unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Junge SystemsprengerInnen – Endstation Wohnungslosenhilfe?
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Isabel Endres
Sprengen unsere Kinder und Jugendlichen heute unsere Hilfs- und Sozialsysteme oder passen unsere Systeme nicht mehr zu unseren Kindern und Jugendlichen? Vom deutschen Jugendwohlfahrtsgesetz (1961–1990), das einer starken Kontroll- und Eingriffsorientierung folgte, zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (seit 1990) als Angebots- und Leistungsgesetz wird es nun Zeit für eine seit 2016 diskutierte Anpassung des SGB VIII.
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262 unsere jugend, 73. Jg., S. 262 - 269 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art43d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Junge SystemsprengerInnen - Endstation Wohnungslosenhilfe? Sprengen unsere Kinder und Jugendlichen heute unsere Hilfs- und Sozialsysteme oder passen unsere Systeme nicht mehr zu unseren Kindern und Jugendlichen? Vom deutschen Jugendwohlfahrtsgesetz (1961 - 1990), das einer starken Kontroll- und Eingriffsorientierung folgte, zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (seit 1990) als Angebots- und Leistungsgesetz wird es nun Zeit für eine seit 2016 diskutierte Anpassung des SGB VIII. von Isabel Endres Jg.1983; Sozialpädagogin B.A., BASA-Studium der Sozialen Arbeit an der Hochschule Koblenz, Streetworkerin und Einrichtungsleitung einer Wohnungsloseneinrichtung des Caritasverbandes Trier e.V. Die Welt um unsere Kinder und Jugendlichen, aber auch um deren Eltern und Bezugspersonen, dreht sich schneller, wird immer vielfältiger und individueller. Stressfaktoren, Überlastungssituationen und Erwartungshaltungen an die zukünftigen Generationen steigen ständig. Globalisierung und Digitalisierung haben vor allem die Welt von Familien auf den Kopf gestellt. So kommt man schnell zu dem Schluss, dass bestehende Systeme gesprengt werden, oder aber, dass die Systeme nicht mehr den Anforderungen genügen. Schon immer wurden die„Marotten“ der Jugend als Dauerthema diskutiert. Ja, sie sprengen unsere Systeme mit ihren „Marotten“, welche sie durch Stress, traumatische Erlebnisse, fehlende Bindung, Pubertät, erlerntes Suchtverhalten u. a. entwickelt haben. Über wen sprechen wir, wenn wir „SystemsprengerInnen“ einem bestimmten KlientInnenkreis zuordnen wollen? Die Klientel der „SystemsprengerInnen“ begrenzt sich auf „Menschen, welche ➤ häufig mit psychischen Erkrankungen, insbesondere Psychosen oder kognitiven Einschränkungen ➤ und/ oder chronischen Suchtmittelgebrauch mit zumeist erheblichen Folgeschäden auf körperlicher und/ oder psychischer Ebene [leben]; ➤ keine oder mangelnde Krankheitseinsicht bzw. Einsicht in bestehenden Problemlagen ➤ keine oder mangelnde Mitwirkungsbereitschaft oder Mitwirkungsfähigkeit ➤ häufiges gewalttätiges und/ oder stark herausforderndes Verhalten ➤ soziale Isolation und Vereinsamung ➤ keine oder mangelnde Fähigkeit, Hilfebedarf zu formulieren oder Hilfen in Anspruch zu nehmen, ➤ akute Wohnungslosigkeit oder bedrohte oder prekäre Wohnverhältnisse ➤ …“ (Ruhstrat 2019, 1- 34) haben. 263 uj 6 | 2021 SystemsprengerInnen: Endstation Wohnungslosenhilfe? SystemsprengerInnen in der Wohnungslosenhilfe In der Arbeit mit wohnungslosen Menschen finden sich heute kaum KlientenInnen, die nicht der Beschreibung der„SystemsprengerInnen“ entsprechen. Menschen, die durch alle Anspruchs- und Geltungsbereiche anderer Sozialbücher gefallen sind, werden im § 67 SGB XII „als Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind“, zusammengefasst. Der größte Teil dieses Personenkreises hat multiple psychosoziale Probleme. Nach oft schwierigen Kindheits- und Lebensgeschichten sind diese Menschen in verschiedene Süchte abgerutscht. Diese