unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2021
7310
Individualpädagogische Betreuung wirkungsvoll und erfolgreich gestalten
101
2021
Willy Klawe
Die Entwicklung einer eigenständigen Individualpädagogik und der kontroverse Diskurs über deren wirkmächtige konzeptionelle Grundlagen haben zu zahlreichen Studien, Evaluationen und Positionsbestimmungen geführt, die die Ableitung erfolgversprechender Handlungskonzepte und Gestaltungselemente möglich machen.
4_073_2021_010_0406
406 unsere jugend, 73. Jg., S. 406 - 414 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art63d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Individualpädagogische Betreuung wirkungsvoll und erfolgreich gestalten Einsichten aus Forschung und Praxis Die Entwicklung einer eigenständigen Individualpädagogik und der kontroverse Diskurs über deren wirkmächtige konzeptionelle Grundlagen haben zu zahlreichen Studien, Evaluationen und Positionsbestimmungen geführt, die die Ableitung erfolgversprechender Handlungskonzepte und Gestaltungselemente möglich machen. von Willy Klawe Diplomsoziologe, war bis 2016 Professor an der Ev. Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in Hamburg und von 2011 - 2021 wissenschaftlicher Leiter am Hamburger Institut für Interkulturelle Pädagogik (HIIP) Passung und Distanz In der Frühphase der Individualpädagogik, als diese intensive Betreuungsform in den Erziehungshilfen noch unter dem Etikett „Erlebnispädagogik“ firmierte (Klawe/ Bräuer 1998), galten die „Passung“ zwischen BetreuerIn und dem/ der Jugendlichen und eine maximale Distanz zum Herkunftsmilieu als wichtigste Faktoren für einen erfolgreichen Verlauf der jeweiligen Betreuung. Dass Betreuende und Betreute „miteinander können“ und zueinander passen, wurde als wichtige Voraussetzung für den Beginn einer Maßnahme angesehen. Sie forderte vom Träger „ein gutes Händchen“ bei der Betreuerwahl, die darüber hinaus meist durch einige wenige Kurzbegegnungen zwischen beiden Akteuren, im Idealfall durch eine Art „Probezeit“, abgeklärt wurde. Sie blieb aber ein wenig kontrollier- und überprüfbares, eher subjektiv-gefühlsorientiertes Instrument der Entscheidung und Gestaltung. Als zweites Kriterium kam daneben oft die Sicherstellung einer maximalen Distanz zum Herkunftsmilieu hinzu, die einerseits sicherstellen sollte, dass sich die Jugendlichen nicht der Betreuung entziehen (können), und die andererseits vor den möglicherweise problematischen Einflüssen der alltäglichen Kontakte schützen sollte. Auch aus diesem Grunde waren seinerzeit viele Projekte im Ausland angesiedelt oder als Reise- oder Segelpädagogik in ihrem Setting auf Isolation und Herstellung einer fühlbaren Distanz zu der bisherigen Lebenswelt ausgerichtet. Diese Herausnahme aus den alltäglichen Bezügen stand in deutlichem Kontrast zu einer sozialräumlichen lebensweltorientierten Jugendhilfe, die mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) implementiert 407 uj 10 | 2021 Individualpädagogische Hilfen wirkungsvoll gestalten wurde. Der daraus erwachsende kontroverse fachliche und öffentliche Diskurs führte zu zahlreichen Studien über das Arbeitsfeld intensivpädagogischer Betreuung und mündete in eine Weiterentwicklung von einer ursprünglich erlebnispädagogischen Ausrichtung zu einer konzeptionell eigenständigen Individualpädagogik (Lorenz 2008; Klawe 2019). Diese Entwicklung wiederum lässt in der Zusammenschau mit den inzwischen vorliegenden Studien, der Sichtung der Träger- und Maßnahmenkonzepte und der Evaluation ihrer Ergebnisse die Ableitung spezifischer Erfolgsfaktoren individualpädagogischer Betreuungsangebote zu, die im Folgenden pointiert zusammengefasst werden. Pädagogische Erfolgsfaktoren Individuelle Ausrichtung, Flexibilität und verlässliche Beziehung Individualpädagogik ist ein mittelbis langfristiges, verbindliches