unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Bedarfsorientierte Diagnostik als Instrument der Hilfeplanung
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Swantje Stuhec
Seit 1978 betreut das Heilpädagogische Institut Vincenzhaus in zwei Diagnose- und Therapiegruppen Kinder und Jugendliche und deren Familien, wenn die Perspektiven, Chancen und Grenzen ungeklärt sind und die Beteiligten im Hilfeplanprozess fundierte Beobachtungen und Einschätzungen für die weitere Perspektivplanung benötigen.
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379 unsere jugend, 73. Jg., S. 379 - 385 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art60d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Swantje Stuhec Jg. 1981; Diplom-Pädagogin, stellvertretende Einrichtungsleitung und Sachgebietsleitung Diagnose und Therapie im Heilpädagogischen Institut Vincenzhaus des Caritasverbandes Frankfurt e.V. Bedarfsorientierte Diagnostik als Instrument der Hilfeplanung Stationäre Diagnose- und Therapiegruppen − ein Praxisbeispiel − Seit 1978 betreut das Heilpädagogische Institut Vincenzhaus in zwei Diagnose- und Therapiegruppen Kinder und Jugendliche und deren Familien, wenn die Perspektiven, Chancen und Grenzen ungeklärt sind und die Beteiligten im Hilfeplanprozess fundierte Beobachtungen und Einschätzungen für die weitere Perspektivplanung benötigen. „Der Bedarf des Kindes und des Familiensystems ist geklärt.“, „Der schulische Bedarf ist festgestellt.“, „Die Diagnostik ist abgeschlossen.“. So oder ähnlich lauten die Hilfeplanziele, wenn Kinder und Jugendliche für unsere Diagnose- und Therapiegruppen angefragt werden. Anfragen erfolgen meist aufgrund von Vernachlässigung, Misshandlungen, aggressiven und selbstverletzenden Verhaltensweisen, sexuellen Auffälligkeiten und Grenzüberschreitungen. Vor der Corona-Pandemie zudem auch häufig aufgrund von Schulabstinenz bereits im Grundschulalter, seit der Pandemie zunehmend häufiger aufgrund des Verdachts des sexuellen Missbrauchs. Mit dem Grundsatz der Ergebnisoffenheit betreuen und begleiten wir Kinder und Jugendliche und deren Familien in zwei Diagnose- und Therapiegruppen für etwa drei Monate, um die Bedarfe des Kindes und des Familiensystems zu ermitteln und ihnen hiermit Hilfestellungen zu geben, um den weiteren Hilfeplanprozess zu gestalten. Auszüge aus dem Konzept der Diagnose- und Therapiegruppen In den Diagnose- und Therapiegruppen werden sechs beziehungsweise sieben Kinder und Jugendliche im Alter von fünf bis 14 Jahren für einen Zeitraum von in der Regel drei Monaten − je nach Bedarf und anschließender Perspektive auch länger − gemischtgeschlechtlich durch jeweils fünf oder sechs pädagogische Fachkräfte im Alltag betreut, begleitet und angeleitet. Die Kinder und Jugendlichen besuchen während der Zeit die angegliederte Schule am Vincenzhaus mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, damit ein ganzheitliches Bild des Kindes in seinen sozialen Feldern entwickelt werden kann. 380 uj 9 | 2021 Bedarfsorientierte Diagnostik in der Hilfeplanung Die Aufgabe der Diagnose- und Therapiegruppen ist primär darauf ausgerichtet, die hinter den kindlichen Verhaltensweisen liegende Persönlichkeitsproblematik der Kinder unter Berücksichtigung der familiären Rahmenbedingungen zu erkennen, zu benennen und im Gruppenalltag zu durchleben. Eine systemische Betrachtungsweise ist Grundsatz der Arbeit, sodass das Bezugssystem des Kindes eng in die Arbeit einbezogen wird. Diese Arbeit wird überwiegend durch psychologische Fachkräfte geleistet. Im Diagnose- und Therapiebereich sind hierfür zwei PsychologInnen mit einem Beschäftigungsumfang von 68 Wochenstunden tätig. Der Aufnahme geht ein Vorstellungsgespräch mit