inne sind, in besonderem Maße die körperliche und sexuelle Gesundheit der zu beratenden Personen adressiert. Das ist nicht die einzig gültige Perspektive. Aber es ist die grundlegende Perspektive, die die oben dargelegte diskriminierende Form der gesundheitlichen Beratung adäquat aufgreift. Eine Perspektive, die die Berater*innen innerhalb ihrer Begrenzung darin unterstützt, eine innere Haltung zu entwickeln, und die einen Kompetenzraum schafft, der junge Erwachsene als Sexarbeiter*innen akzeptiert und nicht als grundsätzlich defizitär versteht. Jungen Erwachsenen in der gesundheitlichen Beratung (ProstSchG) begegnen Junge Erwachsene, die die gesundheitliche Beratung in Anspruch nehmen, haben in der Mehrheit zwei Gemeinsamkeiten: 1. Sie sind aufgrund ihres Alters Berufseinsteiger*innen Berufseinsteigende befassen sich möglicherweise erstmalig mit safer work. Für die gesundheitliche Beratung heißt das, dass die Beratung durchaus ausführlicher und intensiver gestaltet werden kann - sofern die beratende Person es wünscht. Für eine berufsnahe Beratung sind die alleinige Vermittlung von Grundkenntnissen zu Präventionsverhalten bei sexuell übertragbaren Infektionen (STIs) und allgemeines Verhütungswissen nicht ausreichend - das Wissen muss stattdessen auf die individuellen Arbeitsrealitäten angewandt werden. Für diese berufsbezogene Wissensübersetzung bedarf es bei den Beratenden ebenso Grundkenntnisse über die verschiedenen Arbeitsrealitäten und über den Gesamtprozess der sexuellen Dienstleistung in den jeweiligen Segmenten. Da nur die wenigsten Berater*innen eigene Berufserfahrung in der Sexarbeit haben dürften, müssen sie sich dieses Wissen aneignen, indem sie sich bspw. mit den verschiedenen Modellen des Straßenstriches (bestenfalls vor Ort) vertraut machen. „Wie in anderen Berufen können sich Theorie und Praxis, Erwartung und Erfahrung, Vorhaben und Realität voneinander unterscheiden“ (Gilges 2019). Es ist für Berufseinsteigende daher wichtig herauszufinden, welches Arbeitssegment mit den eigenen Erwartungen und Kompetenzen und Möglichkeiten übereinkommt sowie wo die aktuellen Wissensdefizite liegen und ob bzw. wie diese abgebaut werden können. Auch das Reflektieren von Arbeitsbelastungen und selfcare sind wichtige Aspekte für ein gesundes und sicheres Arbeiten - oder für den Entscheidungsprozess, mit der Prostitution aufzuhören. 226 uj 5 | 2021 Sexuelle Beratung und Sexarbeit Die gesundheitliche Beratung nach ProstSchG ist keine Einstiegsberatung und kann selbstredend nie den Austausch mit erfahrenen Kolleg*innen ersetzen. Konstruktiver Ausgleich dieser Beschränkung kann jedoch sein, im Beratungsgespräch zu vermitteln, wie relevant der Anschluss an die prostitutionserfahrenen Netzwerke und peer-to-peer-Angebote (z. B. Stammtische, Onlineforen, Seminare) für die eigene psychische Gesundheit und körperliche Unversehrtheit in und während der Arbeit ist (Stichwort: Professionalisierung). Sei es, um über die beruflichen Anstrengungen zu sprechen, sich über die Kundschaft auszulassen, über erlebte Gefahrensituationen oder auch über erfolgreiche und nicht erfolgreiche Grenzziehungen des Arbeits-Ich und Privat-Ich zu sprechen. 2. Junge Erwachsene in der Sexarbeit sind laut der Daten des Statistischen Bundesamtes mehrheitlich Arbeitsmigrant*innen Bei der jüngsten Altersgruppe von 18 - 21 Jahren ist laut Zwischenbericht in den 2.030 Anmeldeverfahren 1.814 mal eine nicht-deutsche Staatsangehörigkeit festgehalten worden. Das heißt, dass 89 % der jungen Erwachsenen bis 21 Jahre einen nicht-deutschen Hintergrund hatten, wovon wiederum insgesamt 62 % eine rumänische Staatsangehörigkeit vorlegten (BMFSFJ 2020, 25). Es handelt sich demnach ausdrücklich um eine Gruppe junger Arbeitsmigrant*innen in der Prostitution. Diese Gruppe ist heterogen und in unterschiedlichem Maße betroffen von strukturellen Rassismen und Sexismen, gesellschaftlichen Zuschreibungen und Erwartungen, von Marginalisierung oder prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen. Um hier der Person im Kontext ihrer Lebenswirklichkeit zu begegnen statt im Kontext eigener Vorurteile und Fremdzuschreibung, braucht es eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Denkmustern als Privatperson. Leitfragen für diesen Reflexionsprozess können bspw. wie folgt lauten: Von welchen Rassismen, Sexismen, Ableismen und Klassismen sind meine Denkmuster geprägt? Was lösen diese Denkmuster in der Betrachtung auf die jungen zu beratenden Personen aus; wie können sie aufgebrochen werden? Welche Erfahrungen haben die zu beratenden Personen mit gesundheitsbezogener Beratung, Sozialer Arbeit und Behörden