individuelles Beziehungsangebot an die betreuten Kinder und Jugendlichen, das durch eine 1 : 1-Betreuung intensiv und umfassend gestaltet werden kann. Individualpädagogische Maßnahmen sind also individuell ausgerichtete Betreuungssettings, deren Ziele und Bedingungen mit den Kindern und Jugendlichen und allen übrigen Beteiligten flexibel jederzeit neu ausgehandelt werden können und müssen, um diese passgenau auf das individuelle Tempo und die Ressourcen der Betreuten sowie auf aktuelle Entwicklungen in ihrem Umfeld abstimmen zu können. Diese individuelle Ausrichtung und ein Höchstmaß an Flexibilität sind zentrale Steuerungselemente für Wirkung und Erfolg einer individualpädagogischen Maßnahme. Vorliegende Studien zeigen, dass aufgrund wechselnder Situationen, sprunghafter Entwicklungen oder eskalierender Konflikte immer wieder „Nachjustierungen“ der Rahmenbedingungen und pädagogischen Settings erforderlich sind. Flexibilität wird damit zum Wirkfaktor schlechthin: Wenn es nicht gelingt, angemessen und zeitnah auf neue Herausforderungen zu reagieren, ist eine erfolgreiche Fortführung der Betreuung insgesamt gefährdet. Die Tatsache, dass es in der Regel jeweils um nur eineN JugendlicheN geht, erleichtert dabei den Aushandlungsprozess und einen personenzentrierten Zuschnitt der Lösung oder Veränderung. Freilich müssen Träger und Jugendamt einen entsprechend flexiblen Rahmen gewährleisten, weil sonst dieser Faktor seine Wirkung nicht entfalten kann. Ein verlässliches, akzeptierendes Beziehungsangebot, eine belastbare, authentische Betreuerpersönlichkeit und die Einbindung in familienähnliche Strukturen sind ebenfalls wichtige Voraussetzungen für einen gelingenden Betreuungsprozess (Klawe 2008). Die individuelle Betreuung bietet Jugendlichen Erfahrungen in einer exklusiven und verlässlichen Beziehung, die allerdings auch gern immer wieder auf die Probe gestellt wird. In der Mehrzahl haben die Jugendlichen dies so weder in ihrer Herkunftsfamilie noch auf ihrem Weg durch verschiedene Angebote und Einrichtungen während ihrer Jugendhilfekarriere erfahren. Individualpädagogik als letztes Glied einer langen Kette gescheiterter Beziehungen und häufig letzte Chance für die Jugendlichen muss in besonderer Weise daran gelegen sein, verlässliche und vertrauensvolle Beziehungen zu den betreuten Jugendlichen aufzubauen und so „Gegenerfahrungen“ zu ermöglichen, die ihnen das Vertrauen in Erwachsene und damit ein positives Wachsen wieder ermöglichen. Damit werden die Persönlichkeit der betreuenden Fachkraft, ihre sozialen Kompetenzen und Empathie, ihre Haltung und ihre soziale Einbindung vor Ort zu einem ebenso wichtigen Faktor für einen gelingenden Verlauf und Erfolg des Betreuungsprozesses wie fachliche und methodische Kenntnisse. 408 uj 10 | 2021 Individualpädagogische Hilfen wirkungsvoll gestalten Qualifikationen & Kompetenzen der Betreuenden Die kontroverse Diskussion über die notwendigen Qualifikationen und Kompetenzen der betreuenden Fachkräfte begleitet die Entwicklung der Individualpädagogik von Beginn an. Während weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass die Zielgruppe individualpädagogischer Maßnahmen und deren Intensität eine besondere Herausforderung darstellen, die eine gleichermaßen klare wie empathische Persönlichkeit erfordert, konzentrierte sich die Kontroverse vor allem auf den Gegensatz „authentische Persönlichkeit“ vs. Fachkräftegebot. Thomas Pollak weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass die Beziehung zwischen professionell handelnden Pädagogen und den betreuten Kindern und Jugendlichen immer einen widersprüchlichen Doppelcharakter hat, und unterscheidet einen spezifischen von einem diffusen Beziehungsanteil. Der spezifische Beziehungsanteil drückt sich aus im formalisierten beruflichen Rollenhandeln, das sich vorrangig in theoriegeleitetem, wissenschaftlich