dem Kind, seinen Bezugspersonen, dem Jugendamt, einem Psychologen oder einer Psychologin und der Sachgebietsleitung der Einrichtung voraus. In diesem werden sowohl die Erwartungen der Eltern und des Kindes an die Einrichtung als auch die Bedingungen, die vonseiten der Einrichtung an die Sorgeberechtigten und das Kind gestellt werden, besprochen und geklärt. Dieses Vorstellungsgespräch erfüllt auch die Funktion eines „Probe-Elterngespräches“. Im Rahmen dieses Erstkontaktes soll vor allem die Problemsicht und das subjektive Erleben der Eltern und des Kindes und deren Bereitschaft zur Veränderung unter der Zielstellung einer Reintegration des Kindes in die Familie eruiert werden. Am Ende der dreimonatigen Diagnosephase wird ein psychodiagnostischer Bericht erstellt, der folgende Aspekte beinhaltet: ➤ Anamnestische und explorative Daten ➤ Aspekte der Familiensituation ➤ Ergebnisse der stationären Verhaltensbeobachtung ➤ Ergebnisse der psychodiagnostischen Begutachtung ➤ schulischer Förderplan Nach Ablauf der Diagnosephase erfolgt eine erneute Entscheidungsfindung zwischen Kind, Eltern, Jugendamt und Einrichtung hinsichtlich der weiteren Vorgehensweise. Sollte der Bedarf einer weiteren stationären Unterbringung für das Kind gesehen werden und das Haus das richtige Angebot in Form einer Heilpädagogischen Heimgruppe, einer Therapeutischen Wohngruppe, einer Pädagogisch-Therapeutischen-Intensivgruppe oder einer Jugendwohngruppe, gegebenenfalls auch durch eine teilstationäre Heilpädagogische Tagesgruppe, stellen können, kann das Kind im Vincenzhaus verbleiben. Sollten andere stationäre oder ambulante Angebote angedacht oder familiengerichtliche Verfahren seitens des Jugendamtes angestrebt werden, kann die Hilfe in der Diagnose- und Therapiegruppe verlängert werden, bis ein passender Rahmen für das Kind geschaffen wurde. Blick in den Alltag einer Diagnose- und Therapiegruppe In der Regel erfolgen die Platzanfragen mit hoher Dringlichkeit. Nicht selten sind Kinder bereits in Obhut genommen und benötigen dringend Perspektiven oder sollen, nach Absprache, in unsere Gruppen in Obhut genommen werden. Familien haben bereits zahlreiche Hilfen zur Erziehung erhalten, die nicht zum gewünschten Hilfeplanziel führten oder das Jugendamt muss auf eine Kindeswohlgefährdung akut reagieren, ohne dass bereits Vorinformationen bekannt sind. Aufnahmeverfahren Das Jugendamt sendet in der Regel eine Fallanfrage, die je nach Begleitdauer durch das Jugendamt sehr ausführlich mit zahlreichen anamnestischen Informationen gefüllt ist, meist aber nur relativ wenige aussagekräftige Informationen beinhaltet. Manchmal erfolgt ein Vorstellungsgespräch aber auch nur aufgrund eines kurzen Telefonats mit dem zuständigen Jugendamt und einer Schilderung der Akutsituation. Die 381 uj 9 | 2021 Bedarfsorientierte Diagnostik in der Hilfeplanung Aufnahmeentscheidung stützt sich aus diesen Gründen vor allem auf die einzelnen Gesprächssituationen des Vorstellungsgesprächs, in dem alle anwesenden Erwachsenen mit der psychologischen Fachkraft sprechen und das Kind ein separates Gespräch mit der pädagogischen Sachgebietsleitung führt. Gegebenenfalls nehmen neben den Sorgeberechtigten und dem Jugendamt auch weitere Personen aus dem Helfersystem teil, um die aktuelle Situation zu erörtern. Meist können die Kinder in diesem Setting offen benennen, was der Grund des Vorstellungsgesprächs ist. Dabei beschreiben sie häufig ihr eigenes Verhalten als Grund, warum sie nun nicht mehr zu Hause leben können. Meist zeigen sie hohes Misstrauen bezüglich der gestellten Fragen und berichten nur zögerlich von ihren Lebensumständen, den Wohnverhältnissen und ihren Eltern. Gut erkennbar ist hier oftmals schon das Wesen