reichen von exzessivem Alkoholkonsum, Konsum von Legal Highs bis zu Medikamentenmissbrauch. Bei den meisten KlientInnen der Wohnungslosenhilfe liegen schon vor der Suchterkrankung andere psychische Erkrankungen wie bspw. Persönlichkeitsstörungen unterschiedlicher Formen vor. Auch posttraumatische Belastungsstörungen sind häufig der Anfang einer Suchterkrankung und bei den KlientInnen immer häufiger zu beobachten. Merkmale von Kindern und Jugendlichen als SystemsprengerInnen Kinder und Jugendliche in der Wohnungslosenszene stammen in der Regel aus schwierigen familiären Verhältnissen aus der unterprivilegierten Bevölkerungsschicht mit häufig geringem Bildungsstand. Jugendliche SystemsprengerInnen kommen meist aus einem stark sozial benachteiligten, häufig von psychischer und / oder körperlicher Gewalt geprägten Familienumfeld. Neben traumatischen Erlebnissen bringen sie erschütternde Lebensgeschichten - von Verwahrlosung bis zu Misshandlung - mit. Sie genossen keine bis wenig Erziehung und weisen demzufolge Erziehungs- und Entwicklungsdefizite auf. Diese spiegeln sich in Verhaltensauffälligkeiten und gestörtem Sozialverhalten wider.OftfehltesdenjungenSystemsprengerInnen an Sicherheit und gesunden, stabilen Bindungen in ihrer bisherigen Kindheit. Neben den erlebten innerfamiliären Konflikten und Problemen hatten diese Kinder und Jugendlichen in ihren Herkunftsfamilien häufig enge Berührung mit den Alkohol- und Suchterkrankungen ihrer Eltern: Die Auswirkungen dieser elterlichen Suchterkrankungen erfahren sie in der Familie häufig durch Gewalt sowie Vernachlässigung. Eltern solcher Familien haben selbst wenige soziale und personelle Kompetenzen und somit fehlende Handlungskompetenzen im Umgang mit sich selbst und ihren Kindern. Zusätzlich sind sie zu 50 % alleinerziehend und leben zu 25 % mit neuen PartnerInnen zusammen. Dies lässt zusätzliche Konflikte und Probleme entstehen (Güther 2015, 39ff; Schleiffer 2014, 89ff; Moggi 2014, 3f; Tretter 2017, 50f ). Neben einer Suchterkrankung liegen empirisch häufig andere psychische Erkrankungen vor, aber auch Stress jeglicher Art ist ein hoher Risikofaktor für Suchterkrankungen. Weit verbreitete psychische Begleiterkrankungen von Suchterkrankungen sind Psychosen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, selbstverletzendes Verhalten, schizophrene Persönlichkeitsstörungen und Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen. Ob eine psychische Erkrankung der Suchterkrankung vorgelagert ist oder aus der Suchterkrankung eine zusätzliche psychische Erkrankung entsteht, ist häufig schwer zu bestimmen. Dies ist aber für Merkmale der „SystemsprengerInnen“ wichtig zu benennen. Bei jungen Wohnungslosen sind immer mehr drogeninitiierte Psychosen und ausgeprägte Schizophrenien zu finden. Diese sind häufig, durch Uneinsichtigkeit der Erkrankung sowie des anhaltenden Konsums, unbehandelt oder auch schon medikamentös austherapiert. Durch die psychischen Erkrankungen sowie den Suchtdruck kommen diese Menschen häufig mit der Polizei und dem kommunalen Vollzug in Kontakt - beispielsweise wegen Drogenbesitzes und -handels, Diebstählen und 264 uj 6 | 2021 SystemsprengerInnen: Endstation Wohnungslosenhilfe? Gefahr für andere und/ oder sich selbst. Häufig endet die Begegnung mit ordnungsrechtlichen Unterbringungen in Ausnüchterungszellen, Psychiatrien (mit und ohne rechtlichen Beschluss) sowie Strafvollzugsanstalten. Jugendliche und Kinder lernen aus der Beobachtung ihrer Umwelt und ganz besonders über ihre engsten Bezugspersonen. Deshalb ist die Verhaltensauffälligkeit der Eltern eine Vorlage, welche das Kind in seiner weiteren Entwicklung prägt und formt. Sind Gewalt, Sucht und deren Auswirkungen normaler Alltag im Leben des Kindes, integriert es diese auch in sein eigenes Leben (Moggi 2014, 3f; Tretter 