begründbarem ExpertInnenhandeln widerspiegelt und sich auf identifizierbare (Lebens-)Themen bezieht. Der diffuse Anteil einer pädagogischen Beziehung entspricht eher der Struktur in primären Sozialbeziehungen. Diese „[…] sind nicht auf ein Ende, eine bestimmte Dauer hin angelegt, eine Trennung ist nicht regelhaft vorgesehen; Trennungen erfolgen aufgrund der Entwicklung im Lebenszyklus oder signalisieren ein Scheitern der Beziehung. Es liegt eine wechselseitige Unkündbarkeit der Beziehung […] und ein unmittelbarer Anspruch auf den anderen vor; es besteht ferner eine generalisierte wechselseitige, extrem belastbare affektive Bindung sowie eine Form der persönlichen Vertrauensbildung und Vertrauenssicherung, die nicht an standardisierbare allgemeine Kriterien gebunden ist“ (Pollak 2002, 81). Aufgrund dieses Doppelcharakters greift die Polarisierung „authentische Persönlichkeit“ vs. Fachkräftegebot deutlich zu kurz. Während Politik und Verwaltung im Zuge der Verrechtlichung und Standardisierung des Arbeitsfeldes Individualpädagogik immer stärker über formale Aspekte (Ausbildungsabschlüsse, nachweisbare berufliche Qualifikationen etc.) definierten, in der (irrigen) Hoffnung, Qualität und Erfolg individualpädagogischer Betreuung so „mess- und kontrollierbar“ zu machen, führten Träger und pädagogische Vertreter häufig die „authentische Persönlichkeit“ als Qualitätskriterium ins Feld, meist ohne zu konkretisieren, welche Kompetenzen und Eigenschaften diese nun genau ausmachen. Die von Pollak beschriebene Dualität legt demgegenüber nahe, dass es nicht um ein Entweder-oder, sondern vielmehr um ein Sowohl-als-auch gehen muss. Während die formalen Bedingungen für ein Fachkräftegebot mittlerweile hinlänglich konkretisiert scheinen, stellt sich die allgemeine Beschreibung der erforderlichen personalen und psychischen Eigenschaften und Kompetenzen ungleich schwieriger dar, weil sie von den Ressourcen, Bedarfen und Bedürfnissen des/ der jeweiligen Jugendlichen abhängt, der/ die betreut werden soll (Stichwort: Individualisierung). Insofern muss dieser Teil der „Fachlichkeit“ im Dreieck zwischen BetreuerIn, Jugendamt und Jugendlichen (und ggf. auch den Eltern) immer wieder neu ausgehandelt und ggf. im Verlauf des Betreuungsprozesses verändert werden (Stichwort: Flexibilität). Allgemeine Aufzählungen erforderlicher Persönlichkeitsmerkmale und Kompetenzkataloge (etwa Güntert 2011, 153ff ) helfen da nur wenig weiter. Alltagsorientierung, Partizipation und Selbstwirksamkeit Individualpädagogische Maßnahmen konstruieren einen neuen Alltag der Akteure und bieten die Chance, Erfahrungen und Lernen nicht künstlich inszenieren zu müssen, sondern - wo 409 uj 10 | 2021 Individualpädagogische Hilfen wirkungsvoll gestalten immer es geht - aus den Notwendigkeiten des alltäglichen Lebens abzuleiten. Alltagsorientierung erhält so eine mehrfache Bedeutung: ➤ Der Alltag und die aus ihm erwachsenden notwendigen Handlungsvollzüge bieten die Impulse und Anlässe für die Aktivitäten des/ der Jugendlichen. ➤ Der Alltag ist zugleich der Raum und das Feld für Erfahrungen und Lernen. ➤ Der Alltag bietet Strukturen, die das Lernen und Trainieren von Regeln, Regelmäßigkeit und Bewältigungsstrategien erleichtern. ➤ Im Alltag der Maßnahme werden für den Alltag wichtige Fähigkeiten und instrumentelle Kompetenzen vermittelt. ➤ Die Alltagsorientierung ermöglicht die Herstellung einer größtmöglichen Normalität. Das Handeln im Alltag vermittelt den Jugendlichen - häufig erstmalig - ein Gefühl der Selbstwirksamkeit. Dieses Gefühl, mit seinem eigenen Handeln etwas bewirken zu können, gilt in der Psychologie als wichtiges Element einer starken, resilienten Persönlichkeit. Um diese Erfahrungen und die eigene Entwicklung bewusst zu machen, ist es sinnvoll und notwendig, gemeinsam mit dem/ der Jugendlichen regelmäßig