eines Kindes − ist es lebhaft, zurückhaltend, kommunikativ etc. − und inwieweit es sich mit Helfersystemen auskennt. Je mehr Erfahrung ein Kind in diesem Bezug mit Helfersystemen gesammelt hat, desto sozial erwünschter sind häufig die Antworten. Sind Kinder zu keinem Gespräch bereit oder zeigen deutliche Verunsicherung, können sie auch einfach spielen und hierbei erzählen. Häufig zeigt sich im Spiel mit den angebotenen Spielfiguren schnell, welches Rollenverständnis ein Kind hat, wie stark Gewalt im Spiel eine Rolle spielt und worauf sich aktuell die Interessen beziehen. Vor der Corona- Pandemie wurde großer Wert darauf gelegt, dem Kind und den Sorgeberechtigten auch einen Blick in die Gruppen zu ermöglichen, um Ängste zu nehmen und die klassische Vorstellung des Heimlebens zu relativieren. Zum Schutz der BewohnerInnen und MitarbeiterInnen wird dies inzwischen über Fotografien der Gruppen ermöglicht. Zu Zeiten von Betretungsverboten werden Kinder aktuell auch zu Hause besucht, um dennoch einen Einblick in die bevorstehende Diagnose- und Therapiegruppe zu ermöglichen und das Kind kennenzulernen. Die Wartezeit auf einen Diagnose- und Therapieplatz beträgt etwa drei Monate. Ankommen Die Aufnahme geschieht durch die Fachkraft der Gruppe. Meist wird dies durch die Sorgeberechtigten begleitet. Das Kind wird in einem ruhigen Gruppensetting aufgenommen und in die Gruppe eingeführt. Es richtet sich mit Unterstützung der Begleitung ein und verabschiedet sich von seinen BegleiterInnen. In der Kindergruppe herrscht aufgrund der kurzen Aufenthaltsdauer keine beständige Gruppendynamik. Klare Strukturen und geregelte Tagesabläufe sollen den Kindern deswegen Halt und Orientierung geben und gleichzeitig diagnostisch aufzeigen, inwieweit ein Kind Regelakzeptanz verinnerlicht hat. Bereits am ersten Tag stellen sich auch die zukünftige Lehrkraft und die betreuende psychologische Fachkraft vor. Die anderen Gruppenmitglieder zeigen das 80.000 qm große Gelände und die möglichen Aufenthaltsorte, sodass der erste Tag geprägt von Abschied und zahlreichen neuen Personen und Eindrücken ist. In der Regel nehmen die Gruppenmitglieder neue Kinder offen auf, da die eigenen Erfahrungen des Ankommens noch nicht lang zurückliegen. Alltag in der Gruppe Der gemeinsame morgendliche Aufbruch zur hausinternen Schule ermöglicht ein späteres Aufstehen und besonders Kindern, die nicht mehr regelhaft dem Schulbesuch nachgekommen sind, einen leichten schulischen Einstieg. Die Klassen sind jahrgangsübergreifend und entsprechend dem Förderschwerpunkt mit sieben bis zehn SchülerInnen belegt. Eine Lehrkraft und die Schulsozialarbeit unterrichten und fördern die Kinder in den Klassen. Aufgrund der geringen Personenzahl pro Klasse können die SchülerInnen ihren Fähigkeiten und dem bisherigen Lehrstoff entsprechend beschult werden. Die SchülerInnen können so, nach der Diagnose- und Therapiephase, wieder an ihre alten Schulen wechseln, ohne Klassen wiederholen zu müssen, oder an Regelschulen wechseln, wenn kein Förderbedarf festgestellt wird. 382 uj 9 | 2021 Bedarfsorientierte Diagnostik in der Hilfeplanung Die Mahlzeiten werden zusammen eingenommen. Hier geschieht der regelmäßige Austausch zwischen der gesamten Gruppe. In den Essenssituationen zeigen sich oftmals die Geschichten und Erlebnisse der Kinder am deutlichsten. Im Austausch untereinander berichten sie von ihren Vorerfahrungen, stellen Unterschiede zueinander und zum Leben in einer Wohngruppe fest, aber auch Gemeinsamkeiten in ihren Familiengeschichten. Meist reagieren die Kinder sehr empathisch auf die Erzählungen der anderen und zeigen Unverständnis darüber, wie Familien miteinander umgehen, können sich in ihrem gemeinsamen Erleben aber auch