2017, 50f ). Beobachtungen aus der Praxis Tatsächlich beobachtet man in der Wohnungslosenhilfe mit jungen Erwachsenen aus Jugendhilfemaßnahmen negative Entwicklungen zu Suchtproblemen, ordnungsrechtlichen und strafrechtlichen Vergehen und zu psychischen Auffälligkeiten und Erkrankungen. Ordnungsrechtliche und strafrechtliche Vergehen sind in der Praxis tendenziell mehr bei minderjährigen Ausreißern aus sozial schwachen Familien zu beobachten. Nicht selten haben diese jungen Erwachsenen verschiedene ambulante, teilstationäre und stationäre Leistungsangebote, wie z. B. Pflegefamilien und Jugendhilfeeinrichtungen nach § 27 - § 35 a SGB VIII, durchlaufen. Jugendhilfemaßnahmen haben häufig den Nachruf, die „Negativkarrieren“ der Kinder und Jugendlichen zu begünstigen, und belegen diese oft mit Stigmen. Einschränkungen ihrer Individualität und ihrer persönlichen Freiräume im Heimsetting wirken sich kriminalisierend aus und bringen weitere weitreichende Probleme mit sich. Unterschiedliche Studien stellen heraus, dass sich die Entnahme aus der Stammfamilie, die Trennung von der Bezugsperson sowie die ungünstigen Einflüsse eines Heimes negativ auf die Entwicklung dieser jungen Menschen auswirken. Allerdings sind hier oft weitere Einflussfaktoren wie Schule, Freunde und Familie nicht beachtet (Schlieffer 2014, 94ff ). Kritische Sichtweise auf heutige Jugendhilfemaßnahmen Häufig werden Jugendhilfemaßnahmen nur kurzfristig finanziert und zu früh abgebrochen. Nachweislich sind Erfolge für die Kinder und Jugendlichen erst ab einer Maßnahmendauer von zwei Jahren ersichtlich und stabil angelegt. Die Einbindung der Stammfamilie ist ein wichtiger Faktor, damit diese das Gefühl hat, für die erfolgreiche Entwicklung ihrer Kinder mit verantwortlich zu sein und ihren Anteil durch eine gute Zusammenarbeit mit der Jugendhilfeeinrichtung zu leisten. Kinder und Jugendliche bekommen ein Gefühl von Sicherheit und Bindung zur Stammfamilie. Entsteht hier eine vertrauensvolle und partnerschaftliche Beziehung auf professioneller Ebene, können Abbrüche und Maßnahmenwechsel verringert werden (Günder 2015, 35ff ). Wichtige Wirkfaktoren sind die Dauer der Maßnahme, Nachsorge sowie die Beziehungsqualität zwischen allen beteiligten Personen der Hilfemaßnahme. Das verringert das Abbruchsrisiko und erhöht die Hilfequalität signifikant. Bindung und Beziehungsarbeit sind das A und O Die Entwicklung der Bindungsbeziehung bei Kindern wirkt in vier Phasen und wird bis zum vierten Lebensjahr grundlegend geprägt (Schleiffer 2014, 32f ). Fehlende mütterliche Fürsorge oder eine fehlende ersatzweise enge und dauerhafte Beziehung zu einer anderen erwachsenen Person schädigt Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung. In der frühen Bindungstheorie von Bowlby wurden in einer empirischen Forschungsstudie 44 verhaltensauffällige Jungen und deren Lebensgeschichte untersucht. Hier gewann man erste Erkenntnisse, dass eine frühe Eltern-Kind-Trennung die Entwicklung negativ beeinflusst und zu psychischen Störungen führt (Bowlby 1944, 19 - 52). Es gibt Zusammenhänge zwischen emotionaler und kognitiver Leistungsfähigkeit: Kinder 265 uj 6 | 2021 SystemsprengerInnen: Endstation Wohnungslosenhilfe? und Jugendliche mit unsicheren Bindungserfahrungen sind häufig wenig emphatisch, haben nur wenige soziale Kompetenzen und oberflächliche Freundschaften und Beziehungen. Oft fehlt ihnen ein gutes Verständnis von Ursache und Wirkung sowie moralisches Urteilsvermögen. Dies führt wie bei systemsprengenden Kindern und Jugendlichen zu psychosozialen, ordnungsrechtlichen und gesundheitlichen Folgen. Ihnen fehlt es an gesundem Erkundungsverhalten, welches für einen sicheren Umgang mit der Umwelt und für die Entwicklung eines guten Selbstkonzeptes nötig ist. Neben den essenziellen Bindungserfahrungen