den Alltag zu reflektieren. Dies kann sowohl situativ als auch ritualisiert und methodisch unterstützt geschehen. Partizipation meint hier die Gestaltung eines permanenten Lernprozesses, in dem es um Auseinandersetzungen mit eigenen Interessen, den Interessen anderer und den Interessenausgleich geht. Zentrales pädagogisches Medium der Partizipation in individualpädagogischen Maßnahmen ist die alltägliche (ganz praktische) Mitgestaltung im Alltag. Diese „gelebte Partizipation“ wird vor allem auch deshalb von den Jugendlichen als echte Mitwirkung erlebt, weil sie spürbare Konsequenzen im und für den Alltag hat. Individualpädagogische Maßnahmen sind von ihrem Setting her für diese Form der Partizipation besonders geeignet, weil sie durch ihre Alltagsorientierung hierfür zahlreiche niedrigschwellige Situationen und Anlässe bieten. Partizipation und Teilhabe sind besonders wichtig, wenn es um die Bedürfnisse und ganz persönlichen Lebensentwürfe der betreuten Jugendlichen geht. Aufgrund der individuellen Ausrichtung der Betreuung in individualpädagogischen Maßnahmen können hier wenig formalisierte, sondern ganz an den individuellen Kompetenzen und Ressourcen des/ der jeweiligen Jugendlichen orientierte Formen der Beteiligung und Selbstbestimmung gefunden werden. Die Möglichkeiten einer erfolgreichen Koproduktion und produktiven Partizipation werden allerdings deutlich reduziert oder gar konterkariert, wenn die Freiwilligkeit der Entscheidung für eine Beteiligung an der Maßnahme eingeschränkt wird. Strukturelle Bedingungen Neben pädagogischen Aspekten beeinflussen strukturelle Bedingungen in hohem Maße den Erfolg individualpädagogischer Betreuung. Im Verlauf der Entwicklung und Evaluation von erlebnispädagogisch orientierten Betreuungskonzepten zu familienorientierten Settings hat das Prinzip der Normalisierung an Bedeutung gewonnen. Nicht die ausschließliche Beziehung zu Betreuerin oder Betreuer verbunden mit einem auf Distanz zu Fremdeinflüssen ausgerichteten Projektsetting steht nunmehr im Vordergrund, sondern eine Normalisierung durch Einbettung in die Netzwerke und Sozialbeziehungen am Projektstandort und in den (neuen) Sozialraum. Damit werden BetreuerInnen zu NetzwerkerInnen und Sozialraumlotsen. Dieser signifikante Paradigmenwechsel ermöglicht den Jugendlichen den Aufbau „normaler“ Sozialkontakte, den Anschluss an Peergroups und das Erlernen der dafür notwendigen sozia- 410 uj 10 | 2021 Individualpädagogische Hilfen wirkungsvoll gestalten len Kompetenzen. Am neuen Lebensort erhält der/ die Jugendliche die Chance eines unbelasteten Neuanfangs in neuer sozialer und räumlicher Umgebung. Ein geeignetes Instrument kann dafür der Besuch in einer Regelschule sein. Fast immer sind Schulverweigerung, unregelmäßiger Schulbesuch, häufiger Schulwechsel oder schlechte Schulleistungen der individualpädagogischen Maßnahme vorausgegangen. In der Mehrzahl der untersuchten Fälle konnte eine regelmäßige Beschulung erreicht und umgesetzt werden, auch Jugendliche mit einer schlechten Bildungsprognose konnten dabei einen Schulabschluss erlangen. Vor allem drei Faktoren haben dazu beigetragen: ➤ Eine Individualisierung von Erziehung erleichtert auch eine Individualisierung von Bildung. ➤ Der Besuch einer Regelschule in neuer Umgebung bietet den Jugendlichen die Chance eines „Neuanfangs als unbeschriebenes Blatt“, sie müssen nicht gegen negative Zuschreibungen und Ausgrenzungen antreten. ➤ Schließlich sind BetreuerInnen in der Regel in der Lage, einen engen Kontakt zur Schule zu pflegen und gemeinsam mit den Lehrkräften die notwendige Unterstützung zu organisieren, aber auch engmaschig Schulbesuch und Lernfortschritte zu kommunizieren. Insgesamt bieten individualpädagogische Maßnahmen Rahmenbedingungen, die geeignet sind, negative Schul- und Bildungserfahrungen und Schulverweigerung nachhaltig