bisher gemacht? Welches historische Erbe trägt die Beratung, Soziale Arbeit und tragen Ordnungs- und Gesundheitsämter im Umgang mit Prostituierten? Weiter ist eine Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen und ökonomischen Komponenten, die als Pullfaktoren in die Sexarbeit in Deutschland identifiziert werden können, hilfreich. Schlagworte sind hier bspw. Binnenbewegungen, globale Armutsketten und hiesige Zulassungsverfahren ausländischer Ausbildungsqualifikationen. Kurzum ist ein grundlegendes Verständnis von Intersektionalität und Sexarbeit zu entwickeln (s. a. Mauer 2020). Dabei ist eine intersektionale Betrachtung auf die Betroffenheiten und Handlungsfähigkeiten von arbeitsmigrantischen Sexarbeitenden zu üben - insbesondere derer aus ethischen Minderheiten in ihren Herkunftsländern. Die aufenthalts- und sozialrechtliche Situation im Allgemeinen beeinflusst das Gesundheitsverhalten und Gesundheitshandeln der Sexarbeiter*innen maßgeblich. Für nicht-deutsche Sexarbeiter*innen ist der Zugang zum Gesundheitssystem oftmals erschwert und der Krankenversicherungsstatus bei vorübergehendem Aufenthalt in Deutschland unklar; was angemessenes oder notwendiges Gesundheitsverhalten und -handeln beeinträchtigen kann. Die gesundheitliche Beratung wird die Ausgangslage der betreffenden Person nicht ändern (können), sie kann aber entsprechend akzeptieren, dass das Verständnis von Gesundheit bisweilen auch nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen sein kann. 227 uj 5 | 2021 Sexuelle Beratung und Sexarbeit Schlussbemerkungen Damit die Berater*innen des ProstSchG den enormen Anforderungen gereichen können, bedarf es regelmäßiger Qualifizierungsangebote (wie Seminare, Fallbesprechungen und Supervision), die qualitätssichernd wirken und einen Fokus auf den Umgang und die behördlichen Erfahrungen mit sexarbeitenden Personen setzen. Bislang jedoch scheint die Notwendigkeit solcher qualitätssichernden Maßnahmen weder ein Konsens zu sein noch ist der Zugang zu solchen Maßnahmen eine Selbstverständlichkeit. Dafür geeignete Fachleute sind u. a. ➤ Supervisor*innen und Mitarbeitende spezialisierter Beratungsstellen, die eine akzeptierende Haltung gegenüber Sexarbeitenden und der Prostitution als Profession haben, ➤ Fachverbände wie die LAG Recht - Sexarbeit NRW oder das Netzwerk § 10 ProstSchG NRW, ➤ Berufsverbände und Kollektive der Sexarbeitenden wie der Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen oder das Black Sexworker Collectiv, ➤ Wissenschaftler*innen der Sexarbeits-/ Prostitutionsforschung, bspw. der Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung. Abschließend bleibt noch festzuhalten: Um (sexuelle) Gesundheitskompetenzen zu erlernen und/ oder ausführen zu können, benötigt es eine medizinische und gesundheitsberatende Infrastruktur, die Sexarbeitende (regelmäßig) in Anspruch nehmen dürfen und möchten. Je besser die kostenfreie oder -günstige gesundheitliche Versorgungs- und Untersuchungsstruktur kommunal ausgebaut und zugleich für Sexarbeiter*innen ohne festen Wohnsitz in Deutschland zugänglich ist, desto eher kann die gesundheitliche Beratung zur aktivenVeränderung der individuellen Bedingungen motivieren und ggfs. bedarfsorientiert und möglichst kurzfristig vermitteln. Giovanna Gilges E-Mail: gilges@posteo.de Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2020): Zwischenbericht zum Prostituiertenschutzgesetz Mai 2020. In: https: / / www.bmfsfj. de/ blob/ 156998/ bfc0e8295e1bcc04b08159e32e 95281f/ zwischenbericht-zum-prostituiertenschutz gesetz-data.pdf, 12. 12. 2020 Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) und den Amtsleitenden von 22 Gesundheitsämtern in Deutschland: Stellungnahme zum Referentenentwurf des BMFSFJ „Entwurf eines Gesetzes zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen“ 31. 8. 2015. In: www.aidshilfe.de/ sites/ default/ files/ documents/ 2015-09_Stellungnah me_ÖGD.pdf, 12. 12. 2020 Gemeinnützige Stiftung Sexualität und Gesundheit (GSSG) (2014 - 2016): Chronologische Auflistung der Stellungnahmen zum Referentenentwurf. In: www. stiftung-gssg.org/ themen-projekte/ sexarbeit/ stand punkte/ , 12. 12. 2020 Gilges, G. (2019): Arbeitsrealitäten in der Sexarbeit. In: https: / / www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/ themen/ arbeitsrealitaeten-der-sexarbeit, 12. 12. 2020 Mauer, H. (2020): Intersektional regieren. Die Regulierung von Prostitution und Sexarbeit. In: Biele Mefebue, A., Bührmann A., Grenz, S. (Hrsg.): Handbuch Intersektionalitätsforschung. Springer, Wiesbaden Pheterson, G. (1990): Hurenstigma. Wie man aus Frauen Huren macht. Verlag am Galgenberg, Hamburg