spielen weitere Einflussfaktoren, welche in Wechselwirkung zueinander stehen, eine bedeutende Rolle für eine gesunde Kindesentwicklung. Doch junge SystemsprengerInnen bringen verschiedene Bindungsbrüche in ihren Lebensgeschichten mit und zeigen häufig vermeidendes, gespaltenes oder desorganisiertes Bindungsverhalten. Nur in seltenen Fällen sind oder waren bisher sichere Bindungen vorhanden (Schleiffer 2014, 55ff ). Neben drogeninitiierten, psychischen Erkrankungen sind gerade diese desolaten Bindungsgeschichten die Auslöser für viele psychiatrische Diagnosen und Verhaltensauffälligkeiten bei SystemsprengerInnen in der Wohnungslosenhilfe. Zwei Drittel der wohnungslosen Menschen sind nach der Seewolfstudie psychisch krank (Rosenke 2017, 33f ). Dies scheint an den beschriebenen Bindungsbrüchen und traumatisierenden Lebenserfahrungen zu liegen, aber vor allem auch am Konsum neuer Substanzmittel wie verschiedener Legal Highs. Diese werden häufig selbst hergestellt und deren Wirkung ist oft nicht abschätzbar. Sie wirken meist halluzinierend und lösen schwere Psychosen aus, die oft langanhaltend und chronifizierend sind. Deren Auswirkungen sind häufig emotional übertriebene Ausbrüche in Form von Gewalt gegenüber sich selbst und anderen. Wohnungslose Menschen mit Suchterkrankungen und psychischen Erkrankungen haben auch nach Suchttherapien oder psychiatrisch-medikamentösen Einstellungen kaum eine realistische Perspektive auf ein normales Leben, denn eine intrinsische Motivation ist nicht aufrechtzuerhalten, wenn Grundbedürfnisse wie Wohnung und Nahrung nicht befriedigt werden. Auch benötigt jeder Mensch etwas, in dem er wirken kann, wie bspw. einen sinnerfüllenden Arbeitsplatz. Ohne eine Wohnung bekommt man selten eine Anstellung oder hält den Arbeitsplatz nicht lange durch. Durch diese Perspektivlosigkeit bleiben suchterkrankte und/ oder psychisch-kranke Wohnungslose in ihrer Welt und nutzen Drogen und Alkohol als „Selbstmedikation“, um ihre Traumata und Lebensschicksale zu ertragen. Wohnungslose Kinder und Jugendliche in Zahlen Im Beitrag „37.000 junge Menschen ohne Zuhause“ in der„Neuen Caritas“ werden Ergebnisse einer Studie des deutschen Jugendinstitutes zusammengefasst (Reißig/ Beierle 2018,19 - 23): Gerade bei Vollendung des 18. Lebensjahres fallen viele Jugendliche aus dem Hilfesystem der Jugendhilfe heraus und sind auf sich gestellt. Auffällig ist die hohe Zahl der 18- und 19-jährigen Jugendlichen, denn knapp 30 % der wohnungslosen Jugendlichen liegen in dieser Altersgruppe. Mit zunehmendem Alter sinkt der Anteil wieder. 15 % sind 15 - 16 Jahre und 10 % sind unter 15 Jahre alt. Bei den Minderjährigen überwiegt der Anteil der Mädchen, da sie durch die Pubertät häufig frühreifer sind. Ab dem 21. Lebensjahr überwiegt wieder deutlich der Anteil der Jungen. Der Anstieg der männlichen Wohnungslosen wird in den geschätzten Zahlen der wohnungslosen Männer, Frauen und Kinder in Deutschland vom Jahr 2018 der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) deutlich. So lag 2018 der Anteil der Wohnungslosen in Deutschland bei 67 % Männer, 25 % Frauen und 8 % Kinder (BAG 2019; Neupert 2017). Frauen ohne Wohnung gehen sehr schnell sexuelle Beziehungen ein. Sie finden über diese einvernehmliche sexuelle Beziehung immer wieder ein Obdach bei häufig wechselnden Partnern. 