zu verändern und so zu befriedigenden formalen Bildungsabschlüssen beizutragen. Steuerung durch das Jugendamt Regelmäßige Hilfeplangespräche, eine enge Kooperation mit dem durchführenden Träger und gute Kontakte zu den betreuten Jugendlichen und ihren Eltern sind Instrumente und wichtige Voraussetzungen, der Steuerungsaufgabe des Jugendamtes nachzukommen. Die strukturellen Bedingungen in der Mehrzahl der Jugendämter erschweren allerdings noch immer die Wahrnehmung dieser Aufgaben. Hohe Fallzahlen mit komplexen Problemlagen, häufiger Zuständigkeitswechsel in den Jugendämtern, andauernde Strukturveränderungsprozesse und Beschränkung der finanziellen Ressourcen lassen nur einen begrenzten Spielraum, die gesetzlich vorgeschriebenen Steuerungsaufgaben kontinuierlich und befriedigend zu erfüllen. Damit aber werden eine fundierte Beurteilung der Prozesse und Fortschritte einer Betreuung und eine systematische Weiterentwicklung der vereinbarten Ziele und Betreuungssettings erheblich erschwert oder gar unmöglich. Neben diesen strukturellen Mängeln in der fachlichen Begleitung des Betreuungsprozesses gelingt es den Jugendämtern nicht immer, die Jugendlichen und ihre Eltern in einer Weise an der Hilfeplanung zu beteiligen, die hinreichend Motivation und Mitwirkung freisetzt. In solchen Fällen kann es zu Krisen im Betreuungsverlauf oder sogar zu Abbrüchen kommen. Dies zeigt einmal mehr, dass eine hinreichende Beteiligung der Jugendlichen (und ihrer Eltern) immer eine Voraussetzung für deren konstruktive Koproduktion ist. Insofern ist eine umfassende Beteiligung der AdressatInnen in der Hilfeplanung ein zentraler Faktor für das Gelingen individualpädagogischer Maßnahmen. Regelmäßige Supervision, kollegiale Beratung und Weiterbildung Die Herausforderungen individualpädagogischer Arbeit sind für alle Beteiligten erheblich. Die Intensität der Betreuung, ständige Anwesenheit der Jugendlichen im privaten Familienkontext der BetreuerInnen und daraus entstehende Konflikte und Krisen sowie der Umgang 411 uj 10 | 2021 Individualpädagogische Hilfen wirkungsvoll gestalten mit pädagogischen Fragen und Konfliktsituationen bedürfen einer Reflexion im Rahmen einer regelmäßigen Supervision, nach Möglichkeit ergänzt durch situative kollegiale Beratung (als Methode! ) mit benachbarten Projektstandorten oder KoordinatorInnen der jeweiligen Träger. Dabei identifizierten fachlichen Fragen oder methodischen Weiterentwicklungen sollte in entsprechenden Fortbildungen nachgegangen werden. Projekte im Ausland Eine Betreuung im Ausland ist besonders bei schwierigen Jugendlichen mit geringen personalen Ressourcen weitaus erfolgreicher als eine vergleichbare Inlandsbetreuung (Macsenaere/ Esser 2012, 102; Klein/ Macsenaere 2015). Es ist überaus plausibel anzunehmen, dass die besseren Ergebnisse (auch) auf das fremdkulturelle Umfeld und den dadurch notwendigen radikaleren Bruch mit alten Verhaltensroutinen zurückzuführen sind (Klawe 2013) Diese Kompetenzen werden im Rahmen interkultureller Lernprozesse erworben, die sowohl informell im alltäglichen Umgang als auch formell in eigens dafür didaktisch-methodisch strukturierten interkulturellen Trainings stattfinden können. Für die Begleitung der informellen Lernprozesse während des Auslandsaufenthaltes selbst ist es wichtig, auf die konkreten Bedürfnisse und Persönlichkeitsstrukturen abgestimmte Kommunikationsformen, Beratungsstrukturen und Netzwerke zu entwickeln, um die mit dem Leben in fremdkulturellem Umfeld verbundenen Irritationen und Krisen aufzufangen, zu reflektieren und konstruktiv zu verarbeiten. Das setzt voraus, dass die Lern- und Entwicklungsprozesse im Rahmen individualpädagogischer Intensivbetreuungen systematisch und überlegt mit interkulturellem Lernen verknüpft und gestaltet werden. Vorbereitung Die Vorbereitungsphase muss von allen Beteiligten - einschließlich des Jugendamtes - als integraler Bestandteil der individualpädagogischen Maßnahme angesehen (und finanziert) werden. Das ist die Voraussetzung, unter der eine Entschleunigung und damit eine überlegte sowie vernünftige Planung und pädagogische Gestaltung dieser Phase erst möglich wird. Bei dieser Gestaltung müssen zweitens individualpädagogische Aspekte, interkulturelles Lernen und die konkret-praktische Vorbereitung intelligent, abwechslungsreich, lebendig und zugleich ernsthaft miteinander verknüpft und aufeinander bezogen werden. Und das setzt drittens voraus, dass der/ die BetreuerIn auch über entsprechende methodische Kompetenzen und vor allem die Bereitschaft verfügt, die Vorbereitungsphase nicht nur zum Beziehungsaufbau zu nutzen, sondern darüber hinaus als anregende „Bildungsveranstaltung“ erfahrungsorientiert zu gestalten. Ankommen und Kontakt Der/ Die BetreuerIn hat hier vor allem die Aufgabe, Kontakte herzustellen und soziale Erkundungen zu ermöglichen, die dem/ der Jugendlichen die Chance bieten, eigenen Fragen nachzugehen, um im neuen Lebensumfeld „seinen eigenen Ort“ zu finden. Erlebnisorientierte Formen der Sozialraumerkundung können diese Bemühungen methodisch unterstützen, (Lern-)Tagebücher und eigene Fotostrecken können - wie Erfahrungen in Auslandspraktika zeigen - dabei helfen, Eindrücke zu sortieren und festzuhalten. Diese neuen Rollen als „Lernunterstützer“, „Erfahrungsförderer“ oder „Netzwerker“ stehen nicht in Konkurrenz zum Beziehungsaufbau, der auf individualpädagogischer Ebene unabdingbar ist, sondern ergänzen bzw. differenzieren und verstärken diese Bemühungen. 412 uj 10 | 2021 Individualpädagogische Hilfen wirkungsvoll gestalten Betreuung als „sicherer Ort“ Damit diese Erfahrungen zu einem kalkulierten Kulturschock werden, müssen die Alltagsstrukturen derart gestaltet sein, dass sie die Auswirkungen der Fremdheitserfahrungen auffangen und positiv wenden können. Bezogen auf interkulturelle Lernprozesse geht es dabei in erster Linie um ➤ die systematische Reflexion interkultureller Erfahrungen im Alltag; ➤ die Formulierung von Aufgaben und Aufträgen an die Jugendlichen, die von ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit zu bewältigen sind; ➤ die Herstellung von Kontakten und die Schaffung von Erfahrungsfeldern und Situationen, die interkulturelles Lernen ermöglichen; ➤ die konkrete praktische Unterstützung im Alltag und ➤ die Vermittlung von Erklärungs- und Handlungswissen im interkulturellen Kontext. Kulturvermittlung Bezogen auf interkulturelles und soziales Lernen in Auslandsmaßnahmen kann es also immer nur darum gehen, eine Vielfalt an Möglichkeitsstrukturen und Erfahrungsräumen zu schaffen, die Chancen für Begegnung und Auseinandersetzung mit Fremdem und Ungewohntem bieten. Dabei gilt es, eine produktive Balance zwischen pädagogisch inszenierten Erfahrungsfeldern einerseits und Freiräumen für informelles Lernen andererseits herzustellen, die zugleich ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit ermöglichen, um den Jugendlichen die Erfahrung zu geben, herausfordernde und schwierige Situationen mithilfe eigener Kompetenzen erfolgreich bewältigen zu können. Kulturelle Konflikte/ Mediation „Diskrepanzerlebnisse in Form von ungewohnten und neuartigen Situationen, die gegen bisherige Erfahrungen und Erwartungen sprechen, sind Voraussetzungen für Lernprozesse.