trösten und Mut zusprechen. Am Nachmittag werden freizeitpädagogische Angebote gestellt, die in Kleingruppen von den Kindern wahrgenommen werden können. Hier wird ein besonderes Augenmerk auf die Fähigkeit zur Freizeitbeschäftigung und des sozialen Umgangs untereinander gelegt. Überwiegend werden Einzelzimmer bewohnt. Dies ermöglicht jedem Kind eine 1 : 1-Situation mit der pädagogischen Fachkraft am Abend. Auch hier wird häufig die Gelegenheit genutzt, sich anzuvertrauen und aus der Lebensgeschichte zu berichten. Offensichtliches Heimweh zeigen die meisten nur zu Beginn des Aufenthalts. Pädagogische Arbeit Die Diagnosephase beinhaltet, dass die Verhaltensweisen des Kindes zunächst beobachtet und erkannt werden müssen. Die direkte Intervention durch die Fachkräfte wird in dieser Phase vermieden. Erst im Verlauf der Hilfe geht man dazu über, dem Kind alternative Handlungswege aufzuzeigen und einzuüben. Dazu gehört auch, aggressives und selbstverletzendes Verhalten zuzulassen, solange es keine Gefährdung für das Kind selbst oder Beteiligte mit sich bringt. Durchaus können hierunter aber das Mobiliar zu Schaden kommen und Mitarbeitende angegriffen werden. Die Mitarbeitenden sind dementsprechend in Deeskalation geschult. Ein einheitliches methodisches Vorgehen gibt es in den Gruppen nicht. Vielmehr geht es darum, jedes Kind individuell zu betrachten. Für jedes Kind wird individuell erarbeitet, ob Verstärkersysteme unterstützen könnten, traumapädagogische Ansätze benötigt werden, erlebnispädagogische Elemente förderlich oder beängstigend sind, wie viel Struktur, Regeln und Grenzen das Kind benötigt etc. Auch der Einsatz des Therapiehundes ist gerade in Krisen eine große Unterstützung für die BewohnerInnen. Zeigen sich Auffälligkeiten im Entwicklungsstand des Kindes, wird eine Entwicklungsstandermittlung durchgeführt. Die Teams arbeiten nicht im Bezugsbetreuersystem. Die Kinder entscheiden meist sehr schnell, wem sie sich besonders gut anvertrauen können. In der Arbeit werden Beziehungen aufgebaut, aber Bindungen vermieden. In der Diagnostik stellt sich das Team auch immer wieder die Frage, wie das Kind auf männliche oder weibliche Fachkräfte reagiert und ob es hier Unterschiede macht, wie es in der geschlechtsgemischten Gruppe reagiert und ob dies förderlich oder hinderlich ist für die Persönlichkeitsentfaltung. Hypothesen zum Familiensystem werden in den wöchentlichen Teamsitzungen der pädagogischen Fachkräfte, der betreuenden Psychologie und der Sachgebietsleitung aufgestellt, überprüft, verworfen und neu überdacht. Die gesamte Diagnose- und Therapiephase wird prozesshaft gestaltet. Mit der Zeit formt sich so ein ganzheitliches Bild des Familiensystems und der vorliegenden Problematik. Meist zeigen die Kinder und Jugendlichen in den ersten sechs Wochen ihre hohe Anpassungsfähigkeit. Nach dieser Zeit können Verhaltensmuster und Handlungsstrategien deutlich 383 uj 9 | 2021 Bedarfsorientierte Diagnostik in der Hilfeplanung präziser und ausgeprägter wahrgenommen werden. Hieraus lässt sich auch die Verweildauer von mindestens drei Monaten ableiten. Das Kind benötigt diese Zeit, um sich einzulassen und sich in seiner ganzen Persönlichkeit zu zeigen. Die pädagogischen Fachkräfte erstellen im Verlauf eine individuelle Verhaltensbeobachtung. Hierbei geht es darum, das beobachtete Verhalten ohne Verhaltensdeutungen darzustellen. Der Bericht umfasst Informationen zu: ➤ Äußerer Rahmen der Diagnose- und Therapiegruppe ➤ Aufnahmesituation ➤ Äußeres Erscheinungsbild ➤ Alltagskompetenzen ➤ Körperhygiene ➤ Gesundheit ➤ Stärken und Kompetenzen ➤ Selbstbild ➤ Emotionalität ➤ Schule und Hausaufgaben ➤ Orientierung in gegebenen Strukturen ➤ Freizeitverhalten ➤ Verhalten