266 uj 6 | 2021 SystemsprengerInnen: Endstation Wohnungslosenhilfe? Anpassung des Leistungsangebotes der Jugendhilfe Nach der Volljährigkeit besteht die Möglichkeit einer Nachbetreuung nach § 41 SGB VIII, in der Regel bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres und in bestimmten Fällen darüber hinaus. Hierdurch haben die jungen Erwachsenen mit Entwicklungs- und Erziehungsdefiziten die Chance, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung „nachzureifen“ und ein eigenverantwortliches Leben führen zu können. Doch in der Realität brechen diese jungen Menschen spätestens mit Erreichen der Volljährigkeit aus den Systemen der Familien- und Jugendhilfe aus oder verlassen ihre schwierige Familiensituation meist schon vor der Volljährigkeit. Nach einem Abbruch einer angedachten Jugendhilfemaßnahme nach § 41 SGB VIII gibt es in der Praxis kein Zurück mehr. Häufig enden Jugendhilfemaßnahmen mit der Volljährigkeit, entsprechende erweiterte Angebote sind nicht oder zu wenig implementiert. Zusätzlich sind diese mit einer Freiwilligkeit der Jugendlichen verbunden. Häufiger brechen diese Jugendlichen aus dem Hilfeverbund aus und merken nach kurzer Zeit, dass sie nicht die nötigen Handlungskompetenzen für ihre Selbstständigkeit besitzen. Dies liegt vor allem daran, dass Kinder und Jugendliche aus Jugendhilfemaßnahmen nicht früh genug und zu wenig auf das Leben nach dem 18. Lebensjahr vorbereitet werden. Einrichtungen und deren Fachpersonal arbeiten mit den Jugendlichen in häufig zu engen Settings. Im pubertären Alter wollen Jugendliche Grenzen testen und auch überschreiten dürfen. Sie wollen sich ausprobieren und trotzdem wieder aufgefangen werden. Gibt man ihnen diese Möglichkeit nicht oder zu spät, werden sie die erste Chance der Volljährigkeit nutzen, um selbstständig und selbstbestimmt zu leben. Eine frühe Verselbstständigung in Wohngruppen für Jugendliche benötigt daher gelockerte Strukturen und Freiräume zur persönlichen Entwicklung. Die Jugendlichen müssen selbstständig Aufgaben übernehmen: ihre Wäsche selbst waschen, Selbstversorgung mit Lebensmitteln gesundes Kochen lernen sowie ihre Finanzen nach und nach selbst verwalten. Ihnen sollte, lang bevor sie volljährig werden, eine neue Option zur Verselbstständigung in Aussicht gestellt werden, damit sie weiter in der Ausgliederung aus dem Jugendhilfesystem begleitet werden. Eine rechtzeitige Ausgliederung in die eigene oder vorübergehende Anmietung von Wohnraum über den Träger mit zusätzlicher ambulanter Hilfe über das SGB VIII ist eine Möglichkeit. Somit kann der/ die Jugendliche weiter begleitet und an die Selbstständigkeit herangeführt und stabilisiert werden. Hier fehlen Konzepte solcher Anschlussmaßnahmen seitens der Jugendhilfeträger. Auch die Jugendämter sind erfahrungsgemäß sehr zurückhaltend mit Bewilligungen weiterführender Maßnahmen über die Volljährigkeit hinaus. Im § 41 SGB VIII Absatz 3 ist jedoch klar formuliert, dass die Jugendlichen auch nach Beendigung der Hilfe bei der Verselbstständigung im notwendigen Umfang beraten und unterstützt werden sollen. Hierfür muss der junge Mensch mithilfe des bisherigen Jugendhilfeträgers diese Hilfe einfordern und eine individuelle Hilfeform vorhalten. System gesprengt - junge SystemsprengerInnen ohne Perspektiven Sind die jungen Erwachsenen erst aus dem System der Jugendhilfe ausgeschieden, ist der Zugang häufig sehr schwierig, da sie meist irgendwo unterkommen. Junge Wohnungslose werden häufig auch als Sofa- oder Couchhopper bezeichnet, weil sie zumeist wohnungslos sind und ihre Unterkünfte häufig wechseln. Sie kommen kurzzeitig bei Freunden oder deren Familien unter, werden geduldet bei Familienangehörigen oder sind in Abhängigkeitsbeziehungen zu ihrem vermeintlichen Vermieter. Sie sind demnach ohne eigenen Wohnraum und somit ohne Meldeadresse. Obdachlos, das heißt ohne ein Dach über dem Kopf, findet man nur wenige Jugendliche. Die Anzahl der Jugendlichen in Notunterkünften oder wechselnden öffentli- 267 uj 6 | 2021 SystemsprengerInnen: Endstation Wohnungslosenhilfe? chen Schlafplätzen auf der Straße ist eher gering; im Durchschnitt sind Jugendliche ein Jahr auf der Straße. Diese Zeit verlängert sich, je älter die jungen Erwachsenen werden. Im Rahmen einer Studie gaben die befragten Jugendlichen