“ (Perl/ Hesse 2008, 76) Bei der Bearbeitung von Konflikten und der Reflexion von „critical incidents“ kommt es in besonderer Weise darauf an, die Gewichtung der einzelnen Ursachen der „Irritationen“ genau zu differenzieren: Welche Bedeutung haben situative Aspekte, welches sind die persönlichen Anteile und was ist unzweifelhaft kulturell bedingt? Denn jeder Konflikt kann nur auf der Ebene gelöst oder zumindest verhandelt werden, auf der er entstanden ist. Deshalb ist Differenzierenlernen in interkulturellen Konflikten so wichtig. Der normale Kontakt zu Gleichaltrigen und Repräsentanten des Gastlandes bietet viele Varianten der Kommunikation und motiviert aus dem Alltag heraus für den Erwerb interkultureller Kompetenzen oder der Grundlagen der gebräuchlichen Fremdsprache. Abschied und Rückkehr Die Rückkehr aus dem Ausland ist - gerade bei längeren Aufenthalten - für die weitaus meisten Jugendlichen wiederum ein neuerlicher Kulturschock, auf den sie rechtzeitig und gut vorbereitet werden sollten. Im Kontext individualpädagogischer Maßnahmen bietet sich dabei an, die interkulturellen Aspekte mit der lebensweltlichen Zukunfts- und Lebensplanung der Jugendlichen zu verbinden. Damit kann zweierlei zugleich erreicht werden: eine dezidierte Planung der letzten Wochen am Auslandsstandort, des Übergangs und der Eingewöhnungsphase nach der Rückkehr sowie eine systematische Bilanzierung interkultureller Erfahrungen und Kompetenzen verbunden mit der Frage, welche Funktion diese in Zukunft (in Deutschland) haben (sollen). 413 uj 10 | 2021 Individualpädagogische Hilfen wirkungsvoll gestalten Diese Verknüpfung macht die zurückgelegten Entwicklungsschritte bewusst und stärkt so das Selbstbewusstsein der Jugendlichen und gibt zugleich Anregungen und Ermutigung dafür, Gelerntes und Erfahrenes in den Alltag in Deutschland zu übertragen. Professionelle Qualifikation und Qualitätssicherung Nicht nur für die Jugendlichen, auch für alle BetreuerInnen, die erstmalig eine individualpädagogische Maßnahme im Ausland übernehmen, ist der Umgang mit fremdkulturellen Erfahrungen und Aspekten eines Kulturschocks eine besondere Herausforderung. Diesen MitarbeiterInnen sollten Seminare zur interkulturellen Grundqualifikation angeboten werden. Ein solches Training würde sicher auch dazu beitragen, den fachlichen Disput über die notwendigen formalen pädagogischen Qualifikationen zu entschärfen. Wird systematisches interkulturelles Lernen zu einem selbstverständlichen pädagogischen Bestandteil individualpädagogischer Betreuung im Ausland, bedarf es regelmäßiger kultursensibler Supervision, die neben der (üblichen) fallbezogenen Fallreflexion den Betreuerinnen und Betreuern Gelegenheit gibt, ihren eigenen Umgang mit fremdkulturellen Erfahrungen und daraus erwachsende Herausforderungen und Grenzen zu bearbeiten. Interkulturelle Konzeptionsentwicklung Eine Verknüpfung von individualpädagogischer Betreuung und interkulturellem Lernen macht die Wachstums- und Entwicklungsprozesse der betreuten Jugendlichen nicht nur erfolgreicher, sie kann auch zu höherer gesellschaftlicher Akzeptanz und nachhaltiger Legitimation von Maßnahmen im Ausland beitragen. Deshalb sollten interkulturelle Begegnung und interkulturelles Lernen in die jeweiligen Trägerkonzeptionen Eingang finden und dort konzeptionell festgeschrieben werden. Transfer und Nachbetreuung Individualpädagogische Settings sind in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahmesituation: Die Exklusivität der Beziehung, das Leben an einem anderen Ort und die damit verbundene Distanz zur gewohnten Lebenswelt sowie der mit diesen Faktoren verbundene Schonraum erfordern eine Vorbereitung und Unterstützung der betreuten Jugendlichen, wenn diese zum Ende der Maßnahme zurückkehren und/ oder selbstständig in eigenem Wohnraum leben sollen. Die erzielten Lernerfolge und Verhaltensänderungen sollen über diese Lebensphase hinaus verfügbar sein und wirken. Aus diesem Grunde kommt dem Transfer in und der Vorbereitung auf den Alltag danach eine zentrale Bedeutung für die Nachhaltigkeit dieser Maßnahmen zu. Diese Vorbereitung umfasst zweierlei: Einerseits geht es darum, für den Anschluss an die Maßnahme geeignete strukturelle Bedingungen zu schaffen, also Wohnen, Schulbesuch oder Ausbildung, und den Lebensunterhalt zu