gegenüber Kindern ➤ Verhalten gegenüber Erwachsenen ➤ Familienkontakte Arbeiten mit dem Familiensystem Solange es die Situation zulässt, besuchen Kinder ihre Familien an einem Wochenende und einen Tag im Monat. In den Ferien kann dies auch mehrere Tage umfassen. Es gibt keine Kontaktsperren zu Beginn der Hilfe, um von Beginn an das gesamte System zu erleben und Verhaltensweisen des Kindes in seinem System zu erkennen. Das Familiensystem bleibt während der Diagnose- und Therapiephase weitestgehend in der Verantwortung und übernimmt notwendige Termine, zum Beispiel Besuche bei ÄrztInnen, nach seinen Möglichkeiten. Bestand bis zur Aufnahme ein Umgangsausschluss zwischen dem Kind und den Eltern, so wird gezielt darauf hingearbeitet, dass zumindest begleitete Umgänge ermöglicht werden können. Meist werden diese zunächst von dem oder der betreuenden PsychologIn durchgeführt, um Interaktionsbeobachtungen tätigen zu können und mit den Eltern über ihre Erziehungskompetenzen ins Gespräch zu kommen. Alle 14 Tage finden Gespräche des Bezugssystems mit psychologischen Fachkräften statt. Hierbei wird zunächst eine ausführliche Anamnese der Eltern erarbeitet. Im Verlauf werden dann aktuelle Problemlagen und Erziehungsthemen bearbeitet. Je nach Möglichkeit der Eltern werden sie durch die Gespräche in ihren Erziehungskompetenzen gestärkt und unterstützt. Psychologische und psychiatrische Arbeit Neben den Elterngesprächen werden den Kindern Einzelsettings mit den PsychologInnen angeboten. Je nach Kind wird dies mal intensiv genutzt, mal vermieden. Neben den Gesprächen werden standardisierte psychologische Testungen mit den Kindern durchgeführt. Unter anderem wird der Intelligenzquotient ermittelt, Persönlichkeitsfragebögen durchgeführt oder auch die Einschätzung des Kindes zum Erziehungsstil der Eltern ermittelt. Wenn Kinder bereits mit verordneten Psychopharmaka oder Betäubungsmitteln aufgenommen werden, werden sie an eine kooperierende Kinder- und Jugendpsychiatrische Ambulanz angebunden. Die Oberärztin der Ambulanz besucht das Vincenzhaus quartalsweise, um die Kinder zu untersuchen und Rückmeldungen zum beobachteten Verhalten zu bekommen, Medikationen zu überprüfen und gegebenenfalls zu verordnen. An den Erstgesprächen nehmen neben den Fachkräften auch die Sorgeberechtigten teil. Auf Wunsch der Eltern, des Jugendamtes 384 uj 9 | 2021 Bedarfsorientierte Diagnostik in der Hilfeplanung oder aufgrund des von uns festgestellten Bedarfs werden Kinder und Jugendliche durch die Ambulanz psychiatrisch begutachtet. Hierzu erfolgen dann Termine in der Ambulanz. Abschluss der Diagnose- und Therapiephase Zur Beendigung der Diagnose- und Therapiezeit erfolgt gemeinsam mit dem Jugendamt und dem Familiensystem ein Auswertungsgespräch. Ebenso sind hier die pädagogische Fachkraft, die Lehrkraft und der oder die betreuende PsychologIn vertreten. Die ausführliche Verhaltensbeobachtung, ein Schulbericht und die Ergebnisse der Familienarbeit werden hier zusammengetragen und eine Empfehlung für eine weitere bedarfsorientierte Hilfe durch uns ausgesprochen. Diese wurde zuvor bereits mit den Eltern besprochen, sodass auch sie sich auf das Auswertungsgespräch vorbereiten konnten. Ebenso wurde das Kind bereits auf unsere Empfehlung vorbereitet. In der Diagnose- und Therapiezeit stehen die psychologischen Fachkräfte meist in einem engen Kontakt mit dem zuständigen Jugendamt, sodass am Ende der Diagnose- und Therapiephase ein präziser, an den Bedarfen des Kindes und des Familiensystems orientierter Hilfeplan entstehen kann. Alle Ergebnisse unserer Arbeit werden zum Abschluss in einem umfangreichen bedarfsorientierten Diagnosebericht zusammengefasst. Aus der Statistik Im letzten Jahr wurden in den