als Hauptgrund für ihr Leben auf der Straße familiäre Probleme oder schwierige Familienkonstellationen an. Folgend wurden physische, psychische und emotionale Gewalt wie Missbrauch oder Vernachlässigung, aber auch sozialstrukturelle Gegebenheiten wie Armut angegeben. Ferner sind persönliche Problemlagen wie Sucht, Schulden oder der falsche Freundeskreis Gründe, weshalb Jugendliche auf der Straße leben. Nicht passende Maßnahmen oder ständige Wechsel der Jugendhilfemaßnahmen sind unterdessen Auslöser (Reißig/ Beierle 2018/ 01, 19 - 23). Niedrigschwellige Angebote werden häufig nicht angenommen: Straßensozialarbeit stößt hauptsächlich auf Jugendliche in der Drogenszene und schwer psychisch-kranke Jugendliche, welche orientierungslos auf der Straße stranden. Notübernachtungseinrichtungen werden von jungen Obdachlosen nur selten oder sporadisch in Anspruch genommen, da sie sich wenig mit anderen Übernachtenden und deren Notlagen in diesen Unterkünften identifizieren können. Meist liegt der Altersschnitt über dem eines jungen Erwachsenen. Einhalten von Hausordnungen und Regeln sowie sozial ungewollte Kontakte werden von Jugendlichen gern vermieden. Auch möchten SystemsprengerInnen nicht in ihren Freiheiten und Selbstbestimmungsrechten eingeschränkt werden. Somit sind eine freiwillige Unterbringung in gemeindepsychiatrischen Einrichtungen oder stationäre Wohnungsloseneinrichtungen nicht realistisch - SystemsprengerInnen passen nicht in die derzeitigen Angebote des Sozialsystems. Sozialrechtliche Schnittstellen Ohne eine Anbindung an eine soziale Einrichtung oder Beratungsstelle finden Jugendliche sich im Leistungsrecht der Sozialgesetze und deren Beantragung nicht zurecht. Die Folgen: keine Leistungen in Form von Unterhalt oder Kindergeld; keine Leistungen im Rahmen von SGB II, SGB III oder SGB XII; fehlender Krankenversicherungsschutz; Schulden, Diebstahl, Wohnungslosigkeit; fehlende Perspektiven. Wegen möglicher anderer Ansprüche im SGB werden erweiterte Jugendhilfemaßnahmen über die Volljährigkeit hinaus häufig nicht bewilligt und vorgehalten. Somit liegt es in der Hand der Jugendhilfeträger, Verselbstständigungs-Konzepte zu erstellen und den Bedarf bei den Jugendämtern zu melden. Es darf nicht dazu kommen, dass Jugendliche in Obdachlosenunterkünften landen und Gefahren für die wichtige Entwicklungsphase der Selbstbestimmtheit und Selbstständigkeit ausgesetzt werden, welche sie in ihrer weiteren Entwicklung schwer beeinträchtigen. Sie kommen dort mit schwerst suchtkranken Menschen, d. h. mit allen bekannten Drogen in Kontakt. Sie erleben sowohl körperliche als auch psychische Gewalt gegenüber anderen und sich selbst. Sie lernen durch andere, auf der Straße zurecht-, anstatt von der Straße weg zu kommen. Auch wenn sozialpädagogische Arbeit in Wohnungsloseneinrichtungen vorgehalten wird, ist diese selten an die Bedürfnisse junger Menschen angepasst. Keiner der Hilfen nach SGB XII ist auf jugendspezifische Entwicklungsdefizite oder Bedürfnisse ausgelegt. Der Altersschnitt liegt auch hier weit über dem Jugendalter. Hier sieht das Sozialgesetz wiederum die Kinder- und Jugendhilfe vor, die jedoch nicht ausreichend Bedarf zur Erstellung jugendspezifischer Angebote für suchterkrankte, psychisch- und ordnungsrechtlich auffällige junge Wohnungslose und SystemsprengerInnen sieht. Hier klafft im sozialen Netz ein großes Loch: Die Jugendlichen fallen durch die Jugendhilfe in Hilfesysteme der Gemeindepsychiatrie und der Wohnungslosenhilfe, die aber nicht altersgerecht angepasst werden und sogar weitere Schäden verursachen. Die stationären und ambulanten Angebote richten sich nicht auf die individuellen Hilfebedürfnisse der KlientInnen aus, sondern bieten für bestimmte, fixe Prob- 268 uj 6 | 2021 SystemsprengerInnen: Endstation Wohnungslosenhilfe? leme ein