organisieren. Zum anderen bedeutet dies, die Jugendlichen mit Kompetenzen und Unterstützungsressourcen auszustatten, die sie in die Lage versetzen, ihr Leben und ihren Alltag im Anschluss an die Betreuung gelingend zu gestalten. Dafür muss die individuelle Vorbereitung auf die Zeit nach der Maßnahme rechtzeitig begonnen werden. Dazu gehört die Entwicklung von Lebens- und Berufsperspektiven ebenso wie die Vermittlung der für deren Realisierung notwendigen sozialen und instrumentellen Kompetenzen (Umgang mit Geld und Bank, Anträge bei Behörden, Rolle als Mieter). Die in der individualpädagogischen Maßnahme erreichten Fortschritte und Erfolge werden in ihrer Nachhaltigkeit gefährdet, wenn die Gestaltung der Lebensumstände danach dem 414 uj 10 | 2021 Individualpädagogische Hilfen wirkungsvoll gestalten Zufall oder dem/ der Jugendlichen allein überlassen bleibt. Jugendämter sind aus diesem Grunde gut beraten, durch eine geringfügige ambulante Betreuung im Anschluss Jugendlichen einen vertrauten Ansprechpartner an die Seite zu stellen, der ihnen bei Fragen oder Problemen zur Verfügung steht. Auch eine größere Flexibilität der Bundesagentur für Arbeit wäre hier wünschenswert. Eine weitere Einschränkung kann sich aus institutionellen Rahmenbedingungen ergeben: Dauert die Maßnahme bis zum 18. Lebensjahr, wird die Hilfe seitens des Jugendamtes häufig mit Erreichung der Volljährigkeit beendet. Damit haben BetreuerInnen zwar noch die Möglichkeit, die betreffenden Jugendlichen individuell für ein Leben in Literatur Güntert, F. (2011): Professionalität in der individualpädagogischen Arbeit. In: Felka, E., Harre, V. (Hrsg.): Individualpädagogik in den Hilfen zur Erziehung. Hohengehren, Baltmannsweiler, 143 - 168 Klawe, W., Bräuer, W. (1998): Zwischen Alltag und Alaska. Praxis und Perspektiven der Erlebnispädagogik in den Hilfen zur Erziehung. Beltz Juventa, Weinheim/ München Klawe, W. (2008): Individualpädagogische Maßnahmen als tragfähiges Beziehungsangebot. Ergebnisse einer empirischen Studie. Unsere Jugend 5, 208 - 217 Klawe, W. (2013): Das Ausland als Lebens- und Lernort. Interkulturelles Lernen in der Individualpädagogik. Eine Expertise. Comedia, Dortmund Klawe, W. (2019): In sieben Schritten zu einer selbstbewussten und qualifizierten Individualpädagogik. Der subjektive Versuch einen pädagogischen Diskurs zu ordnen. In: Karkuth, M. u. a. (Hrsg.): Alternativen - Innovatorische Projekte in der Erziehungshilfe. Wellenbrecher, Dortmund, 47 - 68 Klein, J., Macsenaere, M. (2015): InHaus 2.0 - Individualpädagogische Hilfen im Ausland und ihre Nachhaltigkeit. Lambertus, Freiburg Lorenz, H. (2008): Individualpädagogik - Erlebnispädagogik. Schnittmengen und Differenzen. In: Buchkremer, H., Emmerich, M. (Hrsg.): Individualpädagogik im internationalen Austausch. Verlag Dr. Kovac, Hamburg, 93 - 106 Macsenaere, M., Esser, K. (2012): Was wirkt in der Erziehungshilfe? Reinhardt, München Perl, D., Heese, A. (2008): Mehr als nur ein schöner Urlaub. Langzeitwirkungen von internationalen Jugendbegegnungen auf die Persönlichkeitsentwicklung der TeilnehmerInnen. In: Lindner, W. (Hrsg.): Kinder- und Jugendarbeit wirkt. Aktuelle und ausgewählte Evaluationsergebnisse der Kinder- und Jugendarbeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 67 - 79 Pollak, T. (2002): Was heißt „Beziehung“ in der sozialen Arbeit? Deutsche Jugend 2, 78 - 85 eigenem Wohnraum fit zu machen, jedoch keinen Einfluss mehr auf die Gestaltung der konkreten Rahmenbedingungen nach Beendigung der Maßnahme. In diesen Fällen sind die Jugendlichen häufig gescheitert, wenn BetreuerInnen nicht aus persönlichem Engagement heraus dem Jugendlichen noch zur Seite standen. Diese Überlegungen gelten übrigens gleichermaßen für Betreuungen im Inland wie im Ausland. Willy Klawe Sülldorfer Landstr. 76 22589 Hamburg E-Mail: willy.klawe@shnetz.de