Diagnose- und Therapiegruppen 25 Kinder und Jugendliche betreut. Neun dieser Kinder und Jugendlichen waren Mädchen. Der Großteil der Kinder kam direkt aus ihren Familien, überwiegend lebten sie zuvor mit ihren alleinerziehenden Müttern zusammen. Zwei wurden in unser Haus in Obhut genommen, drei weitere Kinder wurden aus verschiedenen Inobhutnahmestellen aufgenommen. Nach Abschluss der Diagnose- und Therapiephase wurden zwei dieser Kinder in unsere Pädagogisch-Therapeutische-Intensivgruppe verlegt, fünf Kinder finden in den Heilpädagogischen Gruppen ein Zuhause auf Zeit. Sechs der Kinder konnten nach Beendigung der Diagnose- und Therapiephase wieder in den Haushalt der Eltern zurückkehren und erhalten dort weitere ambulante Hilfe. Für neun Kinder mussten passgenaue, spezialisierte stationäre Angebote gefunden werden. Unter anderem wechselten zwei sehr junge Kinder in Erziehungsstellen und zwei Kinder in eine stationäre Maßnahme mit einer engen psychiatrischen Anbindung. Besonders die Suche nach passenden Angeboten bedeutet für die Kinder häufig eine längere Verweildauer in den Diagnose- und Therapiegruppen. Statistisch gesehen lag die durchschnittliche Verweildauer in einer der Diagnose- und Therapiegruppen im Jahr 2020 bei fünf Monaten. Es zeigt sich, dass eine zu lange Verweildauer den Kindern und Jugendlichen Schwierigkeiten bereitet. Nachdem die Empfehlungen und die weitere Hilfeplanung im Auswertungsgespräch für alle deutlich ausgesprochen wurden und sich alle Beteiligten auf die weitere Perspektive einigen konnten, ist das betroffene Kind in einer Warteposition. Sehr junge Kinder beginnen sich zu binden und wissen dennoch, dass diese Kontakte beendet werden, sobald eine passende Einrichtung gefunden ist. Sie suchen dann meist nach einem beständigeren Setting, können neue BewohnerInnen nicht mehr offen annehmen und die Aufmerksamkeit der Fachkräfte weniger gut teilen. Hier zeigt sich, dass besonders stationäre Jugendhilfemaßnahmen für jüngere Kinder und kleinere Betreuungssettings schwer zu finden sind und ein Mangel an passenden Angeboten in unserer Region dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche zu lange in unseren Gruppen verweilen müssen. Sprechen wir die Empfehlung einer Erziehungsstelle, einer Pflegestelle oder einer Kleinstgruppe mit stabilem Gruppenprofil aus, 385 uj 9 | 2021 Bedarfsorientierte Diagnostik in der Hilfeplanung ist uns bewusst, dass das betroffene Kind über die drei Monate hinaus verweilen wird. Hier sehen wir dringenden Handlungsbedarf in der Angebotsvielfalt, da unsere beobachteten Bedarfe immer häufiger zu Empfehlungen führen, die kleine Betreuungssettings mit stabilen Bezugspersonen benötigen. Swantje Stuhec Caritasverband Frankfurt e.V. Heilpädagogisches Institut Vincenzhaus Vincenzstr. 29 65719 Hofheim E-Mail: swantje.stuhec@caritas-frankfurt.de Reinhard J. Wabnitz Grundkurs Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit 6., aktualisierte Auflage 2020. 183 S. 3 Tab. (978-3-8252-5384-4) kt a www.reinhardt-verlag.de SGB VIII verständlich erklärt Der „Grundkurs Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit“ vermittelt die elementaren Kenntnisse des Kinder- und Jugendhilferechts. Er gibt Studierenden einen Überblick über die rechtlichen Regelungen im SGB VIII, die Leistungen und anderen Aufgaben in der Kinder- und Jugendhilfe sowie über deren Trägerstrukturen und Behörden. Behandelt werden die vielfältigen Hilfs- und Förderangebote, u. a. Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, Kindertagesstätten, Hilfen zur Erziehung, Beratungsdienste und Schutzaufgaben zu Gunsten von Kindern und Jugendlichen. Mit zahlreichen Übersichten, Prüfungsfragen, Fallbeispielen und Musterlösungen.