Angebot. Träger und Einrichtungen haben sich zu stark auf einzelne Hilfsangebote spezialisiert. Somit werden KlientInnen, die nicht in eine Schublade des bestehenden Systems passen, zu „SystemsprengerInnen“. Um ihnen die richtige Hilfe zu bieten, brauchen wir kein weiteres Angebot, denn dieses ergibt sich aus der Persönlichkeit der KlientInnen, deren Bedürfnissen und Zielen. Träger und Sozialbehörden müssen sich für multiple Probleme öffnen und passende Konzepte entwickeln. Dies ist durch unsere Sozialgesetze machbar. Oft streitet man hier aber über die Kostenzuständigkeit. Schnittstellen der Handlungsfelder Immer wieder gibt es Höhen und Tiefen auf den individuellen Lebenswegen. Hilfebedarf wird zeitweise angenommen, aber bricht durch z. B. Haft, kurzzeitig eigenen Wohnraum, Psychiatrieaufenthalte usw. wieder ab. Intrinsische Motivation und Absprachefähigkeit sind häufig durch Suchtverhalten und psychische Erkrankungen nicht aufrechtzuerhalten. Existenzsichernde Maßnahmen (Leistungsbezug SGB II/ SGB XII), Krankenversicherung sowie Ausweisdokumente gehen immer wieder verloren. Zusätzlich kommt eine schlechte Selbstfürsorge in Hygiene und Gesundheit hinzu. Schnittstellen der Handlungsfelder Suchthilfe, Wohnungslosenhilfe, psychiatrische Hilfe und ordnungsrechtliche Unterbringung arbeiten in der Praxis oft eng zusammen. Um junge SystemsprengerInnen weiter zu begleiten, fehlt die Schnittstelle zwischen Jugendamt und Jugendhilfe. Deshalb müssen Kontakte und Netzwerke Schnittstellen übergreifend aufgebaut und gepflegt werden. Durch strenge Datenschutzrichtlinien und häufig fehlende Kooperations- und Vernetzungsbereitschaft ist es schwierig, ein eng strukturiertes und gut verknüpftes soziales Auffangnetz zu stricken. Es braucht also abgestimmte langfristige Hilfeangebote, in denen„SystemsprengerInnen“ immer wieder Halt und Sicherheit erfahren. In der Praxis allerdings brechen Hilfen immer wieder ab und die KlientInnen bewegen sich orientierungslos durch die Hilfelandschaft. Lösungsansätze der Wohnungslosenhilfe Die Wohnungslosenhilfe steht im ständigen Kontakt mit Polizei, kommunalem Vollzug, Psychiatrien, Krankenhäusern, Sozialberatungen, Betreuungsbehörden sowie Ausgabestellen für Essen und Kleidung. Sie versucht, mit den stationären und ambulanten Hilfen wie bspw. Gemeindepsychiatrien, Therapie- und Suchteinrichtungen individuelle, klientInnenorientierte Lösungen zu finden. Grundsätzlich muss Wohnraum geschaffen werden, der bedingungslos, ohne besondere Aufnahmekriterien (§ 53 bis § 67 SGB XII), zugänglich ist und der an alle infrage kommenden Handlungsfelder anbindet. Wenn der/ die KlientIn im Wohnraum wohnt, wird die passende Hilfe gestrickt. Dies könnte wiederum über SozialarbeiterInnen (Case Manager), die im Haus bzw. Wohnprojekt ihren Standort haben, gesteuert werden. Eine regelmäßige Teambesprechung/ Fallbesprechung zur Ermittlung des passenden Hilfebedarfs ist dabei ebenso nötig: Wer leistet was, wie und wo? Zum Beispiel: Ambulante Hilfen, Suchtberatungstermine im Haus, Medikamentenvergabe, Arztbesuche usw. Case-Management bietet als zusätzliche Hilfemaßnahme eine sehr gute allumfassende und koordinierende langfristige Lösung. Oft werden die Menschen vier bis sechs Jahre begleitet und beraten. Case-Management ist häufig ein pauschalfinanziertes Angebot und kommt aus Kostengründen selten zum Einsatz. Der Bericht zur wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Modellprojektes „You@tel Duisburg“ von Evers und Ruhstrat enthält viele gute Lösungsansätze (Evers/ Ruhstrat 2013, www.giss-ev.de). 269 uj 6 | 2021 SystemsprengerInnen: Endstation Wohnungslosenhilfe? Fazit Meines Erachtens haben wir in Deutschland alle nötigen Hilfeangebote, die jedoch oft für die KlientInnen zu undurchsichtig und zu bürokratisch sind und die für viele zu hohe Hindernisse bergen. Häufig sind die Angebote ungenügend verknüpft und zu wenig im Austausch. Deshalb sollten sich unsere Maßnahmen öffnen im Hinblick auf den Hilfebedarf der KlientInnen. Zu oft wird beurteilt, ob der/ die KlientIn zur Einrichtung passt, und nicht, wie die Einrichtung bzw. das Hilfeangebot zum/ r KlientIn passt. Zusammenfassend ist eine noch engere Verzahnung der Handlungsfelder mit Hinzunahme der Jugendhilfe nötig; bspw. durch Fallkonferenzen mit den Handlungsfeldern oder durch Verselbstständigungskonzepte der Jugendhilfe mit Zugang für alle Jugendlichen unter 25 Jahren und unabhängig, ob schon Hilfen nach SGB VIII geleistet wurden. Ein zusätzliches Angebot mit z. B. Case-Management könnte dies verknüpfen. Ferner sollte gemeinsamer Wohnraum (Wohnprojekte) geschaffen werden, der niedrigschwelligen Zugang für alle hilfesuchenden KlientInnen (selbstständiges Wohnen oder geeigneter stationärer Aufenthalt, bis die Hilfe nicht mehr nötig ist) mit angegliederter Nachsorge bietet. Grundlegendes Problem bleibt aber der fehlende bezahlbare Wohnraum. Ohne diesen wird es schwierig, einen sicheren Ort und die richtigen Hilfen zu bündeln und zu zentralisieren. Isabel Endres Kirchenstr. 14 66693 Saarhölzbach E-Mail: isabelendres@freenet.de Literatur BAG Wohnungslosenhilfe e. V. (2019): Zahl der Wohnungslosen 2018, In: https: / / www.bagw.de/ media/ doc/ PRM_2019_11_11_Schaetzung_Datasheet.pdf, 11. 6. 2020 Bowlby, J. (1944): Forty-four juvenile thieves, Their Characters and home lives. International Journal of Psycho-Analysis 25, 19 - 52, https: / / web.archive.org/ web/ 20130418065814if_/ http: / / a2psychology101. files.wordpress.com: 80/ 2010/ 06/ 1-12-bowlbys-study-of-forty-four-juvenile-thieves-1944.pdf Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz: Sozialgesetzbuch I - XII. In: http: / / www.gesetze-iminternet.de/ sgb_12/ __67.html, 2. 4. 2020 Evers, J., Ruhstrat, E.-U. (2013): You@tel Duisburg. Lust auf Zukunft. Ein niedrigschwelliges Angebot für jungerwachsene wohnungslose Frauen und Männer im Alter zwischen 16 und 25 Jahren. Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation. In: https: / / www.giss-ev.de/ fileadmin/ projekte/ abschlussbericht-youtel-duisburg.pdf, 11. 6. 2020 Günder, R. (2015): Praxis und Methoden der Heimerziehung. Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der stationären Erziehungshilfe. Lambertus, Freiburg im Breisgau. Moggi, F. (2014): Psychische Störung und Suchterkrankung. Diagnose und Behandlung von Doppeldiagnosen. Kohlhammer, Stuttgart. Neupert, P. (2017): Statistikbericht 2017. Zur Lebenssituation von Menschen in den Einrichtungen und Diensten der Hilfen in Wohnungsnotfällen in Deutschland. BAG Wohnungslosenhilfe e. V. In: https: / / www.bagw.de/ media/ doc/ STA_Statistikbericht_ 2017.pdf, 11. 6. 2020 Reißig, B., Beierle, S. (2018): 37.000 junge Menschen ohne Zuhause. Neue Caritas 2018 (1), 19 - 23, https: / / www.caritas.de/ neue-caritas/ heftarchiv/ jahrgang 2018/ artikel/ 37.000-junge-menschen-ohne-zuhause? searchterm=B.+Rei%c3%9fig%2f+s.+Beierle Rosenke, W. (2017): Psychisch kranke Menschen in einer Wohnungsnotfallsituation. wohnungslos 59 (2/ 3), S. 33 - 34, https: / / www.bagw.de/ de/ publikatio nen/ wl_basis/ 2017/ editorial_2_2017.html Ruhstrat, E.-U. (2019): SystemsprengerInnen in der Wohnungslosenhilfe. Präsentation gehalten bei der KAGW in Köln am 4.12. 2019, Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e. V. (GISS), Bremen. Schleiffer, R. (2014): Der heimliche Wunsch nach Nähe. Bindungstheorie und Heimerziehung. Beltz Juventa, Weinheim und Basel. Tretter, F. (2017): Sucht. Gehirn. Gesellschaft. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin. Wasmund, S. (2020): Sozialgesetzbücher I. - XII. In: https: / / www.sozialgesetzbuch-sgb.de/ , 3. 4. 2020
